Die Dialektik der bürgerlichen Revolte der 68er

Ein Artikel von Jens Wernicke

Die Studierendenrevolte der „68er“ ist mythenumrankt. Während von konservativer Seite, der sich unlängst auch Götz Aly hinzugesellt hat [1], aktuell versucht wird, die damals junge Generation als „Linksfaschisten“ zu konstruieren, die vor allem von Größenwahn, Lust an Veränderung und Gewalt getrieben waren, neigen einige Linke dazu, die Geschehnisse der späten 60er Jahre auf andere Art und Weise zu verklären: die große, starke, linke Bewegung von einst hätte, so meinen sie, nicht nur zahllose Erfolge verbucht, sondern auch etliche Helden hervorgebracht. Es sei an der Zeit, deren Arbeit fortzusetzen, die Voraussetzungen hierfür seien ideal da die gesellschaftliche Situation heute der damaligen wesensgleich [2]. Kaum etwas davon trifft zu. Von Jens Wernicke, Klemens Himpele und Dominik Düber.

Bis in die 1960er hinein herrschte in Deutschland wirtschaftliche Prosperität: Im Zeitraum von 1950 bis 1968 verfünffachte sich das Bruttosozialprodukt. Die Arbeitslosenquote sank auf unter ein Prozent, während zugleich die Zahl der offenen Stellen umgekehrt ab 1960 sprunghaft stieg. Die dennoch weiter wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften konnte ab etwa 1957 nicht mehr aus den gleichen Quellen befriedigt werden, wodurch eine die bessere Qualifizierung der Bevölkerung ins Blickfeld der herrschenden Interessen geriet, versprach diese doch als einzige die Option erneut wachsende Profite.

Ende der 1960er wurde Deutschland schließlich von einer Rezession heimgesucht, welche die nach dem 2. Weltkrieg errungene Weltmarktposition des deutschen Kapitals – insbesondere vor dem Hintergrund der Konkurrenz zu den USA, wo der ‚Sputnik-Schock‘ bereits zu einer grundlegenden Reform des Bildungssystems geführt hatte – zunehmend bedrohte.

Als herrschaftskonforme Antwort hierauf wurde den Studierenden ein immer höherer Leistungs- und Bildungsdruck aufgebürdet: Bildung wurde zunehmend als ökonomische Ressource relevant, um durch sie neue Profite generieren zu können und so die Konkurrenzfähigkeit sicherzustellen.

In Folge wurden bereits damals „Eliteuniversitäten“ sowie eine Zweiteilung des Studiums in zuerst berufsqualifizierendes und hiernach erst wissenschaftliches diskutiert und der Studienalltag mit immer ausgeprägteren Repressionen und Erziehungsinstrumenten (Regelstudienzeit, Prüfungsordnungen etc.) gespickt. Gegen diese Maßnahmen und Pläne regte sich zunehmend studentischer Widerstand, der teilweise auch auf die Bevölkerung, die von Demokratie nicht viel spürte, sondern vereinzelt sogar starke Tendenzen zur Refaschistoisierung des Landes wahrnahm und überdies zu bescheidenem materiellen Selbstbewusstsein gefunden hatte, übergriff.

Einigkeit gab es hierbei unter „den Studierenden“ nie. Ganz im Gegenteil war die Linke, selbst größtenteils bürgerlich, innerhalb der Privilegierten-Bewegung fast vollkommen marginalisiert. Kein Wunder auch, hatte doch eine Untersuchung von Jürgen Habermas und anderen [3] erst kurz zuvor ergeben, dass sich im Falle einer Krise nicht einmal jeder zehnte Studierende für die Erhaltung der Demokratie einsetzen würden, während nahezu jeder Fünfte sogar zu deren manifesten Gegnern zählte, also autoritäre Tendenzen konstatiert, die deutlich mit der gehobenen sozialen Herkunft der meisten Studierenden korrespondierten.

Die Rede von „den 68ern“ als de facto heterogenem Ganzen kaschiert dabei vollends, dass diese Gemeinschaft hinter ihrer abstrakten und daher anschlussfähigen Forderung nach ‚mehr Demokratie‘ vor allem ihre eigenen feld- und klassenspezifischen Interessen – wie bspw. jenes an der Akkumulation kulturellen und symbolischen Kapitals – verbarg. Auch ihnen ging es, zumindest in der Breite, als Intellektuelle, die höherer Herkunft waren oder sich (zurecht) zumindest von der Zukunft eine gehobene Position versprachen, mehr um die Sicherstellung ihrer sozialen Reproduktionsfähigkeit und also die Verteidigung mannigfaltiger Privilegien wider die sozial Benachteiligten, denn um eine Umwälzung bestehender Herrschaftsverhältnisse, deren Nutznießer sie gewesen sind.

Die Revolte wird schließlich beendet, als die materiell Herrschenden ihr Bündnis mit den alten Ordinarien zugunsten eines solchen mit der Generation junger Privilegierter aufgeben. Die Hochschulen werden nun zwar vorerst nicht vertikal differenziert und stattdessen teils „demokratischer“ organisiert; die Demokratie bleibt dabei jedoch nur schöner Schein und die unabdingbare Produktivkräfteentwicklung wird sichergestellt, indem eine großbetrieblichen Anforderungen adäquate Binnenstruktur eingeführt wird, die das Bildungsniveau qualitativ und quantitativ hebt, ohne dabei jedoch gesellschaftliche Hierarchien in Frage zu stellen.

Jahre später verfügen in der jüngeren Generation zwar alsbald alle Klassen über absolut mehr kulturelles Kapital, dies ist jedoch nicht mit einem Klassenaufstieg gleichzusetzen, eher im Gegenteil: Wer nun mehr kulturelles Kapital akkumuliert als dies vormals notwendig war, vermag seine vertikale Position im sozialen Raum ggf. zu halten, indem er der Modernisierung der angestammten Berufsgruppen und also horizontalen Verschiebung derselben folgt; wer dies nicht vermag, ist von sozialem Abstieg bedroht.

Als Resultat der Öffnung der Hochschulen, die vor allem einen Klassenkompromiss zwischen materiell und intellektuell Herrschenden darstellt, ist denn auch festzuhalten, dass die kulturell wie sozial benachteiligten Klassen und Klassenfraktionen stets weniger als die Mittelschicht und diese wiederum weniger als die herrschende Klasse von eben derselben profitierten. Die zwar absolut höhere Bildungsbeteiligung aller Klassen im sozialen Raum spiegelt in ihren Partizipations- wie auch ‚Profit‘-Relationen stets die vorfindliche Klassenstruktur wider: Zwischen 1969 und 2000 erhöht sich – was weder mit einem Studienabschluss noch dem nachfolgend relevanten Arbeitsmarktwert desselben, für dessen Realisierung wieder ökonomisches und soziales Kapital maßgeblich sind, gleichzusetzen ist – die Studienanfängerquote der Arbeiterkinder von 3 auf 7, jene der Selbständigenkinder aber von 11 auf 41, der Angestelltenkinder von 15 auf 26 und der Beamtenkinder von 27 auf 53 Prozent.

Das bedeutet: der Chancenzuwachs liegt bei den Arbeiterkindern bei 4, bei den Selbständigenkindern bei 30, bei den Angestelltenkindern bei 11 und bei den Beamtenkindern bei 26 Prozentpunkten. Klassenabsolut bedeutet das relative Anwachsen auch des Anteils der Arbeiterkinder an den Hochschulen von 3 auf 7 Prozent zwischen 1969 und 2000 dabei zugleich einen zunehmenden Verlust an sozialer Position für insbesondere die ‚restlichen‘ 93 Prozent derselben: Die Unterschiede nach Einkommen, Sicherheit und Ansehen, das heißt die Statusunterschiede, zwischen den privilegierten Milieus, den Milieus der Arbeitnehmermitte und den unterprivilegierten Milieus vergrößern und verfestigen sich, sodass der Bildungsexpansion, die mit dem Anspruch angetreten war, Chancenunterschiede abzubauen, attestiert werden muss: Beim Wettlauf um die höheren Bildungsabschlüsse haben sich die Chancenabstände zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen tatsächlich noch vergrößert, indem das mehr vorhandene aber weniger werte Kulturkapital primär nach oben respektive in die Mitte und somit in Relation zu vorher auch umverteilt worden ist. Die universitären Studienchancen der Kinder von Selbständigen mit Abitur liegen nun um das 14fache höher als diejenigen der Kinder aus Facharbeiterfamilien und sogar um das 41fache höher als diejenigen der Kinder von Ungelernten. Deren Berufskarriere endet häufiger auf einer Sonderschule (7%) als auf einer Fachhochschule oder Universität (jeweils 2%), wobei ein Abschluss dieser, im Gegensatz zu früher, nun keine Zukunft als potentieller Volksschullehrer mehr offeriert, sondern fast monokausal in die unbefristete Erwerbslosigkeit führt.

Mit Horkheimers und Adornos Gedanken zur Dialektik der Aufklärung [4] lässt sich sagen: Auch dieser historische Akt vermeintlicher Befreiung sicherte zugleich die zunehmende Unterdrückung. Der Logik des Zerfalls, welche dem geschichtlichen Prozesses immanent ist, folgend, durchlief die bürgerlich-studentische Kritik, die stets nur in Details rigoros war, die Metamorphose zur Affirmation und half so schließlich dabei mit, die gegen Erwerbstätige wie -lose, uns alle, die wir nicht zur „Oberschicht“ gehören, in Stellung gebrachte Herrschaft mittels Ermöglichung einer weiteren Steigerung der Produktivkräfte aufs Neue auszubauen: „Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung.“ Mehr denn je verkommt so das Individuum zur bloßen Funktion und wird gegenüber den ökonomischen Mächten, die es umgeben, dabei vollends annulliert.

Jens Wernicke ist Student der Medien- und Kulturwissenschaften und Mitglied im SprecherInnenrat der StipendiatInnen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Klemens Himpele ist Diplom-Volkswirt. Er ist Mitglied im erweiterten Bundesvorstand des BdWi und war Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren.

Dominik Düber ist Student der Philosophie. Er ist aktiv im Studierendenverband Die Linke.SDS und Koordinator des Rosa-Luxemburg-Club Köln.

Quelle 1: Fr-Online
Quelle 2: Linke-SDS [PDF – 280 KB]
Quelle 3: Amazon
Quelle 4: Wikipedia

Weiterführende Links

Fr-Online
Linke-SDS [PDF – 188 KB]

Anmerkung Wolfgang Lieb: Ich teile die Einschätzung der Autoren, dass Anfang der 60er Jahre Bildung als ökonomische Ressource stärker ins öffentliche Bewusstsein geriet und selbst von Konservativen wie Georg Picht oder Liberalen wie Ralf Dahrendorf die Ausschöpfung von Bildungsreserven und eine Hochschulreform angemahnt wurde.

Zu dieser Zeit gab es auch die ersten politischen Anstöße für eine Hochschulreform, die schließlich unter Hans Leussink, einem Mann aus der Industrie, 1969 als Bundesbildungsminister in „Thesen zu einem Hochschulrahmengesetz“ mündeten.

Die technokratischen Hochschulreformer trafen eine Wegstrecke lang zusammen mit eher progressiven Bildungsreformern, die über eine emanzipatorische Bildung eine Demokratisierung der Gesellschaft erhofften (Vgl. die sds-Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ 1961). Der Muff unter den Talaren wurde also von zwei Seiten her gelüftet.

Nach meiner persönlichen Erfahrung waren in der Tat der Umbruch von der Universität als Ausbildungsstätte der Elite zur Massenuniversität und der aufkommende Konkurrenzdruck zusammen mit einer zunehmenden Restaurierung im CDU-Staat mit Konzepten einer „formierten Gesellschaft“ (Rüdiger Altmann), der Bildung der ersten Großen Koalition mit ihren Plänen zur Notstandsgesetzgebung, ein fruchtbarer Nährboden für die studentische Rebellion.

Ja, es war eine „kleine radikale Minderheit“ und diese entstammte Großteils aus privilegierten Schichten. Der „Aufstand gegen die Vätergeneration“, die die Aufarbeitung des Nationalsozialismus verweigerte, und die Ablehnung des etablierten Spießertums („Establishment“) hatte aber jedenfalls kulturell eine beachtliche Ausstrahlung auf die „Generation der 68er“.

In den Kategorien des französischen Soziologen Bourdieu ging es den politischen Teilen der außerparlamentarischen Opposition in der Tat um die Auseinandersetzung zwischen den Besitzern des „kulturellen Kapitals“ gegen die Akteure des „ökonomischen Kapitals“.

Aber die These, dass „die Revolte…schließlich beendet“ wird, als die „materiell Herrschenden ihr Bündnis mit den alten Ordinarien zugunsten eines solchen mit der Generation junger Privilegierter aufgeben“, kann ich nicht teilen.

Die Revolte scheiterte am massiven Widerstand der etablierten Politik und der Medienmacht (Springer) gegen diese Rebellion, gepaart mit repressiven Maßnahmen bis hin zu den „Berufsverboten“. Das hat schließlich zu Resignation oder zur Flucht in Gegenwelten (individuelle Befreiung, Basisgruppenbewegungen, Herbert Marcuse) geführt oder gar zum Desperadotum bis hin zu Fantasien des „bewaffneten Widerstandes“, was im manifesten Terror der RAF die grundsätzlich gewaltfreie Bewegung vollends auseinander trieb und diskriminierte.

Es gab jedenfalls in der Bildungspolitik eher ein Bündnis der ökonomischen Technokraten in der Politik und an den Hochschulen. Richtig beschrieben finde ich wiederum die Ergebnisse der „expansiven Bildungsreformen“ der 70er bis 80er Jahre. Die Zahlen zur sozialen Verteilung der Bildungschancen sind hoch interessant gerade auch für die gegenwärtige Debatte über die Chancengerechtigkeit in der Bildung als zentrales Element eines „vorsorgenden“ Sozialstaates.

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