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Staatsorgane

Bundesverfassungsgericht: Sozialstaat nach Kassenlage

Sowohl die am Preisindex ausgerichtete Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 als auch deren Unterbleiben zum 1. Juli 2004 seien gesetzliche Maßnahmen, die von dem gewichtigen öffentlichen Interesse bestimmt seien, einem Finanzierungsdefizit der gesetzlichen Rentenversicherung entgegenzuwirken. Maßgebend für die Ausrichtung der Rentenanpassung am Ziel des Inflationsausgleichs zum 1. Juli 2000 sei der sprunghafte Anstieg der Staatsverschuldung gewesen.
Die Gründe für die Staatsverschuldung und die Frage, ob die jeweilige Finanzpolitik richtig oder falsch war, all das interessiert die Richter nicht. Das Bundesverfassungsgericht hält Rentenanpassungen je nach Kassenlage für verfassungsgemäß. Wolfgang Lieb

Das Sommermärchen des Bundespräsidenten

Ein Bundespräsident darf und soll auch seine politischen Überzeugungen vertreten, er darf sogar einer wirtschaftspolitischen Ideologie anhängen, was man aber vom obersten Repräsentanten unseres Staates und seiner Bürgerinnen und Bürger erwarten darf und muss, das ist, dass er wenigstens die Meinungen, ja noch mehr die Sorgen der Mehrheit der Menschen zur Kenntnis nimmt und sich damit auseinandersetzt.
Köhler redet im Sommerinterview des ZDF zwar darüber, „dass sich jeder Gedanken machen sollte, wie wir dieser Entfremdung zwischen Politik und Bürgern etwas entgegensetzen“, er spricht davon, dass sich die Leute danach „sehnen“, „dass sie ernst genommen werden“, er fordert sogar, die „Politiker sollten den Bürgern zuhören“, doch er tut genau das Gegenteil. Er übernimmt die Rolle des rigorosesten Propagandisten der „Reform“-Politik und plappert fast wortwörtlich die Apologetik des Neoliberalismus der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft nach. Wolfgang Lieb.

Ein totgeschwiegener Völkermord an den Herero in Namibia

Die Bänke der Parlamentarier waren größtenteils leer, als der Bundestag kürzlich zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Debatte über den ersten Völkermord der deutschen Geschichte, dem an den Herero und Nama im heutigen Namibia führte. Dass die von der Linksfraktion geforderten Verhandlungen über Wiedergutmachung auf wenig Zustimmung stießen, überraschte weniger als die Tatsache, dass weder Süddeutsche, FAZ, FR oder taz über die Debatte berichteten. Dabei gehörte dieses Thema doch auch zur Aufarbeitung unserer Kolonialgeschichte und zur Afrika-Politik, wie sie von unserer Kanzlerin auf dem G-8 Treffen so in den Vordergrund gerückt worden ist. Rolf-Henning Hintze hat uns dazu einen Beitrag zur Verfügung gestellt.

Beschlüsse des Koalitionsausschusses Teil Zwei: Verschiebebahnhof zwischen Pflege- und Arbeitslosenversicherung

Im öffentlichen Windschatten des umstrittenen „Kompromisses“ der Grossen Koalition zum Mindestlohn segelten die Entscheidungen zur Pflegeversicherung.
Die Einbeziehung der bereits über 1,3 Millionen Demenzkranker sowie die Stärkung und der Ausbau der ambulanten Pflege sind sicher neue wichtige Kurskorrekturen zur Verbesserung der Pflegeleistungen.
Nicht zu rechtfertigen ist das erneute Verschiebemanöver der Finanzierungslasten von der Pflegeversicherung in die Arbeitslosenversicherung, denn gerade bei den wachsenden Aufwendungen für die Pflege handele es sich – wie in kaum einen anderen Sozialversicherungszweig – um gesamtgesellschaftliche Leistungen, die von der Allgemeinheit, also über Steuern finanziert werden müssten, meint die ehemalige DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.

WSI: Beschlüsse des Koalitionsausschusses in Sachen Mindestlohn setzen hohe Hürden

Der Mindestlohn-Kompromiss der Großen Koalition bringt allenfalls eine Teillösung des Niedriglohnproblems. Er baut hohe Hürden für die Ausweitung des Entsendegesetzes auf und sieht ein umständliches branchenbezogenes Verfahren für Lohnuntergrenzen vor. Zu diesem Ergebnis kommt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) in einer ersten Analyse des Koalitionsbeschlusses. “Bestenfalls werden die geplanten Regelungen zu einem Flickenteppich von unterschiedlichen Lohnuntergrenzen führen”, resümieren die WSI-Forscher Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten und Claus Schäfer.

Wie schön wäre es, wir hätten einen Bundespräsidenten, der selbst denkt statt nachzuplappern.

Der Bundespräsident fordert zum Subventionsverzicht auf. Und dann lässt er noch verlauten, das Wirtschaftsleben lasse sich von staatlicher Seite weder planen noch lenken. Mehr Eigenverantwortung verlangt er. – Der Mann erzählt einfach und tut, was gerade populär ist – bei einer wichtigen Entscheidung über eine Begnadigung genauso wie in diesem Fall. Er merkt offenbar nicht, wie sehr solche Forderungen im Widerspruch zu dem stehen, was er sonst fordert.

Geschönte BAFöG-Zahlen – Die Studiengebühren fressen jedoch die Erhöhung bei weitem auf

Nach einer dpa-Meldung erhalten derzeit etwa 500.000 Studenten und 350. 000 Schüler das Bafög, das je zur Hälfte als Zuschuss und als zinsloses Darlehen gezahlt wird.
Nach dem BAFöG-Bericht der Bundesregierung vom Januar 2007 [PDF – 1,8 MB] liegt die Zahl der monatsdurchschnittlich geförderten Studierenden aber nur bei 345.000 die es werden nur 199.000 Schüler gefördert. Ein Rechenfehler oder eine Beschönigung?

Nachtrag zum letzten Wochen-Rückblick die namentlichen Abstimmungen betreffend.

Nach Lektüre jenes Tagebucheintrages vom 12.3. wiesen auffallend viele NDS-Leser daraufhin, dass es namentliche Abstimmungen doch gäbe und diese auch vom Bundestag veröffentlicht würden. Auch wenn ich ausdrücklich geschrieben hatte, dass es aus meiner Sicht bei wichtigen Fragen namentliche Abstimmungen auch innerhalb der Fraktionen – im konkreten Fall der SPD-Fraktion – geben sollte, will ich dies noch einmal wiederholen und betonen. Es geht dabei um die Förderung der innerparteilichen Willensbildung und darum, dass die Wähler eines Wahlkreises zum Beispiel wissen, wie sich ihr/e Abgeordnete/r bei der Willensbildung in der Fraktion verhielt. Bei der Abstimmung im Bundestag kann man sich mit gutem Recht darauf berufen, nicht anders zu können, als die Mehrheitsmeinung der eigenen Fraktion zu vertreten. Innerhalb der Fraktionsabstimmung gilt dieser Einwand nicht.
Dies alles ist nicht graue Theorie. Demnächst steht die Entscheidung über den Börsengang der Bahn an. Da würden wir gerne wissen, wie die Abgeordneten sich bei der Willensbildung ihrer Fraktion entscheiden.

Bundesregierung will mit REITs Kapital anreizen – Die Austreibung des Teufels mit dem Beelzebub.

Der Bundestag befasste sich am 18.1.07 in erster Lesung mit der Zulassung von sog. „REITs“ (Real Estate Investment Trusts). Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung [PDF – 2.3 MB] sollen diese Immobilien-Aktiengesellschaften mit börsennotierten Anteilen, von der Körperschaftsteuer befreit und nur die ausgeschütteten Gewinne bei den Aktionären nach dem sog. Halbeinkünfteverfahren besteuert werden.
Die Linksfraktion fordert in einem Antrag [PDF – 128 KB], auf „REITs“ in Deutschland zu verzichten, weil sie mit erheblichen negativen Auswirkungen auch auf den Wohnungsmarkt und auf die Kommunen verbunden seien. Neue Steuervergünstigungen müssten verhindert werden. Zudem würden die Erwartungen, Gewinnverlagerungen ins Ausland unattraktiver zu machen, nicht erfüllt. Wolfgang Lieb.

Erstaunlich ist es doch, wie die privaten Krankenversicherer den ehrlichen Wettbewerb scheuen

Es war schon lange klar, dass eine Krankenkasse, die überwiegend junge und/oder gesunde Menschen versichert, ganz automatisch gute Bilanzergebnisse erzielt. Damit das so bleibt, führen die Privaten mit jedem Bewerber einen Gesundheits-Check durch, der eine Abwägung des Versicherungsrisikos und des individuellen Tarifes ermöglicht. Im Extremfall kann ein wirklich kranker oder risikoreicher Bewerber auch abgelehnt werden. Daher sind Wirtschaftlichkeitsvergleiche zwischen den Gesetzlichen – vor allem den AOKs – und den Privaten schon von recht zweifelhafter Natur. Von Reinald Babirat.

Das „Soll“ auf dem Erfolgskonto der Bundesregierung

In den üblichen Erklärungen um die Jahreswende rühmten die Bundesregierung, CDU, SPD, ja sogar der Bundespräsident die „Erfolge“ der Bundesregierung. Eine etwas andere Erfolgsbilanz zieht einer unserer Leser.
Was beim Selbstlob der Regierenden unter den Tisch fällt.

Hinweis auf zwei interessante Beiträge zur politischen Ökonomie des Gesundheitswesens.

Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) ist mit der ersten Lesung im Deutschen Bundestag in die entscheidende gesetzgeberische Phase getreten. Durch die zwei aktuellen Streitpunkte zwischen der CSU und der Gesundheitsministerin erstens über die Höhe der finanziellen Belastungen für Krankenkassen in wirtschaftlich stärkeren Bundesländern durch den neu geschaffenen Gesundheitsfonds und zweitens dem Konflikt über eine Öffnungsklausel, wonach künftig auch private Krankenversicherungen verpflichtet werden sollen, einen Basistarif anzubieten, der für jeden offen steht, wird die viel grundsätzlichere Problematik über den Sinn und die Konsequenzen des Wettbewerbs im Gesundheitswesens aus dem Blickfeld verloren. Unseren Leserinnen und Lesern, die sich über die politische Ökonomie des Gesundheitswesens, also etwa über das Mantra der Senkung der Lohnnebenkosten, etwas grundlegender informieren wollen, wollen wir auf zwei interessante grundlegende Darstellungen hinweisen.
Quelle 1: Hartmut Reiners, Der Homo oeconomicus im Gesundheitswesen, in einer Veröffentlichung des Wissenschaftszentrums Berlin [PDF – 192 KB]
Quelle 2: Nadja Rakowitz, Kritik der politischen Ökonomie des Gesundheitswesens, in links-netz

Spiegel-Interview mit dem Staatsoberhaupt: Der neoliberale Stammtisch unter sich

Wenn Bundespräsident Horst Köhler, der Chefredakteur des Spiegels Stefan Aust, und der Leiter des Berliner Büros, Gabor Steingart zusammensitzen, dann sind neoliberale „Reformer“ unter sich. Da wird, wie Tom Schimmeck in der taz schrieb, den Schwachen mal so richtig Druck gemacht und den Mächtigen devot am Bauch gekrault. Ein solches Interview hat auch sein Gutes: Unser Bundesaufsichtsratsvorsitzender wird so richtig aus seiner ideologischen Reserve gelockt. Hier ein paar Kostproben.

Der reformgetriebene Aufschwung? Ein kollektiver Wahn und/oder eine dreiste Strategie.

Nicht nur der Bundespräsident in seiner Weihnachtansprache, jetzt auch Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Neujahrsansprache haben die Fortsetzung der Reformen angemahnt [16 KB]. Zur Begründung dieser Forderung wird eine Verbindung hergestellt zwischen den Reformen und dem verbesserten Wirtschaftswachstum, auch Aufschwung genannt. Wir kennen diesen Versuch. Dabei wird in der Regel die Stärke der wirtschaftlichen Erholung über die Maßen verklärt. Der Zusammenhang zwischen Reformen und Aufschwung wird nicht erklärt und begründet, sondern einfach behauptet. So z. B. im Absatz 12 der Merkel-Rede. Die strategisch angelegte Indoktrination mit den Botschaften „die Reformen wirken, die Reformen brauchen Zeit, wir brauchen Geduld“ geht offenbar munter weiter. Das Ziel ist klar. Der Akteure wollen weitere Strukturreformen zulasten der Sozialstaatlichkeit und der Arbeitnehmerschaft durchsetzen. Dass die wirtschaftliche Belebung ganz andere Hintergründe hat, stört solange nicht, wie die mediale Kraft für das beabsichtigte Brainwashing ausreicht. Albrecht Müller.