Sie wissen nicht, wo Delitzsch liegt? Die als Große Kreisstadt bezeichnete Kommune liegt nördlich von Leipzig, in Sachsen, Ostdeutschland. Dahin hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diese Woche seinen Amtssitz „verlegt“: vom Schloss Bellevue in Berlin ins Hotel „Weißes Ross“ in Delitzsch. Keine Angst, das ist nicht für ständig, lediglich für drei Tage. Wer danach fragt, warum die Show sein muss, kann den Grund beim Staatsfernsehen MDR erfahren. Dort sagt Steinmeier worthülsenreich, wie man das von ihm kennt: „Wer etwas wissen will über unser Land, der muss das Ohr bei den Bürgerinnen und Bürgern haben.“ Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
Schöne Marketing-Aktion – für Steinmeier, der sich treu bleibt
Die Marketing-Profis des Bundespräsidenten sind wirklich gut. Sie wissen, was ihrem Chef gefällt: vor allem wenig Stress, angenehme Umgebungen, ein fein sortierter Tagesplan; und das alles in schönen Bildern und Zitaten verewigt, auf dass es keinem wehtut und man so tun kann, als sei doch trotz – zugegeben – einiger Probleme im Land alles fein, alles schick.
Die Leute von der Marketing-Abteilung haben sich also wieder etwas Schönes ausgedacht: den Frank-Walter Steinmeier einfach in die Provinz fahren lassen (noch dazu mit der Regionalbahn) und die Order für das Volk ausgeben: Steinmeier verlegt seinen Amtssitz. Die sächsische Stadt Delitzsch wurde ausgewählt, kein Wunder. Anhand von Ablauf und Vorstellung, Geschichte, Gegenwart und Zukunftsaussichten erweist sich die sächsische Kommune nördlich von Leipzig (tatsächlich scheint es in Sachsen noch gute Geschichten zu geben) in der Tat dafür geeignet, dass Steinmeier nicht allzu viel Stress bekommt, was etwaige konfrontative Begegnungen und Lebensrealitäten im Deutschland des Jahres 2025, wahlweise Ostdeutschland 2025 betrifft. Und ja, dem Bundespräsidenten steht es an sich immer gut an, sich umzuhören und umzuschauen im Land. Der MDR schreibt dazu:
Der Besuch ist Teil der Reihe “Ortszeit Deutschland”, bei der Deutschlands Staatsoberhaupt regelmäßig in Regionen reist, um mit Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen und die Entwicklung ihrer Orte kennenzulernen. Delitzsch ist der 15. Ortstermin dieser Reihe. Zum Auftakt sprach er mit Ladeninhabern, Handwerkern sowie Imbissbetreibern auf dem Marktplatz.
(Quelle: MDR)
Spätestens bei der Themenwahl für die Bürgergespräche im Ort bleibt sich Bellizist Frank-Walter Steinmeier dann aber treu: Denn ganz oben auf seiner Liste steht das Werben für die Wehrpflicht, selbstredend elegant eingebettet in die Kaffeestunde mit Bürgern wird gefragt: „Brauchen wir eine Wehrpflicht und soziale Pflichtzeit?“
Brave mediale Begleitung rollt den roten Teppich aus
Die mediale Begleitung des MDR erweist sich für mich als brave Sonnenschein-Berichterstattung, die Steinmeier sicher gefallen dürfte, nachdem er in den vergangenen Wochen bei anderen Auftritten und Reisen weniger schöne Bilder und Kommentare für das Geschichtsalbum einsammelte. Die Bilder aus Delitzsch dagegen sind schön: Bratwurstessen auf dem Marktplatz, Schallplatteneinkauf in der Altstadt, ein Schwätzchen mit einer Stadtführerin. Steinmeier kann das, mit Leuten, lächeln, unverbindlich, ihm sei es gegönnt. Und Orden verteilen. Wo? Na, in einem Barockschloss.
Döbeln oder Bad Blankenburg wären härtere Jobs gewesen
Der Bundespräsident kann, nebenbei gesagt, froh sein, dieser Tage im Delitzscher Hotel „Weißes Ross“ zu residieren statt in Döbeln (Sachsen) oder in Bad Blankenburg (Thüringen). Dann wäre es wohl nix mit guter Laune gewesen. Die Marketing-Profis des Bundespräsidenten hätten ihrem Chef damit härtere Jobs beschert.
In Döbeln hätte Steinmeier, der durch Ohrenaufsperren viel über die Geschehnisse im Land hört, Geschichten harter bundesdeutscher Gegenwart erfahren. Der MDR berichtet, dass viele kleine Unternehmer, Händler, Macher, Bürger, Menschen, denen Steinmeier also gern zuhört, um ihre blanke wirtschaftliche Existenz fürchten:
Schnell und unbürokratisch sollten die Corona-Soforthilfen ausgezahlt werden. Dass viele Unternehmen sie nun zurückzahlen sollen, ist für die meisten eine böse Überraschung. In Döbeln haben Händler dagegen protestiert. Sie fühlen sich von der damaligen Bundesregierung betrogen, weil damals von einem Zuschuss und nicht von einem Kredit die Rede war.
(Quelle: MDR)
Was wohl Steinmeier darüber sagen würde, wäre er vor Ort? Helfen etwa, die Politik auffordern, bürgernah und fair zu handeln, anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen sich betrogen fühlen, schlimmer, sie wohl in der Tat hintergangen wurden? Steinmeier hatte im Frühjahr zum Thema Corona-Aufarbeitung in sein Schloss gebeten – und bewiesen, dass er ein Meister des Redens um den heißen Brei ist.
Händler gehen in Döbeln auf die Straße
Die Gewerbetreibenden in Döbeln, die nun ihre Corona-Soforthilfen zurückzahlen sollen, fühlen sich betrogen, denn die Hilfen wurden ihrer Ansicht nach damals nicht als zurückzuzahlendes Darlehen in Aussicht gestellt. Letzte Woche Montag machten sie ihrem Unmut Luft und versammelten sich zum Protest in der sächsischen Kleinstadt, weil sie um ihre Existenz fürchten. Während der Corona Pandemie waren sie gezwungen, über Wochen ihre Läden zu schließen. Ihre Einnahmen waren von heute auf morgen weggebrochen.
Jetzt fünf Jahre nach dem ersten Lockdown sollen sie, wie viele andere bundesweit auch, die sogenannten Corona-Soforthilfen aber doch wieder zurückzahlen. Sie werfen der Politik Wortbruch vor. „Der O-Ton vom damaligen Finanzminister war: Das sind Zuschüsse, sie müssen nicht zurückgezahlt werden. Das ist für uns der O-Ton, denn es sollten Hilfen sein. Es sind am Ende Schulden und die würden die kleinen mittelständischen Unternehmen in den Konkurs führen“, erklärt Friseurmeisterin Grit Neumann am Rande der Demo dem MDR Magazin Umschau „Die Rückforderung ist der Todesstoß für viele kleine Geschäfte. Das ist wirklich so“, fügt Jens Jung hinzu. Er ist Inhaber eines Schuhgeschäftes.
(Quelle: MDR)
In Bad Blankenburg in Thüringen wäre es Steinmeier ähnlich wie in Döbeln ergangen. Sein Lächeln wäre verflogen. In Bad Blankenburg gibt es ein kleines Werk des Milliarden-Konzerns Continental, 185 Mitarbeiter. Diese verlieren nun ihren Job, was ein schwerer Schlag für die 6.000-Einwohner-Gemeinde ist. Der Betrieb schreibt schwarze Zahlen (!), das reicht nicht. In einem Beitrag von Focus ist das Drama halbwegs zu erfassen, als würde Steinmeier am Werktor stehen und die Leute reden hören:
Sie haben zum Teil jahrzehntelang fleißig und hart gearbeitet, haben gute Produkte gebaut, haben sich mit ihrem Arbeitgeber identifiziert, haben vom Lohn ihre Familien ernährt und in der Stadt eingekauft – und nun werden sie eiskalt „entsorgt“, wie es auf einem anderen Protestbanner nahe der Firma heißt.
(Quelle: Focus)
Delitzsch, ein Ort der Hoffnung und des fairen Kapitalismus
So tobt der Kapitalismus pur in Thüringen, dagegen etwas Hoffnung in Sachsen. Ganz im Wortstil Steinmeiers wird beim MDR formuliert, dass Delitzsch in den vergangenen Jahrzehnten enorme Herausforderungen gemeistert und sich als Stadt und Region neu erfunden habe. Delitzsch stehe auch dafür, dass progressive Ideen umgesetzt werden, wenn der politische Wille dafür vorhanden ist. So hat der Politiker Hermann Schulze-Delitzsch 1849 hier die ersten gewerblichen Genossenschaften ins Leben gerufen. Steinmeier erfährt, dass Delitzsch von der wirtschaftlichen Dynamik im Norden Leipzigs und womöglich vom geplanten Großforschungszentrum „Center for the Transformation of Chemistry“, wie das auf Neudeutsch heißt, profitieren soll. Falls das Projekt in Gang kommt, könnte dort erforscht werden, wie die chemische Industrie ohne fossile Brennstoffe auskommen kann. Bis zu 1.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen in dem Forschungszentrum arbeiten, heißt es. Weitere 3.000 Arbeitsplätze könnten bei Zulieferern und Dienstleistern entstehen. (Quelle: MDR)
Fazit?
Steinmeiers Motivation, seinen Amtssitz zu verlegen, in die Provinz zu fahren und so weiter, begründet er wie anfangs erwähnt so: „Wer etwas wissen will über unser Land, der muss das Ohr bei den Bürgerinnen und Bürgern haben.“ Der Besuch des Bundespräsidenten, seine Allgemeinplätze, seine Zugehörigkeit zur politischen Klasse samt des eingefahrenen, fest betonierten Status quo der Verhältnisse erleben die Bürger vor Ort. Das ‘dem Volk aufs Maul Schauen’ lässt das nüchterne Fazit zu, dass alles wie gehabt ist und bleibt.
Durch den Steinmeier-Besuch werde sich ohnehin nichts ändern, sagt Tim Brosig. “Es ist nur ein repräsentativer Besuch. In den letzten Tagen ist Delitzsch zwar schöner gemacht worden. Danach wird es aber normal weitergehen, als wäre er nie da gewesen”, meint der 21-Jährige. Es sei allein eine Reise für den Bundespräsidenten, die letztendlich wenig für die Bürger bringe.
(Quelle: MDR)
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