Vernetzung

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

Vernetzung gilt als positiver Begriff und Vernetzt-Sein anzustrebender Zustand. Auch die politische Linke hat sich diesen aus der Systemtheorie stammenden Begriff zu eigen gemacht. Götz Eisenberg rät zur Vorsicht.

„Alles ist miteinander vernetzt, aber die Entfernungen zwischen den Menschen werden immer größer.“

(Moritz Rinke)

Als ich dem Verleger meines letzten Buches davon erzählt hatte, dass ich am Abend einen bekannten Schriftsteller zu einer Lesung im Gefängnis erwartete, sagte er am Telefon zu mir: „Sie sind aber gut vernetzt.“ Ich erschrak. Ich würde nie auf die Idee kommen, mich als jemanden zu bezeichnen, der „gut vernetzt“ ist, und sagte dann nach einer kleinen Pause: „Nun ja, im Laufe der Jahre lernt man ein paar Menschen kennen.“

Ich habe gelernt, bei der Verwendung von Metaphern Vorsicht walten zu lassen. Man muss immer darauf achten, in welchen Kontext man sich damit begibt und welche Deutungsmuster man übernimmt. Wer herausfinden will, was eine Katze ist, sollte auch die Mäuse fragen, und wer wissen möchte, was Vernetzung ist, sollte auch die Fische fragen. Die sind die wahren Vernetzungsexperten und können einem ein Lied singen von der Vernetzung, die sie geradewegs in die Fischfabrik und – zu Fischstäbchen gepresst und paniert – in die Bratpfannen führt. Wie kann ein Mensch sich darüber freuen, wenn er vernetzt ist oder wird?

Die Leidenschaft, mit der die Leute gegenwärtig ihre Vernetzung und Selbstenthüllung via soziale Netzwerke betreiben, ist für mich einer der rätselhaften Züge der Gegenwart. Schon Spinoza hatte sich gefragt, warum die „Menschen … für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“. Orwell hätte sich eine derartige freiwillige Datenabgabe und Offenlegung noch der intimsten Lebensbereiche in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können und alle bisherigen Diktaturen waren stümper- und lückenhaft im Vergleich mit den heutigen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten. Während man bei Polizei und Justiz darüber diskutiert, elektronische Fußfesseln zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen, reißen sich die Leute um GPS-Handys, die ihre ständige Ortung möglich machen. Das herrschende System hat es geschafft, dass die Leute ihre umfassende Kontrolle in eigene Regie nehmen. Sogar vom neuen Papst hieß es noch während des Assessmentcenters, das dieses Mal noch Konklave hieß, er sei gut vernetzt. Männlich, katholisch, kommunikativ, kompetenzorientiert und teamfähig lautet das Anforderungsprofil für den, der den Papst-Job übernehmen will. Man könnte beim nächsten Mal McKinsey mit der Organisation der Nachfolge beauftragen. Der Rücktritt von Benedikt verwandelt das Papsttum in ein ganz normales Vertrags- und Beschäftigungsverhältnis. Die Amtszeit von Königen und Päpsten endete traditionell mit deren Tod und nicht, wenn ihr Vertrag abläuft. Auf einen einen oder sie das Pensionsalter erreicht hatten. Nachfolger hatten auf das das Ableben des Königs oder des Papstes zu warten und musste man sich in Geduld üben. Auch Königin Beatrix hat am 30. April 2013 ihren Rücktritt erklärt und den „Königsjob“ an ihren Sohn übergeben, um aufs Altenteil zu gehen. In Gestalt von Päpsten und Königen ragte noch etwas Vorbürgerliches in die Welt des Tausches. Nachdem die Ehe ein Zweckbündnis auf Zeit geworden und keine lebenslange Verpflichtung mehr ist, fällt nun eine weitere Bastion der Ungleichzeitigkeit, in der sich noch eine alternative Logik durchgehalten hat. Ab jetzt haben wir gut vernetzte Päpste und Könige auf Zeit und auf Widerruf. Damit hat die die Sehnsucht nach einer Welt jenseits von Verwaltungsbeamten und Funktionären, jenseits von blinder Aktion und Kapitalbewegung, einen weiteren Ort verloren, an den sie sich heften konnte.

Die amerikanische Polizei twittert ihren Erfolg bei der Suche nach einem schwer verletzten vermutlichen Bombenleger: „GEFASST!!! Die Jagd ist vorüber. Die Suche vorbei. Der Terror vorüber. Gerechtigkeit bleibt.“ Und auch hierzulande nutzt neuerdings die Polizei Facebook zu Fahndungszwecken. Spätesten da müsste man doch stutzig werden.

Es geht um die Etablierung neuer und universaler Überwachungssysteme. Vernetzung ist der Zentralbegriff einer geschmeidigen Herrschaft, die sich als Technik und Sachzwang tarnt. Vernetzung ist für die meisten Leute ein positiver Topos, während der „böse Blick“ des Kritikers in ihr ein neues „Dispositiv der Macht“ im Sinne Foucaults erblickt. Die Macht, die ehedem darauf fußte, dass sie zerteilte, zerlegte, segregierte, stellt nun auf einer höheren Ebene zwischen den Segregierten und Atomisierten auch wieder Verbindungen her, telekommunikative Vernetzungen, die zugleich der Kontrolle von Herrschaft unterliegen und ihrer Aufrechterhaltung und Verfeinerung dienen. Geschickter und perfider geht’s kaum. „Alles ist miteinander vernetzt“, stellt Moritz Rinke fest, „aber die Entfernungen zwischen den Menschen werden immer größer.“ Vernetzung ist eine Erscheinungsform dessen, was Henri Lefèbvre als Entfremdung zweiten Grades beschrieben hat: Die Menschen haben das Bewusstsein ihrer Entfremdung eingebüßt und fühlen sich in ihr heimisch. Damit ist Entfremdung auf eine zynisch-perverse Art und Weise aufgehoben. Statt dass die Subjekte sich die entfremdeten Gestalten ihrer gesellschaftlichen Praxis wieder aneignen, gehen sie selbst in den Formen der Entfremdung auf und erleben die Funktionsimperative des Systems als ihre ureigensten Impulse und intimsten Leidenschaften. Die Subjekte sind, heißt es bei Adorno, „bis in ihre innersten Verhaltensweisen hinein mit dem identifiziert, was mit ihnen geschieht. Subjekt und Objekt sind, in höhnischem Widerspiel zur Hoffnung der Philosophie, versöhnt. Der Prozess zehrt davon, dass die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken. Die affektive Besetzung der Technik, der Massenappell des Sports, die Fetischisierung der Konsumgüter sind Symptome dieser Tendenz. Der Kitt, als der einmal die Ideologien wirkten, ist von diesen einerseits in die übermächtig daseienden Verhältnisse als solche, andererseits in die psychologische Verfassung der Menschen eingesickert.“

Matthias Altenburg, alias Jan Seghers, dem ich meine Anmerkung zum Begriff der Vernetzung geschickt hatte, antwortet mir am Blockupy-Wochenende in Frankfurt auf der „Geisterbahn“ im Netz:

„Weiß Gott, wir hängen an der Strippe.
Aber ohne dranzuhängen, wüsste ich nicht, was gerade vor der EZB geschieht.“

Ich weiß, dass vom Arabischen Frühling bis hin zu Stuttgart 21, Occupy und den aktuellen Protesten gegen die Zerstörung des Gezi-Platzes in Istanbul sich viele Bewegungen der Vernetzung bedienen. Hier erhält der Begriff des sozialen Netzwerks endlich einen Hauch von Wahrheit und Realität. Dennoch bleibe ich dabei: Es müsste auch ohne Vernetzung gehen. Wir hängen nicht nur an der Strippe, sondern am Tropf und an der Leine! Wir dürfen die Formen unserer Gesellschaftlichkeit nicht aus den Händen von Facebook und Twitter entgegennehmen. Die neuen Formen der Vergesellschaftung, die sich in den aktuellen sozialen Bewegungen herausbilden und die etwas qualitativ Neues vorwegnehmen sollen, können nicht die Gesellschaftlichkeit digitaler Netze, sondern müssen aus Fleisch und Blut sein und auf leiblicher Anwesenheit basieren. Brüderlichkeit und Solidarität entstehen von Angesicht zu Angesicht, indem ich mich im anderen erkenne und alle gemeinsam die Erfahrung einer Kraft machen, von der sie gestern noch nicht wussten, dass sie über sie verfügen – nicht in der Einsamkeit vor der Tastatur oder dem Touchscreen. Aus dieser erwachsen lediglich neue Formen des Autismus, keine solidarischen Verkehrsformen.

Seit Anfang Juni 2013 wissen wir dank der Enthüllungen des couragierten Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden, dass, wer auf elektronischem Weg Daten übermittelt und über Rechner kommuniziert, unfreiwillig mit dem amerikanischen Militärgeheimdienst NSA zusammenarbeitet, der unter dem Code-Namen Prism diese Daten weltweit sammelt, nach bestimmten Algorithmen auswertet und auf diese Weise Profile erstellt. Die Überwachung geht über die Registrierung von Telefongesprächen und E-Mails weit hinaus und erfasst auch die Daten der Internetkonzerne und somit die sozialen Netzwerke. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter des amerikanischen Militärgeheimdienstes sagt, dass die nach dem 11. September 2001 möglich gewordene Überwachung des Datenverkehrs ohne richterlichen Beschluss besser sei als alles, „was der KGB, die Stasi oder die Gestapo und SS je hatten.“ Ein Kontrollfanatiker wie Jeremy Bentham, der Ende des 18. Jahrhunderts das Panoptikum ersann, das im Namen des anbrechenden Zeitalters der Arbeitsdisziplin die gleichzeitige Überwachung vieler Menschen durch wenige Überwacher ermöglichen sollte, hätte sich die heutigen Überwachungspraktiken in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.

Auf Augenhöhe, gut aufgestellt, zielführend und vernetzt sein, ins Boot geholt oder in die Spur gebracht werden: all das will ich nicht und kann es bald nicht mehr hören. Widerlich diese Sprache, abstoßend und ekelerregend.

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