Günter Wallraff: „Lug und Trug statt Treu und Glauben“

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Günter Wallraff erhebt erneut schwere Vorwürfe gegen Amazon. Der Online-Versandriese beute Menschen in Kooperation mit den Arbeitsagenturen über die Erschöpfungsgrenzen hinaus aus. Arbeitslose seien gezwungen, in den Werkhallen bis zu 15 Kilometer am Tag zu laufen. Im System aus Überwachung und Dauerdruck komme es immer wieder zu Herzattacken und Kreislaufzusammenbrüchen. Es gab Fälle, wo Diabetikern sogar verboten worden sei, Injektionen und Traubenzucker mit an den Arbeitsplatz zu nehmen. In diesem Licht gewinnt der Tod eines 50-Jährigen bei Amazon in Koblenz an Brisanz.
Das Interview [*] mit Günter Wallraff führte Christoph Hardt

Herr Wallraff, im März kündigten Sie an, ihre Bücher nicht mehr über den Online-Versandhändler Amazon verkaufen zu wollen. Dort führt man ihre Bücher nach wie vor, wie kann das sein?

Ich habe meinen Verlag abverlangt, Amazon nicht mehr zu beliefern – auch wenn das Umsatzeinbußen an die 15 Prozent bedeutet, Tendenz steigend. Der Boykott schließt auch E-Books über das System von Kindle mit ein. Allerdings unterläuft Amazon meinen Boykott, denn Amazon wirbt damit, alle Bücher liefern zu können. Also besorgt Amazon sich meine Bücher bei Zwischenbuchhändlern. Wenigstens können sie da nicht die Rabatte rausschinden, die sie sonst den Verlagen abverlangen. Nach wie vor suche ich nach einem juristischen Hebel, um auch das zu verhindern.

Was stört Sie so an Amazon?

Jeder, der im Verlagswesen oder Buchhandel tätig ist, weiß: Amazon ist eine zerstörerische Kraft der Monopolisierung, die – sollte sich diese Konzept durchsetzen – letztlich zum Schaden von uns allen sein wird. Und danach sieht es leider momentan aus. Besonders Buchhandlungen und Verlage sind die Leidtragenden. Bis zu 60 Prozent Rabatt vom Ladenpreis werden den Verlagen von Amazon abverlangt. Das ist ruinös. Hinzu kommen Rückgaberecht, kostenlose Lieferung und was weiß ich noch alles… da sind die kleineren Verlage schnell unter ihrem Herstellungspreis. Erste kleinere Verlage boykottieren Amazon deshalb. Auch darf man nicht vergessen, dass der Konzern in Deutschland – obwohl wir nach den USA das Land mit den meisten Bestellungen sind – kaum Steuern bezahlt.

Fühlen Sie sich hierzulande allein im Kampf gegen Amazon?

Keineswegs. Ich bin mit weiteren Autoren im Gespräch, die sich meinem Boykott anschließen wollen. Immer mehr Menschen begreifen, was für eine gezielte Vernichtung des Buchhandels und letztlich auch der Verlage Amazon vorantreibt. Aktuell sägt der Konzern über Brüssel an der Buchpreisbindung. Bisher sind glücklicherweise vor allem Frankreich, Österreich und Deutschland noch standhaft. Sollte hier aber eine Lockerung eintreten, steht uns eine Verarmung der kulturellen Vielfalt bevor – und dann könnte Amazon letztlich auch unser Leseverhalten beeinflussen.

Ist das nicht übertrieben?

Ich befürchte, ich untertreibe eher: Wer einen Kindle-Reader hat, sitzt in der Falle, ist an Amazon gebunden. Und über Kindle-Geräte analysieren sie per Algorithmen das Leseverhalten der Nutzer im großen Stil: Was wird gelesen, was markiert. NSA lässt grüßen, die arbeiten ja ähnlich. In den USA ist das bereits sehr effektiv. Dort finden die Ergebnisse aus dieser Kindle-Überwachung bereits Berücksichtigung, erste Autoren richten ihre Geschichten nach dem aus, was gefällig ist. So züchtet man ein auf vordergründige Bestsellerbedürfnisse getrimmtes Leseverhalten heran. Huxley’s Brave New World ist da längst keine Fiktion mehr.

Wer ist letztlich in der Verantwortung dafür?

Wir können nicht für alles und jedes unsere ohnehin schon überforderten Politiker in die Pflicht nehmen. Auch wir als Verbraucher sind hier gefordert und haben sogar die Hauptverantwortung. Es ist momentan der Trend, sich möglichst schnell das billigste Produkt liefern zu lassen. Konsumsucht und sofortige Bedürfnisbefriedigung. Egal auf wessen Kosten. Es zahlen aber immer welche drauf. Wenn dann Produkte auch noch zurückgeschickt werden…

Dieses Recht hat der Kunde natürlich…

Im Kleidungsbereich betrifft das mittlerweile fast jedes zweite Produkt. Es gibt da etwa sogenannte „Zalando-Parties“, wo man Sachen gegenseitig vorführt, drei Paar Schuhe, fünf Pullies – und alles, was nicht gefällt, wieder zurück ins Paket und ab. Das ist eine irrsinnige Umweltbelastung. Jetzt will Amazon auch noch einen eigenen Paketdienst aufmachen – als ob wir nicht schon zu viele hätten. Die ganze Drohnen-Kiste halte ich für einen riesigen Werbestuss. Das mag irgendwann für einige Großabnehmer kommen, für Normalverbraucher in engen Städten ist das unrealistisch.

Auf ihrem Tisch stapeln sich derzeit ja so viele Zuschriften wie beim Weihnachtsmann…

Mir schreiben kleine Händler, die bei Amazon ausrangiert wurden, weil sie es nicht noch günstiger produzieren konnten. Nur das Allerbilligste zählt. Wer sich dann verweigert, ist außen vor. Der Konzern reicht die Rabatte also einfach an die Hersteller durch – und wir selbst sind langfristig die Leidtragenden, wenn das Fachgeschäft an der Ecke, die kleine Buchhandlung, der persönliche Kontakt dabei verloren gehen. Wenn ich dann höre, was der Amazon-Deutschlandchef Ralf Kleber herumnölt…

Der sich neuerdings gerne in Interviews in Szene setzt…

…bei einem sagte er sinngemäß auf weinerliche Art: ver.di würde den armen Kindern in Deutschland ja das Weihnachtsfest verderben mit ihren Streik-Androhungen und Streiks. Das ist schon dreist. So weit sind die schon, dass die das Monopol für Weihnachtsfreuden beanspruchen.

Wie geht es dabei den „Weihnachtswichteln“?

Ich kriege zunehmend Zuschriften von Menschen, die von den Arbeitsagenturen zur Arbeit bei Amazon verpflichtet wurden, obwohl sie körperlich gar nicht dafür geeignet sind. Als „Picker“ ist man dort kilometerweit unterwegs.

„Picker“?

So nennt man bei Amazon die Kräfte, die zu Fuß durch die gigantischen Hallen laufen müssen, Regalkilometer für Regalkilometer. Dabei haben sie Handscanner, um damit die Ware zu identifizieren, und dann im schnellstmöglichen Tempo auf die Reise zu schicken. Dabei werden sie noch ständig kontrolliert. Wer da mal einige Minuten irgendwo steht, ein Schwätzchen hält, wird bereits herbeizitiert und zur Rede gestellt.

Woher soll das Amazon denn wissen?

Es gibt Kameras, aber die Kontrolle läuft über die Scanner. Auch rückwirkend: Wieviel haben einzelne Arbeiter am Tag geschafft? Wieviel Fehler waren dabei? Diese Mischung aus absoluter Arbeitsanspannung, Tempo, Hektik und Kontrolle lässt regelmäßig Menschen zusammenbrechen.

Wie äußert sich das im Arbeitsalltag?

Es fängt an mit Kreislaufzusammenbrüchen. Dass bei Amazon der Notarzt vorfährt, ist keine Seltenheit. Auf den Krankenstationen deutscher Standorte liegen bis zu drei Personen gleichzeitig: Herzattacken und Kreislaufzusammenbrüche oder Verdacht auf Schlaganfall. Solche Fälle sind mir bekannt. Alles durch den Stress und die körperliche Überforderung. Jemand, der kilometerweit unterwegs ist, muss das auch normalerweise vorher trainiert haben.

Wie weit läuft man denn für Amazon als „Picker“ am Tag?

Etwa 15 Kilometer. Das kann auch mal weniger sein, mal bis 20 Kilometer. Dabei bleibt es aber nicht: Bei den Riesen-Entfernungen innerhalb der Betriebe sind oft 10 Minuten vergangen, bevor man im Pausenraum ist. Dort steht man dann für den Kaffee häufig noch einmal Schlange. Das sind Unzumutbarkeiten, vor denen die Argen die Augen verschließen. Gleichzeitig drücken sie aber jedem, der sich das nicht zumuten mag, eine Sperre rein. Ein erpresserisches Konzept. Für die Menschen ist das wie Arbeitslager – oder Zwangsarbeit. Entweder arbeitslos oder Ausbeutung. Soeben hat sich mir ein Mitarbeiter anvertraut, der von der Arge dorthin verpflichtet wurde, der in 6 Wochen 15 Kilo abgenommen hat – und er war nicht gerade übergewichtig. Auch er erlebte bei der Arbeit einen Zusammenbruch.

Besteht bei dieser Arbeit ein Gesundheitsrisiko?

Mir liegen Fälle vor, wo Diabetiker nicht mal ihren Traubenzucker oder Spritzbesteck mit an den Arbeitsplatz nehmen durften. Ein Diabetiker ist dann kollabiert. Angeblich ist das daraufhin mit einer Sondererlaubnis geändert worden – ich hoffe es zumindest.

Handelt es sich hier nicht um bedauernswerte Einzelfälle?

Bei Amazon in Koblenz ist dieses Jahr ein 50-Jähriger gestorben. Amazon sagt, dass sei nicht während der Arbeit sondern vor Schichtantritt passiert. Ich weiß aber, dass die Person die Tage zuvor schon sehr überfordert war mit der Arbeit. Es wird versucht abzuwiegeln und solche Vorfälle vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Im Werk ist der Fall aber bekannt, da ist nichts mehr zu leugnen. Nur stellt Amazon es nun so dar, als hätte das alles nichts mit der Arbeit zu tun, der Mann habe sowieso gekränkelt. Beschämend, dass die Argen mit solchen Unternehmen zusammenarbeiten.
Selbst eine Zeitarbeitsfirma hat die „unmenschliche“ Behandlung von Leiharbeitern bei Amazon kritisiert und wegen „sittenwidriger Verträge“ abgelehnt, Arbeiter dorthin zu vermitteln. Diese würden zu „Umtauschware“ degradiert und zu Wanderarbeitern gemacht.

Wie stellt Amazon die Arbeitsbedingungen denn gegenüber den Argen dar? So nach dem Motto: „Nur ein bisschen Scannen“?

Die Argen kümmern sich nicht darum, unter welchen unzumutbaren und ausbeuterischen Bedingungen die Vermittelten malochen müssen. Über die Hälfte aller Kosten geht bei den Argen übrigens für die Selbstverwaltung drauf. Geld, das den Bedürftigen also nicht zugute kommt. Für die Oberen gibt es Boni, wenn die Budgets für Sozialleistungen nicht überschritten werden. Da kommt Amazon gerade recht. Hier hat sich ein System etabliert, wo Menschen bedenkenlos solchen Moloch-Unternehmen ausgeliefert werden, um sie aus der Statistik raus zu haben.

Aber es geht ja darum, Menschen in Arbeit zu bringen?

Ja, und viele, die dort anfangen, zittern und bangen, vielleicht doch fest übernommen zu werden. Der perfide Trick ist es, dies bis zuletzt offen zu lassen. Letztlich haben die so Vermittelten aber von vornherein schon verloren: Fast alle werden sie nur für das Saisongeschäft verpflichtet und danach zurück in die Arbeitslosigkeit geworfen. Etwa 80 Prozent des Geschäfts läuft bei Amazon bekanntlich während der Weihnachtszeit. Darum muss man hier von Saisonarbeitern sprechen.

Wie sieht das konkret aus?

Derzeit erreichen mich Hiflerufe aus Rheinberg. Dort wurde von einer Minute auf die andere verkündet: Die Frühschicht muss nun eine Stunde früher kommen, die Spätschicht eine Stunde länger bleiben. Da kommen Menschen aus dem Ruhrgebiet, wo ab einer gewissen Uhrzeit keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr fahren, die Menschen also vor den Amazon-Toren hätten übernachten müssen. Da mussten welche nachts mehr als zwei Stunden zu Fuß nach Hause gehen. Vom Konzern hieß es nur: Macht halt Fahrgemeinschaften. Die meisten haben aber gar kein Auto. Ich habe einigen dort nun aus eigener Tasche ein Auto finanziert, damit sie die Arbeit dort durchhalten und weiter machen können.

Wenn sie einen Wunschzettel hätten für das neue Jahr, was stünde da drauf?

Mindestlöhne, sind zumindest das Allermindeste. Aber noch stärker: Entschleunigung. Arbeitszeitverdichtung, wie sie bei Amazon herrscht, zieht eine Kaskade der Ausbeutung nach sich. Ich habe in den letzten Monaten wieder viel in der Paketbranche recherchiert – einem Tentakel dieses Kraken Amazon. Dies sind die letzten in dieser Kette. Da sind viele heute noch mit 14 Stunden pro Tag unterwegs, verdienen unterm Strich zwischen 2 und 4 Euro pro Stunde. Prekäre Arbeitsverhältnisse, bei denen die Menschenwürde auf der Strecke bleibt. Viele Hilferufe, die mich erreichen, kommen aus dieser Branche.

Trauen Sie Merkels Groko und dem groß angekündigten Mindestlohn-Versprechen?

Ich habe eine gewisse Hoffnung in Sigmar Gabriel, halte ihn für glaubwürdiger als seine Vorgänger, vor allem als diesen „Basta-Kanzler der Bosse“, Gerhard Schröder, der sich – man muss es leider so sagen – von der Wirtschaft, wie etwa Gazprom, hat kaufen lassen. Da hat Gabriel ein anderes Format, ein soziales Gewissen. Er steht nun mit Vielem im Wort, woran er sich messen lassen muss.

Und außer Recherchen in der Paketbranche…?

Ich habe ein Büro gegründet, „Workwatch“, das bei Hilferufen berät und auch publizistisch tätig ist. Anders sind diese grausamsten Schilderungen, die mich täglich erreichen, kaum noch abzuarbeiten. Das nimmt in letzter Zeit Überhand. Im nächsten Jahr wird ein Buch unter meiner Herausgeberschaft erscheinen, wo derzeit einige junge Journalisten, die von mir Stipendien bekommen haben und jetzt undercover unterwegs sind, in verschiedensten Bereichen der Arbeitswelt ermitteln. Der Arbeitstitel: „Lastenträger – Arbeit im freien Fall.“ Auch ein Manager ist unter den Autoren.

Whistleblower von oben?

Ja, das geschieht, wenn aus Leitenden Leidende werden – oder wenn sie das Elend, das sie mit angerichtet haben, nicht mehr verantworten wollen. Dann leiden sie ebenso unter diesem Druck, bis hin zu Nervenzusammenbrüchen, erkennen sich irgendwann nicht wieder. Zuletzt etwa der Sicherheitschef eines großen Flugzeug-Herstellers, ein im ganzen Land hochangesehener Experte, der dagegen aufbegehrte, Arbeitssicherheit nur physisch, nicht aber unter Berücksichtigung psychischer Unzumutbarkeiten zu definieren, und der durch neue Chefs und Mobbing, das er reklamierte, an den Rande des Selbstmords getrieben wurde.

Denken Sie nicht auch in manchen Momenten, vielleicht kann die Welt nicht mehr mit der Feder hingebogen werden? Vielleicht muss eine große Welle kommen…?

Ich bin jemand, der schon immer für den evolutionären Weg war. Weil: Die zerstörerischen Kräfte gibt es zuhauf. Eine Gegenzerstörung dagegen zu setzen, macht es nicht besser. Als Berufsskeptiker und Zweckoptimist sage ich: In Zeiten, wo erstarrte Ordnungen aufbrechen – und da befinden wir uns mittendrin – können kleinste Anstöße das große Ganze beeinflussen. Alles, was dann wahrhaftig, ernsthaft betrieben wird, hat Wirkung. Und ich sehe einen zunehmenden Bewusstseinswandel, gerade bei jungen Menschen hin zu einer anderen Form des umweltverantwortlichen, humanen Wirtschaftens.

Wäre es nicht der bessere evolutionäre Weg, das Geld abzuschaffen, wenn wir uns selbst nicht so schnell ändern können?

Es schafft sich doch gerade selbst ab. Die schleichende Geldentwertung ist in vollem Gange. So wie Springer sich durch den Verkauf seiner Regionalzeitungsgruppen momentan selbst enteignet. Die Ersparnisse kleiner Sparer schmelzen dahin, ganz klar. Bei mir war jemand aus dem Wirtschaftsministerium, ich kann keine Namen nennen, aber sehr hochrangig. Auch jemand aus einem Dax-Vorstand. Wie da intern über die Krise geredet wird… Der Tenor ist: Der nächste Crash ist vorprogrammiert. Ob in einem halben Jahr oder in drei. Er kommt. Und er wird eine größere Lawine auslösen als beim letzten Mal. Es kann sein, dass das ganze System dann kollabiert. Man beherrscht es längst nicht mehr. Wenn ich höre, dass über 80 Prozent aller Aktien innerhalb von Sekundenbruchteilen gekauft und verkauft werden – da ist etwas total entgleist, und das wird ein Riesen-Desaster geben. Ich hoffe, ich behalte Unrecht.

Jetzt soll doch die Banken-Regulierung kommen?

Ich fürchte, unsere Regierungen sind einfach nicht stark genug, dass noch zu regulieren. Banken, Kartelle und internationale Kapitalinteressen bestimmen, dirigieren und regieren doch längst und die von uns demokratisch gewählten Regierungen sind dazu verdammt, nur noch reagieren zu können. Es war doch bei der letzten Krise schon kurz davor, dass alles zu den Banken und Sparkassen strömte, um das Geld abzuheben. Damals kam dieses Versprechen von Merkel und Steinbrück, die Einlagen seien sicher. Natürlich hätten sie das niemals halten können, aber es hat die Lage beruhigt. Beim nächsten Mal wird das eine Dimension größer. Nicht umsonst nannte Warren Buffet Hedge-Fonds die Massenvernichtungswaffen unserer Zeit – was ihn nicht davon abhielt, ein Drittel seines Vermögens zu verspekulieren. Da ist nur noch Zocken und Gewinngier angesagt. Lug und Trug statt Treu und Glauben.

Also kommt der große Knall erst noch?

Hatten meinesgleichen und ich vor zwanzig Jahren solche Thesen vertreten, hieß es schnell „Verschwörer“ oder „Apokalyptiker“. Heute reden so die Klügeren unter den Börsenfachleuten und selbst konservative Wirtschaftswissenchaftler. Auch der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, einer der „klugen“ Köpfe in unserem Land, der früher so etwas als sozialistische Simplifizierungen abgetan hätte, bringt das inzwischen in seinem Buch „Gier“ als Resümee auf den Punkt: „Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste vergesellschaftet.“

Wann gibt es denn Mal ein neues Buch von Ihnen als Autor?

Ich bereite jetzt erstmal filmisch ein Format „Team-Wallraff“ vor. Die ersten von mir Beratenen sind da bereits verdeckt im Einsatz.

Ist es denn für jemanden wie Sie nicht brisant, sich für das Format „Team-Wallraff“ mit RTL einzulassen?

Es ist sicherlich eine Gratwanderung. Irgendwann bin ich auf die Privaten zugegangen, weil ich die eigentlichen Adressaten, vor allem junge Menschen, die in solchen ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen drin stecken, über die öffentlich-rechtlichen Sender kaum mehr erreiche. Ich will ihnen sagen: Ihr sollt euch nicht alles gefallen lassen. Die guten Einschaltquoten freuen mich natürlich. Andererseits finde ich bei RTL auch Menschenverachtendes. Normalerweise sehe ich solche Sendungen nicht, fühle mich aber gerade jetzt auch gefordert, so etwas zu beobachten und zu reklamieren. Vor ein paar Tagen Mario Barth zum Beispiel: Ich war entsetzt, wie er einen partnersuchenden, schüchternen jungen Mann mit einer attraktiven potentiellen Partnerin konfrontierte, der er aus dem Nebenraum primitivste sexuelle Anzüglichkeiten soufflierte. Gleichzeitig wurde der junge Mann noch mit eingeblendeten Comicfiguren verglichen und so für sein Äußeres zusätzlich verhöhnt. Ich kann so etwas nicht verhindern, aber ich lasse mir nicht nehmen, das anzuprangern.

[«*] Das Interview wurde im Dezember 2013 geführt.

Günter Wallraffs letztes Buch „Aus der Schönen neuen Welt – Expeditionen ins Landesinnere“ ist inzwischen in einer erweiterten Neuauflage erschienen (384 Seiten, KiWi-Verlag, 9.99 als Taschenbuch)

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