Anmerkungen zu „die linke: partei neuen typs?“ von Benjamin-Immanuel Hoff

Ein Artikel von Christoph Habermann

Benjamin-Immanuel Hoff gibt einen kompakten Überblick zu wichtigen Aspekten der Diskussion über Selbstverständnis, Aufgaben und Rolle der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Er tut das anschaulich, aus eigener Erfahrung – aktiv und in teilnehmender Beobachtung – als Abgeordneter, Staatssekretär, Parteimitglied und mit der sozialwissenschaftlichen Debatte zum Thema vertraut.
Was er in praktischer Absicht, frei, aber nicht zweckfrei, schreibt und beschreibt, ist voller Informationen und Argumente, die ich mit Gewinn und Zustimmung gelesen habe. An einigen Stellen habe ich Zweifel und Fragezeichen oder Widerspruch anzumelden. Christoph Habermann [*]

Anmerkungen zu:

benjamin-immanuel hoff
„die linke: partei neuen typs?“
Hamburg 2014

Vorbemerkung

Das schmale Taschenbuch wird vermutlich vor allem von Insidern aus dem politischen, administrativen und medialen Betrieb gelesen, ist aber auch für alle anderen Interessierten, ob in Hochschulen, Parteien, Gewerkschaften, Verbänden oder Initiativen interessant und gut lesbar.

Benjamin-Immanuel Hoff (im Folgenden: BIH) gibt einen kompakten Überblick zu wichtigen Aspekten der Diskussion über Selbstverständnis, Aufgaben und Rolle der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Er tut das anschaulich, aus eigener Erfahrung – aktiv und in teilnehmender Beobachtung – als Abgeordneter, Staatssekretär, Parteimitglied und mit der sozialwissenschaftlichen Debatte zum Thema vertraut.

Was er in praktischer Absicht, frei, aber nicht zweckfrei, schreibt und beschreibt, ist voller Informationen und Argumente, die ich mit Gewinn und Zustimmung gelesen habe. An einigen Stellen habe ich Zweifel und Fragezeichen oder Widerspruch anzumelden.

Die mir besonders wichtigen sind im Folgenden kurz dargestellt.

I.

Der erste Widerspruch gilt dem Vorwort von Katja Kipping, die schreibt:

„Die Wähler_innenpotenziale von Grünen und SPD konzentrieren sich jeweils stark auf ein Milieu.“ (Seite 7).

Die „Linke“ habe es dagegen mit ganz unterschiedlichen Milieus zu tun, was die Arbeit der Partei und für die Partei viel schwerer mache.

Das Argument klingt stark, hat aber den Nachteil, dass es nicht stimmt. Darauf weist Benjamin-Immanuel Hoff (BIH) selber hin, wenn er auf Seite 93 zustimmend den Politikwissenschaftler Gero Neugebauer zitiert, dass die SPD „unter ihren Anhängern eindeutige Milieuschwerpunkte vermissen (lässt)“.

Wir können also nüchtern feststellen, dass der Autor sich an die Wirklichkeit hält und dabei auch keine Rücksicht auf (Partei-) Autoritäten nimmt.

II.

Im Mitgliederentscheid der SPD über den Koalitionsvertrag nach der Bundestagswahl 2013 sieht BIH „einen Maßstab, an dem die Partei DIE LINKE nicht mehr vorbeikommen wird.“ (Seite 12)

Unabhängig davon, ob das stimmt, fehlt mir hier eine kritische Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und den Folgen von „direkter Mitbestimmung“, die ich hier nur kurz aus eigener Erfahrung und teilnehmender Beobachtung andeuten möchte.

Das Verfahren zur Information und Willensbildung im Vorfeld des Mitgliederentscheids der SPD war so organisiert, dass die Befürworter des Koalitionsvertrags und der Koalition in jeder Hinsicht im Vorteil waren.In der parteiinternen Kommunikation, elektronisch und auf Papier, hatten sie fast das Monopol, ihre Sicht der Dinge darzustellen.

Bei den vom SPD-Parteivorstand organisierten Regionalkonferenzen haben alle „gesetzten“ Rednerinnen und Redner pro Koalitionsvertrag gesprochen. Es gab kein pro und contra zur Einführung.

In der Diskussion hatten zwar alle Anwesenden die Möglichkeit, ihre Position darzulegen,
das letzte Wort aber hatten immer die Befürworter/innen.

In den vom SPD-Parteivorstand verschickten Video-statements, Informationsmaterial und Argumentationshilfen wurde ausschließlich für Zustimmung zum Koalitionsvertrag geworben.

Beim Material des SPD-Landesverbands Nordrhein-Westfalen kamen per Video-Botschaft allerdings auch ein oder zwei Stimmen zu Wort, die sich für die Ablehnung des Vertrags aussprachen.

Die Herrschaft über die Organisations- und Kommunikationsmittel der Partei führt in der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern von pro und contra zu Bedingungen, die gegen alle Regeln von gleichen Wahlchancen, Fairness und Ausgewogenheit verstießen und im Fall allgemeiner Wahlen mit Sicherheit keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht hätten.

In Zukunft muss ein Mitgliederentscheid deshalb auf jeden Fall unter anderen Bedingungen stattfinden.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Man könnte sich an der Schweiz orientieren, dem Land mit der größten Erfahrung mit direkter Demokratie, mit Volksabstimmungen.

Dort bekommt jeder Wähler und jede Wählerin vor der Abstimmung eine Broschüre, in der die unterschiedlichen Standpunkte der Befürworter und Gegner gleichgewichtig dargestellt werden. Vergleichbar müssten Informationsveranstaltungen organisiert werden. Was ein Staat kann, muss in einer Partei erst recht möglich sein.

III.

BIH plädiert für den „Verzicht auf eine Neuauflage altbekannter und zumeist gescheiterter „Zwei-Wege-Strategien“ oder „Doppelstrategien“ nach dem Muster „Spielbein im Parlament und Standbein in der Bewegung“.“

Sicher gibt es grundsätzliche Vorstellungen und auch Beispiele dafür, wie man es nicht machen soll und nicht machen darf: Die Parlamentsfraktion als „verlängerter Arm“ ist sicher eine solch falsche und auf Dauer auch nicht praktikable Vorstellung.
Genauso falsch ist aus meiner Sicht aber die Vorstellung, man könne und solle die politische Auseinandersetzung auf den parlamentarischen Raum begrenzen und beschränken.

Nein, auch parlamentarische Erfolge gibt es nicht ohne gesellschaftliche Bewusstseinsbildung, ohne gesellschaftliche Aktivierung und Mobilisierung, ohne gesellschaftlichen Druck. Dafür gibt es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ungezählte Beispiele von der kommunalen bis zur Bundesebene.

Parlamentarische und außerparlamentarische Arbeit stehen in einem Spannungsverhältnis, das richtig und notwendig ist; dabei darf man den Bogen nicht überspannen. Was das im einzelnen Fall heißt, kann man nicht abstrakt definieren, diese Frage muss immer wieder neu beantwortet werden nach dem Grundsatz: Im Zweifel auf Biegen, aber nicht auf Brechen. Das ist mühsam, aber lohnend, und demokratisch richtig ist es sowieso und obendrein.

IV.

BIH kritisiert die Parteivorsitzenden der „“Linken“ dafür, dass sie die Partei und ihre Arbeit im Sinne von Antonio Gramsci verstehen. Diesem Selbstverständnis widerspricht er mit dem Argument, dass man „vom leninistischen Parteiverständnis Gramscis nicht schweigen“ dürfe. (Seite 37).

Doch, das kann man und das darf man. Was man nicht tun sollte, ist, dieses leninistische Parteiverständnis zu übernehmen – bewusst oder unbewusst.

Die Aufgaben, die die Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger unter Berufung auf Gramsci für ihre Parteien sehen, sind aber nicht an ein leninistisches Parteiverständnis gebunden:

  • Verankerung in der Gesellschaft,
  • Konfliktfähigkeit in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen,
  • ausreichende Strukturen, um in den Parlamenten „als Sprachrohr“ zu agieren,
  • politische Orientierung geben,
  • emanzipatorische politische und kulturelle Ausdrucksformen entwickeln

(Seite 33)

Mich stört eigentlich nur das Wort „Sprachrohr“, weil dahinter ein mechanistisches Missverständnis über die Bedeutung und die Schwierigkeiten parlamentarischer Arbeit stehen könnte. Vielleicht kann man das sogar als „leninistisch“ verstehen.

V.

Im engen Zusammenhang mit der Diskussion über Gramsci steht die Frage, ob die Regierungsbeteiligung der Partei DIE LINKE ein politisches Projekt oder die Verständigung auf eine Koalition mit einer Mehrheit im Parlament sei und sein müsse.

BIH hat dazu die klare Auffassung,

„dass Voraussetzung für eine linke Regierungsbeteiligung eine parlamentarische Mehrheit einerseits sein müsse und der gemeinsame Wille der betreffenden Parteien oder wenigstens Spielraum für DIE LINKE andererseits, tatsächlich spürbare gesellschaftliche Reformprojekte zu initiieren.“ (Seite 41)

Weiter schreibt er:

„Aus der Summe der Ideen und Maßnahmen, die diesbezüglich entwickelt werden, könnte so etwas wie ein rot-grün-rotes Projekt entstehen. Merke: durch das rot-grün-rote Handeln selbst, nicht als Voraussetzung dafür.“ (Seite 135)

Auf mich wirkt dieser Streit ziemlich scholastisch im Sinne des Streits um die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden.

Das politische Projekt mit gesellschaftlicher Mehrheit gegen die parlamentarische Mehrheit mit politischem Willen zu stellen, das halte ich für eine genauso falsche Alternative wie die zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit.

Ich verstehe und teile die Aversion, jede praktische politische Arbeit zum „Projekt“ zu erhöhen oder die Erhöhung zum „Projekt“ zur Voraussetzung jeder praktischen politischen Arbeit zu machen.

Genauso klar scheint mir aber auch, dass parlamentarische Mehrheit und guter Wille nicht genügen, wenn man die Gesellschaft grundlegend zum Besseren verändern will und das gegen die Interessen von zahlenmäßig oft kleinen, aber mächtigen und einflussreichen Gruppen mit erheblichem Destruktionspotential.

Das kann nur gelingen, wenn die parlamentarische Arbeit Rückendeckung und Rückenwind von denen in der Gesellschaft hat, die bessere Arbeits- und Lebensbedingungen brauchen und wollen.

Da kommt es auf Verankerung in der Gesellschaft an, auf Konfliktfähigkeit, politische Phantasie und organisatorische Macht, auf die Fähigkeit, politische Orientierung zu geben und eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was anders, was besser werden soll und wie das zu schaffen ist.

VI.

Auf Seite 50 lese ich zu meinem Erstaunen, dass BIH der Meinung ist,

„dass die Effekte des Internets eine deliberative Demokratie darstellen.“

Wirklich? Immer? Voraussetzungslos?
Fragen über Fragen!

Dass man das Internet, wie ein Messer, so oder so benutzen kann, dafür gibt es inzwischen ausreichend Erfahrungen. Man kann es sicher auch nutzen, um Formen einer deliberativen Demokratie zu praktizieren und zu stärken, aber „dass die Effekte des Internets eine deliberative Demokratie darstellen“, das halte ich für mehr als übertrieben.

Schlussbemerkung

Schließen möchte ich mit einem langen Zitat, dem ich vorbehaltlos zustimme:

„Ein ostdeutscher Ortsverband der Linkspartei, der zu zwei aufeinanderfolgenden Mitgliederversammlungen, z.B. die Bundestagsabgeordnete Sarah Wagenknecht und anschließend den Vertreter des reformistischen Flügels und moderaten Außenpolitiker im Bundestag, Stefan Liebich, einlädt und jeweils begeistert applaudieren, ist nicht politisch unzuverlässig oder schizophren.

.. gibt es den Wunsch, auf das, was sie jeweils für die Partei tun, stolz sein zu können, sich auszutauschen, einzubringen, kurz: in der Partei zuhause sein zu wollen und auf Basis dessen durch eigenes Handeln zu Erfolgen der eigenen Partei beizutragen.“
(Seite 127)

Das ist genau und mit feinem Gespür beobachtet und richtig eingeordnet.
So ist es. Unter einer Voraussetzung: Die Eingeladenen müssen beide Format haben oder jedenfalls diesen Eindruck vermitteln, politisch und menschlich.

Viele Probleme in Parteien, nicht nur in der Linkspartei, entstehen aus der fehlenden oder mangelnden Fähigkeit und Bereitschaft Menschen so zu sehen wie sie sind. Die meisten Mitglieder einer Partei haben, wie die meisten Menschen überhaupt, viel weniger Schwierigkeiten, Unterschiedliches unter einen Hut oder auf einen Nenner zu bringen, als
jene, die an der Spitze von Flügeln, Strömungen oder Zirkeln stehen und daraus Legitimation, Profil und Identität beziehen.


[«*] Christoph Habermann war u.a. stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes in der Amtszeit von Bundespräsident Rau, von Ende 2004 bis 2007 war er Staatssekretär im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit und danach Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium von Rheinland-Pfalz

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