Hinweise des Tages (2)

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Unter anderem zu folgenden Themen: Wachstumsbeschleunigungsgesetz, ein Gesetz ins Blaue; Beschäftigung und Mindestlöhne; Ausbildungsstart; Begrüßungsgeld für Fachkräfte; Rohstoff-Roulette; Tiefseebohrungen; Kurswechsel; Kölner Karlspreis; Turbo-Schule hat versagt; Sauerland als Sündenbock; Milliardäre spenden; Eintrittsgeld für Papst-Messen; griechische Pein; Pakistans innerer Glaubenskrieg; Jahrestag des Atombombenabwurfs; Charta der Heimatvertriebenen. (WL)

  1. Theoretische und empirischen Grundlagen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
  2. Gerhard Bosch: Beschäftigung und Mindestlöhne
  3. Ausbildungsstart im August – für viele Jugendliche leider nicht
  4. DGB lehnt “Begrüßungsgeld” für Fachkräfte ab
  5. Rohstoff-Roulette: Wie Investmentbanken die Preise manipulieren
  6. EU lehnt Tiefsee-Bohrungen ab
  7. Berthold Huber: Kurswechsel für Deutschland
  8. Kölner Karlspreis: Rede des Schriftstellers Wolfgang Bittner in Auszügen
  9. Die Turbo-Schule hat versagt
  10. Sauerland als Sündenbock
  11. Milliardäre spenden
  12. Gläubige müssen bei Papst-Messen Eintritt zahlen
  13. Alltag in der Schuldenkrise: Griechische Pein
  14. Pakistans innerer Glaubenskrieg
  15. Herr Sotobayashi bricht sein Schweigen
  16. Charta der Heimatvertriebenen: Ein wahres deutsches Wunder

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Zu den theoretischen und empirischen Grundlagen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beabsichtigten Steuerreform
    Hat die Bundesregierung ein ökonometrisches Modell, mit dem sich unter realitätsnahen Annahmen die Auswirkungen von Steuerrechtsänderungen auf Wachstum, Beschäftigung und Steuereinnahmen schätzen lassen, und wie sieht ggf. die Grundstruktur dieses Modells aus?
    Die Bundesregierung verfügt nicht über ein solches ökonometrisches Modell. Allerdings umfassen Gesetzentwürfe, die Steuerrechtsänderungen zum Gegenstand haben, regelmäßig Schätzungen zu den hieraus resultierenden finanziellen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte für den Finanzplanungszeitraum (Finanztableau), die als Entscheidungsgrundlage für die parlamentarischen Beratungen dienen.
    Die Auswirkungen der Steuerpolitik auf das Wirtschaftswachstum werden im Zusammenhang mit den offiziellen mittelfristigen Vorausschätzungen auf der Grundlage einer Gesamtschau der steuerpolitischen Maßnahmen bei den geschätzten Wachstumsraten berücksichtigt, wobei aber keine Separierung bezogen auf die Effekte der Steuerpolitik im Verhältnis zu anderen das Wachstum beeinflussenden Faktoren erfolgt. Auch gibt es bei den offiziellen gesamtwirtschaftlichen Projektionen keine gesonderte Schätzung von Wachstumseffekten einzelner steuerlicher Maßnahmen.
    Gab es in der Vergangenheit in anderen Staaten Beispiele für ausgeprägte Wachstumsphasen, die durch Steuersenkungen ausgelöst wurden und als empirische Untermauerung des Laffer-Theorems gelten können?
    Wenn ja, welche Länder waren dies, und zu welchem Wirtschaftswachstum haben diese Steuersenkungen geführt?
    Insbesondere in den USA wurde versucht, Wachstums- und Selbstfinanzierungseffekte von Steuersenkungen empirisch nachzuweisen. Problematisch ist dabei, zwischen Kausalität und Korrelation zu unterscheiden. Aus dem zeitlichen Zusammentreffen von Steuersenkung und Wachstum kann nämlich nicht zwingend auf einen ursächlichen Zusammenhang geschlossen werden.
    Eine erfolgreiche Wachstums- und Beschäftigungspolitik zeichnet sich im Regelfall durch eine Gesamtstrategie mit zahlreichen aufeinander abgestimmten Maßnahmen in verschiedenen Politikfeldern aus, zu denen als wichtiger Teil auch Steuersenkungsmaßnahmen gehören können. Da eine Vielzahl von Maßnahmen und vielfach auch externen Einflüssen, z. B. Weltmarktentwicklungen, zusammenwirken, ist es nicht möglich, den auf einzelne Elemente, z. B. Steuersenkungen, entfallenden Wachstums- und Beschäftigungseffekt gesondert zu ermitteln.
    Quelle: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD [PDF – 66 KB]

    Anmerkung WL: Wachstumsbeschleunigung nach dem Prinzip Hoffnung. Diese Antwort sollte man sich merken, wenn jemals ein Mitglied der Bundesregierung behaupten sollte, von dem sog. Wachstumsbeschleunigungsgesetz gingen positive Impulse auf das Wachstum aus.

  2. Gerhard Bosch: Beschäftigung und Mindestlöhne – Neue Ergebnisse der empirischen Mindestlohnforschung
    Unter Bezug vor allem auf die neoklassische Arbeitsmarkttheorie zeigt der Beitrag zunächst, dass sich aus theoretischen Modellen keine eindeutigen Aussagen über die Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen ableiten lassen. Ergiebiger ist die neue empirische Mindestlohnforschung. Sie macht deutlich, dass nicht nur sehr niedrige Mindestlöhne, wie sie in vielen US-Staaten gezahlt werden, beschäftigungsneutral sind, sondern auch höhere Mindestlöhne, die es in einigen westeuropäischen Staaten, aber auch in Form der “living wages” in den USA gibt. Weiterhin können Mindestlöhne die Geschäftsmodelle von Unternehmen nachhaltig beeinflussen. Indem sie die im Niedriglohnbereich oft sehr hohe Fluktuation verringern, werden für Unternehmen Investitionen in Weiterbildung und erweiterte Aufgabenzuschnitte lohnend. Gleichzeitig sinkt der Kontrollaufwand bei Beschäftigten, die besser motiviert sind und eigenständiger arbeiten. Durch Mindestlöhne können die Extraprofite der vielfach monopsonistischen (nachfragemonopolistisch, WL) Arbeitsmarkstrukturen in Niedriglohnbereichen abgebaut und marktgerechte Löhne gesichert werden. Länder mit einem institutionellen Umfeld, das Weiterbildung, Modernisierung der Arbeitsorganisation und Innovation unterstützt, können sich höhere Mindestlöhne “leisten” als Länder ohne solche positiven Rückkoppelungen.
    Quelle: WSI-Mitteilungen 8/2010, Seiten 404-411
  3. Ausbildungsstart im August – für viele Jugendliche leider nicht
    Der Ausbildungsstart in vielen Unternehmen und Bundesländern hat begonnen – leider bei Weitem nicht für alle Jugendlichen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) stehen zum 29. Juli den 511.000 BewerberInnen lediglich rund 405.000 betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung. Das bedeutet, dass zum Ausbildungsstart im August 106.000 betriebliche Ausbildungsplätze fehlen.
    „Diese Situation fügt sich nahtlos in die dramatische Entwicklung der letzten Jahre und stellt der Wirtschaft und der Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis aus“, kritisierte der DGB-Bundesjugendsekretär René Rudolf am Freitag in Berlin. „Trotz Ausbildungspakt und Beteuerungen bleibt das Angebot an Ausbildungsplätzen laut Nationalem Bildungsbericht in fast allen Berufen hinter der Nachfrage zurück. Jahr für Jahr landen fast 400.000 Jugendliche im sogenannten „Übergangssystem“ zwischen Schule und Beruf – ohne Chance auf eine voll qualifizierende Ausbildung.“
    Nach wie vor beteiligen sich weniger als ein Viertel aller Unternehmen in Deutschland aktiv an Ausbildung. Dieser Anteil muss kurzfristig und konjunkturunabhängig im Sinne der beruflichen Zukunft aller Jugendlichen und dem zukünftigen Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften erhöht werden. Die Tatsache, dass in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren (17 Prozent der Altersgruppe) keinen Berufsabschluss haben, ist für die DGB-Jugend inakzeptabel. „Die junge Generation hat ein Recht auf eine Perspektive im Berufsleben, ohne Langzeitarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung“, forderte René Rudolf.
    In einer solchen Situation Vorschläge zu unterbreiten, die die Arbeitsschutzrechte von jungen Auszubildenden in der Hotel- und Gaststättenbranche verschlechtern, wie es kürzlich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) tat, ist ein unglaublicher Vorfall und erinnert an die bereits gemachten Geschenke für Hotels und Gaststätten.
    Quelle: DGB

    Dazu:

    Zum NDS-Artikel „Fehlen Lehrlinge oder Lehrstellen?“ vom 06.08.2010 schreibt uns ein Leser:

    Seit vielen Jahren bin ich auf diesem Gebiet professionell tätig. Von Jahr zu Jahr wiederholt sich diese Prozedur. Je nach Bedarf der Wirtschaft – gleich Handwerk oder Industrie – wird ein Mangel an Stellen oder an geeigneten Bewerbern dargestellt.
    Die sogenannten Börsen bei den Kammern (IHK; HWK) sind absolut ungenau. Die Aktualität ist ungesichert, nicht nachweisbar. Am Ende ist wieder nur die Rede von neu abgeschlossenen Verträgen. Wer wo und wie „auf der Strecke“ blieb, bleibt im Dunst von Verlautbarungen und Statistiken unklar!
    Ein Blick in die Berufsbildungsberichte der vergangenen Jahre ist hilfreich, ferner ein Blick in die Statistiken der BA. Deutlich wird, dass eine hohe Zahl von potenziellen Bewerbern im beruflichen Schulsystem verschwinden, weil sie keine passende Ausbildungsstelle fanden und sie schul- oder berufsschulpflichtig sind. Viele mögliche Bewerber werden als nicht „berufs-“ oder „ausbildungsreif“ ausgemustert und in Maßnahmen der BA für viel Geld „zwischengeparkt“. Die BA übernimmt aktuell sogar unter Einsatz von Steuer- bzw. Beitragsmitteln das Nachholen von fehlenden Schulabschlüssen. Es entstand neben dem Ausbildungsstellenmarkt ein Markt für Praktikumsstellen, in dem sich mehr oder weniger ausbildungswillige Betriebe bedienen, um Ausbildungsstellen zu besetzen oder sich willfährige Lehrlinge zu suchen. Die „Generation Praktikum“ findet sich auch hier wieder!
    Das hochgelobte duale Ausbildungssystem ist aus den Fugen, weder Schulen, noch Betriebe können oder wollen in ausreichendem Maß etwas zur Verbesserung der Situation tun! In der Politik ist man offenbar planlos, ahnungslos und willenlos. Es läuft nach dem Muster der Arbeitsmarktzahlen: aus festgelegten und manipulierbaren Statistikwerten, werden entsprechende Zahlen produziert und je nach Bedarf in der Öffentlichkeit präsentiert!

  4. DGB lehnt “Begrüßungsgeld” für Fachkräfte ab
    Bundeswirtschaftsminister Brüderle will Fachkräfte mit einem Begrüßungsgeld nach Deutschland holen. Der DGB lehnt diesen Vorschlag ab. Er fordert stattdessen bessere Kinderbetreuungsangebote für Alleinerziehende und Qualifikationsmöglichkeiten für Arbeitslose. Zudem müssten im Ausland erworbene Abschlüsse von Migranten anerkannt werden.
    Quelle: DGB
  5. Rohstoff-Roulette: Wie Investmentbanken die Preise manipulieren
    Die Geldhäuser haben das Geschäft mit Metallen, Öl und Strom für sich entdeckt. Sie steigen in den physischen Handel ein, sichern sich Tanker, Lagerstätten und Kraftwerke. Durch diese Marktmacht verknappen sie das Angebot und treiben die Preise hoch.
    Quelle: FTD
  6. EU lehnt Tiefsee-Bohrungen ab
    Das Bohrloch im Golf von Mexiko ist noch nicht endgültig abgedichtet, geschweige denn, dass neue Techniken zum Schließen von undichten Quellen existierten. Doch der für die Ölpest verantwortliche Konzern BP macht unverdrossen weiter mit der Suche nach Rohstoffen in der Tiefsee. Vor Libyen, im Golf von Sidra, sollen fünf Bohrungen nach Öl- und Gasvorräten in den „kommenden Wochen“ stattfinden, die Bohrinsel ist schon vor Ort. Die Wassertiefe beträgt bis 1700 Meter und damit 200 Meter mehr als bei der Katastrophen-Bohrung der Deepwater Horizon. In der EU mehren sich die Stimmen, die solche Bohrungen in der Nähe europäischer Küsten verhindern wollen. Die neue BP-Bohrung liegt nur rund 500 Kilometer von Italien entfernt.
    Energiekommissar Günther Oettinger spricht sich für ein Moratorium aus, bis die Gründe für das US-Desaster endgültig geklärt sind. Nun fangen auch die europäischen Regierungen an, Druck zu machen. Die italienische Umweltministerin Stefania Prestigiacomo plädiert ebenfalls für ein Moratorium, zumindest so lange, bis die 21 Mittelmeer-Anrainerstaaten einen gemeinsamen Standpunkt beim Thema Tiefseebohrungen gefunden haben. Im Fall Libyen kann die EU derzeit nur auf die Einsicht der Beteiligten hoffen. Direkte Möglichkeiten auf BP oder die libysche Regierung einzuwirken, hat sie nicht. Es gibt kein Regelwerk, an das Tripolis sich halten müsste. Dass BP sich offenbar unbeeindruckt zeigt, könnte auch an einem Definitionsproblem liegen. Denn es ist völlig unklar, von welcher Tiefe an, von „Tiefseebohrungen“ gesprochen werden darf. Die einen legen die Schwelle bei 200 bis 250 Meter unter dem Meeresspiegel fest, weil Taucher nur so tief tauchen können, um Fehler manuell zu beheben. WWF-Experte Lutter zum Beispiel hält diese Grenze für sinnvoll. Dagegen nennt die Industrie gelegentlich erst Tiefen unterhalb von mehr als 1000 Metern „Tiefsee“.Längerfristig will die EU ihre Handlungsmöglichkeiten stärken. Sie strebt ein internationales Abkommen zum Schutz der Küsten an.
    Quelle: FR

    Anmerkung Orlando Pascheit: Sehen wir einmal davon ab, dass das Mittelmeer bereits durch Schwermetalle, Organohalogenen, organischen Abfälle und Plastikabfälle bereits schwer belastet ist, so durchschiffen ca. 300 Öltanker täglich das Mittelmeer, in den Ölhäfen kommen 100.000 bis 150.000 Tonnen Öl in das Wasser. Das Mittelmeer weist die höchste Teerkonzentration der Welt auf, 20-mal mehr als im Atlantik. Das Wasser des Mittelmeers wird in einem Zeitraum von etwa 180 Jahren durch den Zufluss vom Atlantik über die Straße von Gibraltar ausgetauscht. Eine Katastrophe wie diejenige im Golf von Mexiko wäre  für das bereits vorbelastete Mittelmeer äußerst bedrohlich. Der Tourismus an der lybischen, aber auch tunesischen, ägyptischen und italienischen Küste wäre für viele Jahre erledigt.
    Haben die EU oder auch einzelne Mitgliedstaaten Möglichkeiten, auf  BP oder die libysche Regierung Druck auszuüben?  Die britische Regierung hat der konsensseligen Europäische Kommission bereits signalisiert, dass sie Oettingers Initiative für überflüssig halte. Und Lybien: Der Chef der National Oil Corporation und frühere Premierminister Shokri M. Ghanem hält die Aufregung über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko für “irgendwie übertrieben”. Besonders hilfreich ist auch nicht, wenn die US-Wetter- und Ozeanbehörde NOAA  und  die US-Regierung im Gefolge bereits jetzt verkünden, dass drei Viertel des ausgeströmten Öls schon verschwunden seien. Es sei verdunstet, aufgelöst und beseitigt. Die Kritik an dieser These wird natürlich in der Propaganda der Ölindustrie und der interessierten US-Regierung untergehen.
    Bei den Probebohrungen in rund 1750 Metern wird der Meeresboden zwar kaum beschädigt, aber ganz anders stellt sich die Situation dar, sobald Öl gefunden wird. Irgendwie erinnert das Ganze an das ‚Weiter-So‘ unserer Banken in der der gegenwärtigen Krise. BP-Sprecher Nicholas klingt irgendwie sehr vertraut: “Wir haben weltweit viele Bohrungen durchgeführt und dort nun zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, darunter eine vollständige Kontrolle der Ölbohrplattform vom Typ “Noble”, die wir nutzen werden.” Es ist schon seltsam. Da sind die Ursachen, die zum Desaster im Golf von Mexiko führten, nicht im Geringsten geklärt, aber BP hat schon das Rezept um solche Katastrophe verhindern. Und Libyen besitzt nach Angaben der UN nicht einmal einen Notfallplan, mit dem einer Ölkatastrophe in der Region begegnet werden könnte. – Da bleiben wohl nur noch Unterwasserkommandos unserer Geheimdienste (Scherz) oder wir als BP-Konsumenten.

  7. Berthold Huber: Kurswechsel für Deutschland
    Diese Krise konnte sich nur vor dem Hintergrund einer Entwicklung vollziehen, die von Colin Crouch als Postdemokratie beschrieben wurde: Die formale Fortexistenz demokratischer Institutionen bei gleichzeitiger Verlagerung der Macht- und Entscheidungszentren in die Hände ökonomischer Eliten, einhergehend mit einer weitreichenden Selbstaufgabe der Politik, die nicht länger willens oder in der Lage ist, im Rahmen demokratischer Willensbildungsprozesse gesellschaftliche Ziele zu bestimmen, also ihrer ureigensten Bestimmung nachzukommen.
    Damit ist klar, wo der Hebel grundsätzlich anzusetzen ist. Die Wiedergewinnung des Primates demokratisch legitimierter Politik ist notwendige Voraussetzung für den Kurswechsel, den ich einfordere.
    Konkret heißt das: Mitbestimmungsrechte in Betrieben und Unternehmen müssen erheblich erweitert, die soziale Selbstverwaltung gestärkt, Elemente direkter Demokratie in Form von Plebisziten oder Bürgerhaushalten auf kommunaler Ebene eingeführt sowie ein gerechtes und leistungsfähiges Bildungssystem endlich umgesetzt werden.
    Was aber sind die inhaltlich-programmatischen Eckpunkte?
    Siehe dazu weiter:
    Quelle: WSI-Mitteilungen [PDF – 214 KB]
  8. Kölner Karlspreis: Rede des Schriftstellers Wolfgang Bittner in Auszügen
    Die Redeauszüge finden sich in dieser Audiodatei von Minute 8:40 bis 16:22
    Quelle: WDR 5 [MP3]
  9. Die Turbo-Schule hat versagt
    Die Turbo-Schule ist eine riesige Black-Box, die Geld, Zeit und Energie vernichtet: Geld der Steuerzahler, die für Unterrichtsstunden löhnen, in denen rein gar nichts mehr läuft, weil Schüler und Lehrer nach der Mittagspause träge im Nachmittagsunterricht dahindämmern. Vernichtet wird die bislang unverplante Zeit der Schüler am Nachmittag, in der diese ihren individuellen Interessen nachgehen und sich abseits von der künstlichen Schulwelt auch mal selbst ein Bild von der wirklichen Welt machen könnten; Zeit der Lehrer, die für Regeneration und Unterrichtsvorbereitung dringend gebraucht würde. Kurz: Die Turbo-Schule ist eine Geldschleuder, die sich sparen könnte, wer Lerneffizienz im Auge hat. Spätestens jetzt – nach den ersten Jahren ihrer Existenz – gehört sie auf den Prüfstand. Denn sie verschleißt – um es in der Sprache ihrer Erfinder auszudrücken – Humankapital.  Bis auf Rheinland-Pfalz, wo das G8 nur an einigen Ganztagsgymnasien realisiert ist, einigten sich alle Länder im Turbo-Tempo auf die Turbo-Schule. Doch was Eltern von G8-Kindern längst beobachtet haben, bestätigt seit Kurzem die empirische Forschung: Der kürzere Weg zum Abitur wird mit einem Qualitätsverlust erkauft. In Sachsen-Anhalt gab es bereits 2007 ein Doppelabitur. Eine Studie des Europäischen Instituts für Wirtschaftsforschung von April, die hier 1500 Abiturienten ins Visier genommen hatte, zeigte: Die Turbo-Abiturienten besaßen deutlich schlechtere Mathematik-Kenntnisse, die weiblichen Absolventen schnitten auch schlechter in Englisch ab.
    Quelle: FR
  10. Sauerland als Sündenbock
    1. Sündenbock Sauerland
      Zehn Tage nach der Loveparade-Katastrophe, nach zehn Tagen öffentlicher Schuldzuweisung ist es Zeit, auf eine Tatsache hinzuweisen: Oberbürgermeister Adolf Sauerland hat sein Verbleiben im Amt verwirkt. Aber alles Böse auf einer Person symbolisch abzuladen, bedeutet nicht Aufklärung, sondern ihr Gegenteil. „Sauerland ist schuld“? Das geht zu weit. Es macht die absolut nachvollziehbare Wut der Opfer zu dem Stoff, aus dem Hetzkampagnen entstehen. Es ist das Gegenteil von Aufklärung, weil es die (möglichen, ja wahrscheinlichen) Fehler anderer hinter dem Sündenbock Sauerland verschwinden lässt. Es personalisiert das Versagen, um jemanden zu haben, den man „in die Wüste schicken“ kann. Was ist eigentlich, wenn Sauerland endlich abgetreten ist? Gehen wir dann zur Tagesordnung über? Lassen wir dann die Opfer, aus deren Wut wir unsere allzu eindeutige Schuldzuweisung gestrickt haben, mit ihrem Bedürfnis nach Aufklärung allein?
      Quelle: FR
    2. Durch solche medialen Darstellungen entsteht Hass
      Der Duisburger Medienethiker Christian Schicha kritisiert die Loveparade-Berichterstattung.
      “Bilder werden häufig missbraucht, um die These eines Artikels zu bestärken. Zum Beispiel zeigte der Spiegel ein Bild des Duisburger Oberbürgermeisters Adolf Sauerland, in dem dieser seine Hände nach oben streckte. Das sollte symbolisieren, dass er sich für unschuldig halte, was er selbst gar nicht gesagt hat. Auch die Bilder von der Pressekonferenz mit Sauerland, anderen Vertretern der Stadt und dem Veranstalter Rainer Schaller wurden immer wieder in Zeitlupe und in Wiederholung gezeigt, um zu demonstrieren: Diese Menschen kamen mit der Situation nicht klar. Da wollten Journalisten ihre Thesen mit Bildern bestätigen. Durch solche medialen Darstellungen entsteht ein regelrechter Hass auf diesen Oberbürgermeister. Er hat sicherlich in der Geschichte keine glückliche Rolle gespielt, aber es sind eine Vielzahl von Akteuren an dieser Loveparade, an der Konzeption und an der Umsetzung beteiligt gewesen. Insofern gibt es eine Vielzahl von möglichen Schuldigen. Durch die mediale Personalisierung reduziert sich das aber und man meint, über eine einzige Person die Verantwortlichkeit feststellen zu können.”
      Quelle: taz
  11. Milliardäre spenden
    1. Reiche retten ihre Seele
      Das neue Gelöbnis einiger amerikanischer Milliardäre, die Hälfte ihres Vermögens zu spenden, ist eine völlig rationale Entscheidung. Auch zugunsten der eigenen Kinder.
      Nun unterhalten viele Superreiche in den USA bereits vielfältige Stiftungen und haben mit der neuen Initiative jetzt nur eine Plattform, um das öffentlich zu machen. Auch können Spenden öffentliche Sozialausgaben nicht ersetzen. Halten die Leute ihre Zusagen ein, könnten mehr als 100 Milliarden Dollar für wohltätige Zwecke zusammenkommen. Die US-Gesundheitsreform kostet ein Vielfaches.
      Es handelt sich für die Superreichen aber letztlich um ein rationales Tauschgeschäft. Denn erstens behalten sie mit den Stiftungen die Zuteilungsmacht über das gespendete Vermögen, das sonst zu einem gut Teil von der Steuer kassiert würde. Die Familien bringen zudem keine spürbaren materiellen Opfer: Die Bloomberg-Erben etwa bleiben reich, denn ein Prozent von 18 Milliarden Dollar sind immer noch 180 Millionen. Die Familie bekommt durch das Spenden einen emotionalen Mehrwert, eine moralische Aufwertung, einen Imagegewinn zurück.
      Quelle: taz
    2. Spenden statt Steuern
      US-Milliardäre wollen einen Teil ihres Vermögens abgeben. Sie könnten es einfach an den Staat überweisen. Doch so weit geht ihr Verständnis vom Gemeinwesen denn doch nicht. (…) Bevor aber nun jemand vor den Spendern in spe auf die Knie fällt, sei angemerkt, dass deren Nachwuchs auch dann noch die Hände in den Schoß legen könnte, wenn er nur ein halbes Prozent des elterlichen Vermögens erben würde. Nach dem jüngsten Reichen-Ranking des Wirtschaftsmagazins Forbes verfügen mehr als 1000 Menschen auf der Welt über ein Vermögen von mehr als einer Milliarde US-Dollar. (…) Vielleicht hat der eine oder andere mal zu Hause durchgerechnet, dass alle Milliardäre zusammen viele Banken-Rettungsprogramme problemlos hätten stemmen können, für die sich Staaten (und damit Gesellschaften) auf lange Jahre verschulden müssen.
      Er hätte es aber nur spaßeshalber durchgerechnet, denn nichts liegt den meisten Reichen dieser Größenordnung ferner, als auch nur einen Teil ihres Besitzes dem Staat zu übereignen, auf dass der damit für höhere Bildung oder bessere Gesundheit sorgen könnte. Gerade dort, wo die Giving-Pledge-Idee geboren wurde, hat Staatsferne Tradition; ehe man dem US-Staat Geld gibt, der damit vielleicht gar ein Museum errichten könnte, baut man lieber selber eins, das dann auch den eigenen Namen tragen kann.
      Vermögende, gern auch solche aus dem Show- und Sportgeschäft, inszenieren sich in ihrer Rolle als großherziger Mensch. Charity Lady ist zu einer Berufs- oder sagen wir mal Tätigkeitsbezeichung für Damen geworden, die glamouröse Galas organisieren, deren zahlende Teilnehmer alsdann eine Seite bei Blättern wie Gala füllen. Diese elitären Treffen könnten auch ohne Anlass stattfinden, werden aber erst geadelt, wenn dabei für arme Negerkinder auch noch was abfällt.
      Eine bevorzugte Art, sich einen Namen zu machen, ist die Stiftung. Mit den Zuwendungen für sie reduzieren viele Reiche zudem just jenen Beitrag für die Allgemeinheit, den sie für eine Zwangsabgabe halten: Steuern. Nicht dass Mäzene nur Projekte aus purer Eitelkeit fördern würden, aber typisch ist eben, dass die Gabe umso großzügiger ausfällt, je stärker der Geber Einfluss auf seine Verwendung nehmen kann. Und nichts liegt ihm ferner, als mehr Geld als unbedingt nötig in jenen großen Topf zu tun, der Haushalt heißt. Da wäre er ja nur ein popeliger Steuerzahler unter vielen. Ein Reicher aber, der viel spenden und wenig Steuern zahlen will, missachtet das Sozialwesen.
      Quelle: FR

      Anmerkung unseres Lesers G.K.: Es ist die “verdammte Pflicht” des Staates, die Bezieher hoher Einkommen und die Besitzer großer Vermögen entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit über eine angemessene Steuer- und Abgabenbelastung zur Finanzierung staatlicher Aufgaben heranzuziehen. Es kann nicht angehen, dass es ins persönliche Ermessen dieses Personenkreises gestellt wird, in welcher Höhe sie für welche “gemeinnützige” Maßnahme ihren finanziellen Beitrag leisten. Die Negativ-Beispiele “Bertelsmann-Stiftung” und “Roland Berger-Stiftung” sollten nicht weiter vervielfältigt werden. Dies auch vor dem Hintergrund, dass unsere Finanz-“Elite” dies zur PR in eigener Sache nutzen wird, indem sie sich auch noch von den Medien (möglicherweise sogar ihren eigenen Medien) oder gesellschaftlichen Organisationen für ihre “Großherzigkeit” über den grünen Klee loben lässt. Siehe hierzu den NachDenkSeiten-Beitrag “Am Geld der Roland Berger Stiftung kleben der Schweiß und das Leid von Millionen Menschen – und amnesty international bildet die Staffage”.

  12. Gläubige müssen bei Papst-Messen Eintritt zahlen
    Zwischen zwölf und 30 Euro kostet die Teilnahme an einer Messe während des Papstbesuches in Großbritannien. Der Vatikan sieht darin eine Beteiligung an den Kosten. Bedürftige kommen dennoch gratis rein.
    Quelle: die Presse.com

    Anmerkung Orlando Pascheit: Jesus ging in den Tempel und fing an, die Händler und jene, die bei ihnen kauften, hinauszutreiben. Er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenverkäufer um. Dabei sagte er: “In der Schrift steht: ‘Mein Haus soll ein Ort des Gebets sein’, aber ihr habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!” (Matthäus 21:12-13)

  13. Alltag in der Schuldenkrise: Griechische Pein
    Sorgenfreier Urlaub in Griechenland war gestern: Auch Anfang August ist die Krise allgegenwärtig, wenn sich die meisten Griechen zehn, zwölf Tage Sommerferien gönnen. Oder auch nur eine Woche – denn viele Familien können sich ein Hotel nicht länger leisten. Und wenn sie ein Ferienhaus haben, wird häufiger zu Hause gegessen und seltener in der Taverne, wie es eigentlich zum griechischen Urlaubsstandard gehört. Das Sparprogramm, das die Regierung Papandreou im Auftrag der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF der Gesellschaft zumutet, trifft die Ärmeren am härtesten. Doch der Sparzwang ist längst auch in der Mittelschicht angekommen. Im Durchschnitt müssen die Beschäftigten im privaten wie im öffentlichen Sektor einen realen Einkommensverlust von 20 Prozent gegenüber dem letzten Sommer hinnehmen.
    das Sparprogramm wird zwar von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als ungerecht empfunden, zugleich aber als unvermeidlich hingenommen. Sogar Aktionen wie der Streik der Lastwagenfahrer werden von vielen Griechen zunehmend kritisch gesehen: als Sumpfblüten jenes Klientelstaats, der für die Misere ihres Landes verantwortlich ist. Allerdings droht zugleich etwas, das für die Regierung genauso gefährlich werden kann wie Massenproteste: Allgemeine Empörung kann in Griechenland rasch in Apathie umschlagen. Das wäre fatal. Denn der Aufbruch, zu dem die Reformen animieren sollen, ist mit resignierten Bürgern nicht zu schaffen. Kein gutes Zeichen daher, dass sich die Zahl derjenigen, die aus Protest nicht mehr zur Urne gehen oder ungültig stimmen wollen, seit Oktober 2009 von acht auf über 30 Prozent erhöht hat.
    Quelle: FTD

    Anmerkung Orlando Pascheit: Hinzuzufügen wäre, dass die Konjunktur unter dem Sparkurs leidet und die Wirtschaftsleistung weiterhin abnimmt. Woher Wachstumsimpulse kommen sollen, um steht in den Sternen. Griechenland hat im ersten Halbjahr das Haushaltsdefizit um 46 Prozent reduziert und IWF, EZB und EU sind voll des Lobes. Bleibt abzuwarten, wie groß der Wirtschaftseinbruch Ende des Jahres ausfällt. Vielleicht werden wir dann erleben, dass die Quote annähernd gleich geblieben ist. Ansonsten von den Kontrolleuren das Übliche: Liberalisierung des  Arbeitsmarktes, Privatisierung von Krankenhäusern, Eisenbahn und Stromgesellschaft.

  14. Pakistans innerer Glaubenskrieg
    Obwohl Pakistan als explizit islamische Nation gegründet wurde, hielt sich dort vielerorts die sufistisch geprägte, tolerante Glaubensform, die vormals Muslime, Hindus und Sikhs geeint hatte. Mehr noch als «westliche» Einflüsse steht diese im Visier der religiösen Fundamentalisten. Im Falle Pakistans hat das Schema des Kulturkampfs zwischen westlicher und islamischer Welt das eigentliche grosse Thema der Landesgeschichte in den Hintergrund der Wahrnehmung gedrängt: die allmähliche Erstickung der regionalen, synkretistischen Kultur durch einen triumphalistischen, globalen Islam, der einen neuen Geist der Rigidität und Intoleranz mit sich bringt. Es ist dieser Krieg – den die Pakistaner wie einen zweiten arabischen Eroberungsfeldzug empfinden –, der unlängst beim Selbstmordanschlag auf den Data-Sahib-Schrein in Lahore, eines der bedeutendsten sufistischen Heiligtümer der Region, 42 Todesopfer und rund 180 Verletzte forderte.
    Quelle: NZZ

    Anmerkung Orlando Pascheit: Ein lesenswerter und trauriger Artikel des britisch-indischen Journalisten Aatish Taseer, der uns darauf hinweist, dass wir viel zu kurz greifen, wenn wir die Probleme Pakistans auf den Gegensatz, westliche Werte versus militanten Islamismus, reduzieren.

  15. Herr Sotobayashi bricht sein Schweigen
    Seine Familie bat ihn: Sprich nicht, du schadest uns! Und er hielt sich daran, sechs Jahrzehnte lang. Doch weil er sieht, dass die Welt nichts lernt aus Katastrophen, redet er nun, erzählt vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und wie er überlebte.
    Quelle: Tagesspiegel
  16. Charta der Heimatvertriebenen: Ein wahres deutsches Wunder
    Vor sechzig Jahren wurde die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verkündet. Fünf Jahre nach dem Krieg dachten die Deutschen aus dem Osten nicht an Rache. Sie hofften auf eine baldige Rückkehr in die Heimat – was jedoch nur selten gelang. In Stuttgart schrieben die Vertreter der Vertriebenen „als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas“ etwas fest, das durchaus nicht selbstverständlich war und ist: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“ Und: „Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.“
    Quelle: FAZ

    Anmerkung Orlando Pascheit: Mehr als nachdenklich kann es den Leser stimmen, wenn die Zeitung der “klugen Köpfe” diesen Gedenktag würdigt, ohne auf die Debatte einzugehen, die die Entsendung zweier Mitglieder des Bundes der Vertriebenen (BdV) als stellvertretenden Mitglieder der Stiftung ‘Flucht, Vertreibung, Versöhnung’ ausgelöst hatten, die mit höchst zweifelhaften Äußerungen wenig Versöhnliches vermittelten. So meinte Arnold Tölg 2000 in einem Interview  u.a., dass die ehemaligen Zwangsarbeiter  des NS- Regimes “Entschädigungsleistungen gigantischer Art” erhalten hätten und:  “Gerade die Länder, die am massivsten Forderungen gegen uns richten, haben genügend Dreck am Stecken, weil sie Hunderttausende deutscher Zwangsarbeiter in zahllosen Lagern hatten.” Quasi offiziellen Charakter erhielten solche Äußerungen durch die Vertriebenen-Chefin Erika Steinbach unlängst in einem Interview im Deutschlandfunk mit der seltsamen Aussage: “Die, die Verfolgte gewesen sind im Nationalsozialismus, die waren in dieser Situation dann auch materiell besser dran als die Vertriebenen.”
    Was sollen Leute wie Tölg in einem Versöhnungswerk, wenn sie die deutsche Verantwortung nicht akzeptieren können, ohne diese wieder einer Revision zu unterziehen:
    “Da bin ich der Meinung, dass der Krieg natürlich – der von Hitler ausgelöste Krieg – den Ländern, die die Deutschen vertrieben haben, eine Chance gegeben hat, die Deutschen loszuwerden. Es war ja ein von Polen und auch teilweise Tschechien, ein langfristiger Plan, schon 1848 wollte man die Linie Stettin-Triest herstellen. Also, da sind Dinge zusammengekommen: Auf der einen Seite war das der Krieg Hitlers, der Schreckliches in diesen Ländern angerichtet hat; auf der anderen Seite kam es auch der polnischen und wohl auch tschechischen Politik entgegen, siehe Londoner Exilregierung, die sich intensiv darum bemüht hat, die deutschen Ostgebiete in die Hand zu bekommen, sodass hier durchaus auch Schuld auf der anderen Seite zu sehen ist.”
    Ähnlich der zweite Vertreter des BdV, Hartmut Saenger: “Der historische Kontext zum Sommer 1939 weist bei allen europäischen Großmächten eine erstaunliche Bereitschaft zum Krieg aus, um staatliche Ziele durchzusetzen oder Bedrohungen durch Bündnisse abzuwehren.” Auch diese Äußerung erhält durch Frau Steinbach auf der Website des Vertriebenenbundes die höheren Weihen: “Seine sehr knappe Darstellung ist korrekt. Um das festzustellen, muss man weder in polnischen noch deutschen Archiven graben. Der dargestellte Sachverhalt gehört zum Grundwissen eines jeden Zeithistorikers.”
    Die Besetzung des Stiftungsrats und die Reaktionen auf die Debatte seitens des BdV stellen nicht nur die Stiftung in Frage, sondern drängen dem heutigen Zeitgenossen die Frage auf, warum die Politik und Teile der Medien um die Charta der Heimatvertriebenen ein solchen Aufwand betreiben. Die Charta kann nur als Zeitdokument eine Gültigkeit haben und hätte schon längst durch den BdV auf eine neue Grundlage gestellt werden müssen. Dass der BdV dazu nicht bereit ist, zeigt das Interview von Frau Steinbach, in dem sie den  Verzicht auf “Rache und Vergeltung” immer noch als Großtat verteidigt. Micha Brumlik hat dazu in der taz hellsichtig ausgeführt: “Verzichten – feierlich dazu – kann man nämlich nur auf etwas, was einem legitimerweise zusteht; dass es so etwas wie ein moralisches Recht auf Rache und Revanche gibt, haben noch nicht einmal die kühnsten Philosophen behauptet; bestenfalls ließe sich sagen, dass entsprechende Gelüste verständlich und entschuldbar sind. Verzichten kann man auf sie nicht, man kann sie sich allenfalls untersagen.
    Es wird Zeit, dass zu solchen Gedenktagen keine Spitzenpolitiker geschickt werden, die Frau Steinbach gar zu einem nationalen Gedenktag erheben möchte. Wähler wird es da kaum zu gewinnen geben, oder vielleicht doch? Sollten Politik und Medien tatsächlich auf die einen unterschwelligen Geschichtsrevisionismus setzen?

    Siehe dazu auch noch einmal:

    Otto Köhler: Der Bund der Vertriebenen sucht seine Vergangenheit
    Quelle: DLF

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