Die Zukunft der Briefwahl

Die Zukunft der Briefwahl

Die Zukunft der Briefwahl

Jörg Phil Friedrich
Ein Artikel von Jörg Phil Friedrich

Die Zunahme derer, die sich für die Briefwahl entscheiden, wird von Parteien und Kommentatoren fast wie ein Schicksal hingenommen. Weder wird gefragt, warum immer mehr Menschen die Briefwahl der Abstimmung im Wahllokal vorziehen, noch wird über die Konsequenzen dieser Entwicklung nachgedacht. So kann Briefwahl den Stimmungswahlkampf anfachen, sie schränkt das Wahlgeheimnis ein und sie ist anfällig für Vorwürfe der Manipulation. Von Jörg Phil Friedrich.

Der Anteil der Briefwähler bei Bundestagswahlen nimmt in Deutschland seit Jahrzehnten zu. In diesem Jahr dürfte er – genaue Zahlen liegen noch nicht vor – bei rund 40% gelegen haben. Das ist ein enormer Anstieg gegenüber früheren Wahlen, zuletzt lag der Anteil der Briefwahlstimmen bei knapp 29% und hatte sich von Wahl zu Wahl um 3-4% erhöht.

Auch wenn der sprunghafte Anstieg mit der Corona-Pandemie erklärt wird, scheint es dringend nötig, sich mit der Zukunft der Briefwahl zu beschäftigen. Derzeit wird die Zunahme derer, die am Wahlsonntag lieber zu Hause bleiben und stattdessen auf dem Postweg ihre Stimme abgeben, von politischen Parteien und öffentlichen Kommentatoren eher wie ein Schicksal hingenommen. Weder wird gefragt, warum immer mehr Menschen die Briefwahl der Abstimmung im Wahllokal vorziehen, noch wird über die Konsequenzen dieser Entwicklung nachgedacht.

Briefwahl unterstützt den Stimmungswahlkampf

Einige Parteien scheinen die Briefwahl als Möglichkeit für sich entdeckt zu haben, den eigenen Stimmanteil zu erhöhen. Das Kalkül dahinter könnte sein, die Wählenden in dem Moment zur Stimmabgabe zu motivieren, in dem die Stimmung gerade günstig ist: Die eigene Kandidatin ist womöglich gerade mit einem guten Auftritt in den Medien aufgefallen – wer sich jetzt spontan dafür entscheidet, diese Kandidatin zu wählen, hat später keine Möglichkeit mehr, bei schlechteren Nachrichten oder vielleicht einfach durch weiteres Nachdenken die Sache noch mal anders zu entscheiden. Man holt die Leute ab, wenn sie gerade Sympathien entwickeln. Das funktioniert natürlich nur für die Parteien, die mit ihrem Spitzenpersonal gut in den großen Medien vertreten sind. Das dürfte der Grund sein, warum gerade Grüne und FDP auf ihren Großplakaten massiv für die Briefwahl geworben haben: man wirkt irgendwie modern und hofft auf die spontane Entscheidung im günstigen Moment.

Damit ist aber schon ein Grund genannt, der gegen die Briefwahl spricht: Sie unterstützt den Stimmungswahlkampf, der sich an diejenigen wendet, die sich eigentlich nicht intensiv mit Programmen beschäftigen, die nicht lange nachdenken wollen, sondern die lieber aus einer Laune, einer Stimmung heraus entscheiden und dann froh sind, mit der Sache durch zu sein und sich nicht weiter Gedanken machen zu müssen.

Anfällig gegen den Vorwurf der Manipulation

Es gibt weitere, gravierende Gründe, die gegen die Briefwahl sprechen. Man muss bedenken, dass das Vertrauen in das Wahlverfahren darin begründet ist, dass es im Prinzip durch jeden, der zweifelt, überwacht werden kann. Dazu muss es so weit, wie es irgendwie geht, simpel und transparent sein. Das ist auch der wichtigste Grund, der gegen elektronische oder gar Online-Wahlen spricht. Jedes Verfahren, das nicht weitgehend durch unmittelbare Beobachtung geprüft werden kann, ist anfällig gegen den Vorwurf, dass manipuliert wird. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob dieser Vorwurf plausibel oder rational begründbar ist oder ob er auf einer aberwitzigen, absurden und abwegigen Verschwörungstheorie beruht.

Die einzige Möglichkeit, gegen jeden Zweifel weitgehend sicher zu sein, ist, das Wahlverfahren mit einfachsten, über Generationen etablierten Kulturtechniken durchzuführen – und das ist letztlich einzig die Wahl im Wahllokal, mit Wahlkabine, Papier und Stift, mit einer Wahlurne, die direkt nach der Schließung des Wahllokals durch ehrenamtliche Wahlvorstände geöffnet wird, die das Ergebnis auszählen und weitergeben. Natürlich gibt es da immer noch Möglichkeiten der Manipulation, aber die Briefwahl schafft für die, die zweifeln wollen und skeptisch gegenüber den Institutionen sind, weit mehr Ansatzpunkte.

Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie groß der Zweifel an der Briefwahl gegenwärtig ist, wenn erst die Mehrzahl der Stimmen per Post eingeht, ist es zu spät, um einem solchen Zweifel zu begegnen. Die Diskussionen um die Sicherheit der Briefwahl werden die Gesellschaft weiter spalten, wieder werden die, die den Institutionen prinzipiell unkritisch gegenüberstehen, denen, die zweifeln, Verschwörungsdenken unterstellen, so wie umgekehrt die Zweifler sich über die Staatsgläubigkeit der Briefwahl-Sympathisanten empören werden. Dem kann nur begegnet werden, indem man heute einen Konsens dafür findet, dass die Briefwahl eher als Ausnahme denn als Regel anzusehen ist.

Briefwahl ist keine geheime Wahl

Die Briefwahl hat weitere Schwächen, das ist bekannt. Gerade, wenn man über eine weitere Absenkung des Wahlalters nachdenkt, muss man ehrlicherweise auch sagen, dass die Briefwahl eben keine geheime Wahl ist – wer innerhalb einer Familie entscheidet, wo die Kreuze gemacht werden, kann bei der Briefwahl nicht kontrolliert werden. Bei der Präsenzwahl ist jede wahlberechtigte Person mit ihrer Entscheidung am Ende allein, egal, ob sie eine Jugendliche, ein abhängiger Ehepartner oder ein dementes Elternteil ist. Anzunehmen ist, dass die Briefwahl Vorurteile gegenüber Teilen der Bevölkerung, die sich durch starke familiäre Strukturen auszeichnen, vergrößern werden.

Schließlich ist der Wahlsonntag auch ein Ritual der Demokratie, eine öffentliche Demonstration der Teilnahme am demokratischen Verfahren. Durch den Gang zum Wahllokal und die Begegnung mit anderen Wählenden, indem man also dem Prozess der demokratischen Willensbildung physisch begegnet, wird Partizipation erlebbar, man erlebt nicht nur die eigene Stimmabgabe, sondern die Wahl als Prozess, an dem tatsächlich alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen beteiligt sind.

Wenn erst die Briefwahl der Normalfall ist, ist es zu spät

Es spricht vieles gegen die Briefwahl als normales Wahlverfahren, und vieles spricht dafür, die Präsenzwahl zu stärken. Natürlich muss allen, die wahlberechtigt sind, die Chance zur Beteiligung gegeben werden, aber dafür gibt es genügend Optionen jenseits der Briefwahl. Die Präsenzwahl im Wahlbüro in den Wochen vor der Wahl kommt der Wahl am Wahlsonntag noch am nächsten und sollte als zusätzliche Option ausreichen.

Gegen die Briefwahl zu argumentieren, scheint gegenwärtig an Don Quichote zu erinnern, der gegen Windmühlenflügel zu kämpfen versuchte. Dennoch sollte die Diskussion wenigstens versucht werden. Wenn erst die Briefwahl der Normalfall ist und Zweifel an dem Verfahren um sich greifen – ob berechtigt oder nicht, kann dahingestellt bleiben – ist es zu spät.

Titelbild: Bihlmayer Fotografie/shutterstock.com

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