Wie viel psychologische Steuerung verträgt eine Demokratie? Die Debatte um Nudging reißt nicht ab

Wie viel psychologische Steuerung verträgt eine Demokratie? Die Debatte um Nudging reißt nicht ab

Wie viel psychologische Steuerung verträgt eine Demokratie? Die Debatte um Nudging reißt nicht ab

Jonas Tögel
Ein Artikel von Jonas Tögel

Das vermeintlich neue Konzept basiert auf grundlegenden Erkenntnissen der psychologischen Forschung. Spätestens seit der Tiefenpsychologe Sigmund Freud vor mehr als einhundert Jahren seine Theorien über das menschliche Unbewusste aufstellte, wissen wir, dass wir Menschen keine rein rationalen Wesen sind. Wir sind vielmehr von unserem Unbewussten, von Gefühlen, Trieben und Motiven beherrscht, die wir selbst oft nicht bewusst wahrnehmen. Das weiß die psychologische Forschung zwar schon sehr lange, doch es schien ein fast revolutionäres Konzept, als im Jahr 2008 zwei amerikanische Forscher die Idee des „Nudgings“ vorstellten, welche endlich den richtigen Umgang mit unseren menschlichen ‚Schwächen‘ und den irrationalen Entscheidungen, die Menschen gerne treffen, versprach. Von Jonas Tögel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Thaler und Sunstein, zwei Professoren für Wirtschafts- sowie Rechtswissenschaften, argumentierten in ihrem Bestseller „Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt“ ebenso geschickt wie auf den ersten Blick schlüssig: Man müsse sich endlich eingestehen, dass Menschen keine rationalen Wesen seien, sondern eine Vielzahl von Fehlern in ihren Entscheidungsprozessen machen. Der Grund dafür sei, dass es bei jeder Entscheidung eine sogenannte „Entscheidungsarchitektur“ gebe, also eine oft zufällig vorhandene Umwelt und Mitmenschen, welche einen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten hätten. Doch anstatt diese Entscheidungsarchitektur dem Zufall zu überlassen, müssten vielmehr verantwortungsbewusste „Entscheidungsarchitekten“ (also zum Beispiel Politiker) ihre Verantwortung für die fehlgeleitete Bevölkerung wahrnehmen und die Entscheidungsarchitektur der Menschen mit kleinen, unbewussten psychologischen „Schubsern“ (sogenannten Nudges) so gestalten, dass die Menschen sich für das „Richtige“ entscheiden würden. Dieses Konzept wird als „libertärer Paternalismus“ bezeichnet. Wenn Menschen beispielsweise nicht die „richtige“ Entscheidung treffen, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen, dann haben neue Studien zu Nudging eine ganze Menge unbewusste ‚Schubser‘ parat (wie beispielsweise Belohnungen für Geimpfte oder die sogenannte 2G-Regel), um die Menschen zu einer Corona-Impfung zu nudgen.

Vom Bestseller zum politischen Programm: Weltweit entstehen Hunderte Nudge-Einheiten

Das Buch wurde ein voller Erfolg und verkaufte sich weltweit über zwei Millionen Mal, die Autoren selbst wurden mit dem Nobelpreis sowie dem Holbergpreis geehrt. Doch nicht nur das Buch war erfolgreich, die Idee des Nudgings wurde seither zu einem politischen Konzept, das in weit mehr Bereichen unserer Gesellschaft präsent ist, als man zunächst vermutet. Ein Beleg dafür sind die über 400 sogenannten Nudge-Einheiten, also Teams von Spezialisten der Verhaltensökonomie zur unbewussten Lenkung der Gedanken, Gefühle sowie des Verhaltens der Bevölkerung, die seit 2008 weltweit entstanden sind.

Der Erfolg gibt den Autoren offenbar recht, und doch reißt die Debatte um die umstrittene psychologische Steuerung durch Regierungen und private Unternehmen sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch innerhalb der Wissenschaft nicht ab.

Während überzeugte Vertreter wie Thaler und Sunstein stets betonen, nur dann zu nudgen, wenn man die Menschen zu Entscheidungen bringt, die sie ohnehin eigentlich selbst treffen würden und die nur zu ihrem eigenen Vorteil sind (und nicht zum Vorteil derjenigen, welche die Nudges erteilen), so räumen sie doch in der Neuauflage ihres Buches vom Jahr 2021 ein, dass auch weniger selbstlos eingestellte Akteure die psychologische Steuerung für sich entdecken und missbrauchen könnten. Kritiker führen jedoch nicht nur den Missbrauch allein an. Was sind also die Argumente derjenigen, die in Nudging einen „Anschlag auf die Freiheit“ sehen?

Die Kritik an Nudging

Zunächst stellt sich die Frage, ob Nudging tatsächlich immer nur zum Besten der beeinflussten Personen angewandt wird. Wie wohlwollend und selbstlos („oder auch nicht so [wohlwollend]“) sind die „Paternalisten“, und kann es eine unbemerkte Machtausübung nur zum Wohle der Machtunterworfenen tatsächlich geben?

Ein weiterer Punkt, der bisweilen auch auf hohem wissenschaftlichem Niveau diskutiert wurde, betrifft die Schwachstellen der Entscheidungsträger: Wenn Nudging nur deshalb so erfolgreich ist, weil Menschen öfter irrational entscheiden und von ihrem Unbewussten beeinflusst werden, als diese sich das selbst einzugestehen in der Lage sind, wie ist es dann um das Unbewusste und Irrationale derjenigen bestellt, welche die Nudgingtechniken anwenden?

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass eine sachliche Debatte beim Nudging oft nicht stattfindet und vielmehr bestimmte Sachfragen als gegeben vorausgesetzt werden. So gelten beispielsweise eher alltägliche Dinge wie eine richtige Mülltrennung als ebenso unumstritten wie fundamentale Entscheidungen, beispielsweise bezüglich der Wirksamkeit von Corona-Impfungen, der Notwendigkeit der Lockdowns während der Pandemie oder bezüglich des Nutzens einer CO2-Reduktion für das Klima. Da diese Sachfragen ohne eine große Diskussion als eindeutig und bereits entschieden dargestellt werden, geht es bei der aktuellen Forschung zum Nudging oft nur noch darum, die psychologischen Techniken zu erforschen, mit denen die Menschen in die „richtige“ Richtung geschubst werden können.

Während der Ökonom Friedrich Hayek dieses übertriebene Selbstbewusstsein bei seinen Kollegen hinsichtlich gesellschaftlich so wichtiger Sachfragen als „Anmaßung“ bezeichnet, bleibt die Frage, ob das Machtinstrument des Nudgings selbst innerhalb einer demokratischen Gesellschaft nicht ebenfalls anmaßend ist. Wer entscheidet über den Einsatz und die jeweilige Richtung von Nudging? Und wodurch sind solche Entscheidungen über eine hocheffiziente, oft unbemerkt stattfindende psychologische Steuerung demokratisch legitimiert? Dass Nudging eine Form von Machtausübung darstellt, die unter den Bereich der sogenannten Soft Power fällt, ist unstrittig. Doch bis jetzt ist aus demokratischer Perspektive nicht geklärt, wodurch sich eine Umgehung des von Hannah Ahrendt oder Jürgen Habermas skizzierten „öffentlichen Raumes“, also eines Austauschs von Sachargumenten, zugunsten psychologischer Steuerungstechniken rechtfertigen ließe.

Ein letzter Kritikpunkt schließlich ergibt sich aus den Extremformen, welche die Nudging-Praxis in ihrer kurzen Geschichte schon hervorgebracht hat, auch und vor allem während der Corona-Pandemie: Dazu zählen ein sogenanntes „Panikpapier“ des deutschen Innenministeriums, in dem unter anderem vorgeschlagen wurde, Kindern gezielt Angst zu machen, um sie und ihre Eltern zum Einhalten der Maßnahmen zu bewegen. Es überrascht nicht, dass Ängste und Depressionen gerade bei Kindern und Jugendlichen während er Pandemie massiv zunahmen.

Aus all diesen Gründen reißt die Debatte um Nudging bis heute nicht ab, und es ist verwunderlich, mit welcher Selbstverständlichkeit psychologische Steuerungstechniken heute bereits in die unterschiedlichsten Bereiche unserer Gesellschaft vordringen.

Titelbild: eamesBot/shuttestock.com

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