„Plan Motorsäge” – Vorwahlen in Argentinien erzeugen politisches Erdbeben

„Plan Motorsäge” – Vorwahlen in Argentinien erzeugen politisches Erdbeben

„Plan Motorsäge” – Vorwahlen in Argentinien erzeugen politisches Erdbeben

Ein Artikel von amerika21

Bei den PASO-Vorwahlen (Primarias, abiertas, simultáneas y obligatorias) in Argentinien hat der „libertäre” Rechtspopulist Javier Milei, der sich selbst als „Anarcho-Kapitalisten“ bezeichnet, überraschend die meisten Stimmen auf sich vereinigen können. Er erreichte einen Stimmanteil von rund 30 Prozent (7,11 Millionen Stimmen) und setzte sich in 16 von 24 Provinzen durch. Auf den zweiten Platz kam die ehemalige Sicherheitsministerin Patricia Bullrich von der konservativen Opposition „Juntos por el Cambio” (JxC) des früheren neoliberal ausgerichteten Präsidenten Mauricio Macri. Die von der peronistischen Partei (PJ) geführte Regierungskoalition „Unión por la Patria” (UxP) kam mit ihrem Kandidaten, dem aktuellen Wirtschaftsminister Sergio Massa, auf knapp 27 Prozent, ihr seit Jahrzehnten schlechtestes Ergebnis. Von Stephan Hollensteiner.

Die PASO-Vorwahlen wurden 2009 unter der damaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) zur „Demokratisierung der politischen Repräsentation und zur Transparenz bei Wahlen” eingeführt. Ihre Ergebnisse entscheiden zum einen, welche Parteien oder Bündnisse landesweit mehr als 1,5 Prozent Stimmenanteil erhalten und so zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zugelassen werden. Zum anderen, welche der innerhalb der Parteienbündnisse konkurrierenden Kandidatenlisten für das jeweilige Bündnis antreten wird.

Die Wähler können unabhängig von einer Parteizugehörigkeit für Kandidaten jeder Partei stimmen, haben aber nur eine Stimme. Es besteht Wahlpflicht, gegen die bei den PASO-Vorwahlen aber häufiger verstoßen wird. Deshalb wird ihr Ergebnis nicht nur als allgemeiner Stimmungstest, sondern auch als Indiz für das Mobilisierungspotenzial von Parteien und Kandidaten betrachtet.

Mileis Sieg hat national und international für Aufsehen gesorgt. Argentinische Meinungsforschungsinstitute hatten ihn mit 19-20 Prozent Stimmenanteil hinter Massa und Bullrich gesehen. Für den Wahlsoziologen Jerónimo Pinedo ist „ein neues wirtschaftliches und politisches Szenario” entstanden. Gespiegelt würden die gewachsenen Krisenphänomene wie eine ideologische Spaltung und die anhaltende Rezession mit hoher Inflation und Auslandsschulden.

Der 1970 geborene Milei bezeichnet sich selbst als „Anarcho-Kapitalist”, der gegen den Staat und die etablierten politischen Kräfte ist und eine Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft vertritt. Aus armen Verhältnissen stammend, war er nach seinem Ökonomiestudium in der Versicherungs- und Finanzindustrie sowie in reichen Unternehmerkreisen tätig. Nachdem er Mitte 2021 das libertär-ultrarechte Parteienbündnis „La Libertad Avanza” (Die Freiheit schreitet voran) gegründet hatte, wurde er im November 2021 in das Abgeordnetenhaus gewählt. Sein Stimmenanteil war in den von Armut betroffenen Stadtvierteln überdurchschnittlich.

Milei bezeichnete die etablierten Akteure der argentinischen Politik wiederholt als „parasitäre und korrupte Kaste”, die Staat und Bevölkerung ausnehmen würde. Er tritt für einen „minimalen Staat” ein, der sich allein um Sicherheit und Justiz kümmern soll. Damit würden die Kosten für die Politik und das Staatsdefizit Argentiniens reduziert. Die Idee von sozialer Gerechtigkeit bzw. Sozialstaat bezeichnet er als „Verirrung”.

Milei ist gegen Abtreibung und negiert den Klimawandel, er ist für „freie Liebe” und freien Waffenbesitz, für gleichgeschlechtliche Ehe, freie Geschlechtswahl und die Legalisierung von Drogen. Er sei katholisch, aber bereit für den Übertritt zum Judentum; Papst Franziskus verkörpere den Kommunismus. „Leben, Freiheit und Eigentum” sind laut Medienberichten die Leitlinien seines Denkens. Milei zeigt gerne seine Affinität mit Ultrarechten des Kontinents, außerhalb Lateinamerikas hat er sich vor allem der spanischen Partei VOX genähert, die zu den ersten Gratulanten gehörten.

Für den Fall seines Wahlsiegs im Oktober hat er einen „Plan Motorsäge” angekündigt, der Einschnitte bei staatlichen Institutionen in Höhe von 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorsieht. Rund ein Dutzend Ministerien sollen aufgelöst werden, nur die Ressorts für Verteidigung, Justiz, Wirtschaft, Außenbeziehungen, Infrastruktur und Inneres sowie ein neues Ministerium für „Menschliches Kapital”, das die bisherigen Ressorts für Arbeit, Bildung, Gesundheit und Soziales vereinigen soll, würden bestehen bleiben.

Auch die staatlichen Förderorganisationen für Kultur, Film und Wissenschaft sowie die staatlichen Fernsehsender, die Milei als „unproduktiv, peronistisch unterwandert und voller Privilegien” ansieht, sollen geschlossen werden.

Zudem will Milei den Steuer- und Finanzausgleich zwischen der Zentralregierung, den Provinzen und der Hauptstadt Buenos Aires abschaffen. Das seit 1994 zum Verfassungsrang erhobene System ermöglicht es den Provinzen mit geringerer Wirtschaftskraft und entsprechend niedrigeren Steuereinnahmen, ihre Ausgaben für Bildung und Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten. Regionen wie Salta, Jujuy und Mendoza, in denen Milei mit 40 bis 49 Prozent seine besten Ergebnisse erzielte, würden von diesen Plan stark betroffen sein.

Mileis Ideen scheinen bei vielen von den traditionellen Akteuren in Staat, Politik und Wirtschaft enttäuschten Argentiniern gut anzukommen. Beobachter fragen jetzt, ob die Zustimmung eher spontaner Protest oder anhaltendes Votum ist. Ein bei den Präsidentschaftswahlen siegreicher Milei würde die politische Landschaft Argentiniens dramatisch verändern.

Allerdings wiesen frühere Wahlergebnisse große Unterscheide zu den Vorwahlen auf. Auch lag jetzt die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als bei den Vorwahlen im August 2019, die der danach ins Amt gewählte amtierende Fernández gewonnen hatte. Dessen Amtsvorgänger Macri war bei den Vorwahlen von 2015 nur auf Rang zwei gelandet, hatte den Urnengang im Oktober aber gewonnen. Er setzte sich gegen den peronistischen Kandidaten durch, der die Vorwahlen gewonnen hatte.

Das Regierungsbündnis bemüht sich nun, Einheit um seinen Kandidaten Massa zu demonstrieren. Dieser zeigte sich kämpferisch:

„Wir haben 60 Tage für die Wende, also um die zu gewinnen, die für den Hass gestimmt haben.”

Um das Ergebnis drehen zu können, hoffen die Peronisten auf die Mobilisierung ihrer bisher nicht zur Wahl gegangenen Wähler. Dies soll vor allem in der mit großem Abstand bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires geschehen, wo die PJ deutlich vor Milei lag, aber auch unabhängige linke Listen rund vier Prozent erreichten. Da in der Provinz die Wahlbeteiligung unter dem Durchschnitt lag, besteht in UxP-Sicht noch weiteres Mobilisierungspotenzial.

Angesichts der Einschätzung, dass Mileis Sieg eine „Gefahr für das demokratische System” darstellen würde, plädieren wichtige PJ-Politiker dafür, das UxP-Bündnis um kleinere Mitte-Links-Parteien zu erweitern. Agustín Rossi, Kabinettschef des aktuellen Präsidenten und Kandidat für das Vizepräsidentenamt, sprach sich bei einem Wahlsieg für die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit” aus.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Amerika21.

Titelbild: Der Sieger der Vorwahlen Javier Milei (an der Seite der US-Fahne) zu Besuch beim US-Botschafter in Argentinien, Marc Stanley – Quelle: @USAmbassadorARG

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Länderberichte Wahlen

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