Wertegeplapper und die Entwertung von Werten

Wertegeplapper und die Entwertung von Werten

Wertegeplapper und die Entwertung von Werten

Ein Artikel von Rüdiger H. Jung

Vor dreizehneinhalb Jahren überschrieb der Autor dieses Beitrags einen in der Koblenzer Rhein-Zeitung erschienenen Artikel „Elite im Raumschiff entrückt?“ noch mit einem Fragezeichen. Anlass für die Sorge, dass die Führungselite in unserem Land die Bodenhaftung verloren hat, war das drastisch schwindende Vertrauen der Bürger in die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, belegt in einer damaligen Studie der Bertelsmann-Stiftung. „Raus aus dem Raumschiff und rein in die ergebnisoffene Diskussion mit den Bürgern. Diesen Mut dürfen wir Bürger von den Politikern erwarten.“ Das war die Empfehlung des damaligen Artikels. Von Rüdiger H. Jung.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Was ist seither passiert? Um es gleich vorwegzunehmen: Die vermeintliche Elite hat sich ein größeres Raumschiff zugelegt, ein paar Lobbyisten und Inszenierungsexperten als zusätzliche Passagiere aufgenommen und sich weiter denn je von der Gesellschaft entfernt. Statt in einem offenen Diskurs mit den Bürgern gemeinsame Wertorientierungen auszuloten und dazu passendes Handeln zu entwickeln, wird dem staunenden, irritierten, enttäuschten, auch zornigen Bürger ein politisches Handeln präsentiert, das wenig mit Werterealisierung und mehr mit Werteentwertung zu tun hat. Das permanente Geplapper von der werteorientierten Außen-, Sicherheits-, Umwelt- und sonstigen Politik ist ein untrüglicher Indikator für eine tatsächliche Wertemissachtung. Es erinnert an die jedem Psychotherapeuten bekannte Situation mit Patienten, die sich in voller Überzeugung ihres wertvollen Handelns mit zerstörerischem Eifer und Tunnelblick in eine letztlich entwertende Übertreibung manövriert haben.

Einer komplexen Wirklichkeit kann man nicht dadurch gerecht werden, dass man sie auf eine Wirkgröße reduziert und darauf alles Handeln ausrichtet. Gepaart mit einer Angst einflößenden Erzählung, die dem Bürger den Blick auf die komplexere Wirklichkeit austreiben soll, führt dies auf Dauer zu einem pathologischen Zustand des Gemeinwesens. Nur zu gut ist uns dies aus der Zeit der Corona-Maßnahmen in Erinnerung. Wer hätte sie nicht in Erinnerung, die in hektischer Folge verkündeten R-Werte, Inzidenz- und Todeszahlen. Der Wert der Gesundheit mutierte zur Psychosenproduktion, wie Krankenkassendaten und überfüllte psychotherapeutische Praxen belegen.

Werteentwertung auch beim Umgang mit der sich lange abzeichnenden Veränderung des globalen Klimas. Der Wert eines pfleglichen Umgangs mit der Schöpfung, vor etwa einem halben Jahrhundert von Herbert Gruhl mit seinem Buch „Ein Planet wird geplündert“ eindrucksvoll angemahnt, wird reduziert per Fokussierung auf eine technische Größe (CO2), um im Schatten dieses engen Lichtkegels riesige Waldflächen abzuholzen, die globale Ausbeutung von seltenen Metallen voranzutreiben oder mit hochgiftigen Verfahren sogenanntes Fracking-Gas verfügbar zu machen. Bei alledem wird die biologische Diversität, das vielleicht am meisten zu bewundernde Ergebnis der Schöpfung, mit Füßen getreten. Mehr Pervertierung und Entwertung von Werten geht kaum.

Wie steht es um die Werte von Humanität und menschlicher Würde mit Blick auf die menschliche Tragödie in der Ukraine? Jahrelang versagt die gesamte europäische Politik angesichts des Bürgerkriegs in diesem Land. Nun, nach der russischen Invasion, ist in den Köpfen und Handlungen unserer Politiker und ihrer militärischen Berater ein bellizistisches Treiben zur allein gültigen Haltung geworden. Es hat den Anschein einer „totalen Mobilmachung der spätberufenen Ungedienten“, so der Philosoph und Historiker Jürgen Große. Wer in Reden oder mit einer Friedensfahne auf der Straße die Beendigung der Kriegshandlungen fordert, läuft paradoxerweise Gefahr, als Aggressorunterstützer diffamiert und ausgegrenzt zu werden.

Offiziell erwünscht sind Zeichen eines „richtigen“ Bekenntnisses: Regenbogenfahne statt republikanischer Trikolore, die blau-gelbe Flagge der westlichen Wertegemeinschaft statt weißer Taube auf blauem Grund, unaussprechliche Sonderzeichen für Gendergerechtigkeit statt lesbarer Texte. Aus ursprünglich wertvollen zivilisatorischen Anliegen wird entwertende Übertreibung. Wer nicht mitmacht, macht sich verdächtig.

Die politische Umdeutung von Werten, wenn Angst Verantwortung und Unselbständigkeit Solidarität genannt wird, hat einst Dietrich Bonhoeffer in seinen Überlegungen zur christlichen Ethik als „frivoles Spiel“ und „frechsten Zynismus biedermännisch betreuender Fürsorglichkeit“ entlarvt. Der Bürger spürt die oberflächliche Umetikettierung und substanzielle Aushöhlung zentraler Werte und bleibt doch erstaunlich geduldig. Noch funktioniert im deutschen „Obrigkeitsstaat“ der Dreiklang aus „Aktionismus, Hysterie und Publikumsbeschimpfung“ – so die ansonsten nicht zu drastischer Bewertung neigende ‚Neue Zürcher Zeitung (NZZ)‘. Aber der Glaube, mit Stigmatisierung und Verboten Akzeptanz auf Dauer erzwingen zu können, ist trügerisch. So zu handeln, ist verantwortungslos. Die Werte von Wahrhaftigkeit, Aufklärung und Demokratie werden auf diese Weise ebenfalls entwertet. Vielleicht ist die Situation bereits so verfahren, dass ein kurzfristiger Wiedergewinn von Vertrauen unrealistisch ist. Dann bleibt für die derzeitigen Amtsträger dennoch die Pflicht, ihren Nachfolgern nicht eine Gesellschaft auf dem Tiefpunkt des Vertrauens in die Führungseliten des Landes zu übergeben. Schließlich muss auch die Besatzung des Raumschiffs irgendwann einmal Rechenschaft ablegen über das Ergebnis ihrer Mission.

Titelbild: Alberto Andrei Rosu/shutterstock.com

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