Der Spiegel vermarktet die Bertelsmann Stiftung – „Deutscher Lernatlas“ stellt den Zusammenhang von Bildung und Wohlstand auf den Kopf
„Wo die klugen Deutschen leben“, das ist die Titelgeschichte des aktuellen Spiegels. Und diese Geschichte beherrschte gestern die Schlagzeilen. Den ganzen Tag über konnte man in den Nachrichtensendungen und Nachrichtenagenturen vernehmen: „Deutliches Bildungsgefälle in Deutschland“ oder „Deutliches Süd-Nord-Gefälle“.
So entstehen Schlagzeilen: Der Spiegel – nach wie vor eine der maßgeblichen medialen Entscheidungsinstanzen dafür, welche Nachrichten in anderen Medien verbreitet werden – bekommt „exklusiv“ ein paar Tage vor Veröffentlichung durch die Bertelsmann Stiftung selbst deren neueste „Studie“ [PDF – 10 MB] vorab zugeschanzt und macht mit einer reißerischen Schlagzeile auf – und nahezu alle anderen Medien schreiben ab und übernehmen die Botschaft blind. Von Wolfgang Lieb
Hätte die Bertelsmann Stiftung ihren „Deutschen Lernatlas“ ohne diesen Marketing-Coup auf ihrer Website veröffentlicht, hätten vielleicht einige Fachzeitschriften oder wenige Interessierte darauf reagiert, aber es hätte sicher nicht zu einer Hauptnachricht gereicht. Die Vorabmeldung im Spiegel verhilft Bertelsmann in die Tagesschau.
Nun könnte man ja sagen, Bertelsmann versteht eben etwas von der Vermarktung seiner Produkte, wichtig ist doch nur, dass das Thema Bildung eine breite Öffentlichkeit erreicht. Doch an dieser Stelle sei die Frage erlaubt, was hat Eigenvermarktung mit Journalismus zu tun hat?
Für diese Vermischung von PR und Journalismus, liegt der Grund ziemlich nahe: die Bertelsmann AG hat 74,9 Prozent der Anteile am größten europäischen Magazinhaus Gruner + Jahr und G+J hat wiederum eine Sperrminorität von 25,25 Prozent beim Spiegel-Verlag. So wäscht eben eine Hand die andere, der Spiegel erhält eine reißerische und auflagensteigernde Exklusiv-Meldung und die Bertelsmann Stiftung kann ihr Image als Bildungsförderer aufpolieren.
Dass diese „Bildungs-Studie“ steuerbegünstigt aus den Gewinnen des Bertelsmann Konzerns finanziert wurde, ist dem Spiegel natürlich nicht einmal einen Nebensatz wert. Selbstverständlich gibt es auch keinen Hinweis darauf, dass die Bertelsmann-TV-Tochter, RTL, mit rund 300 Millionen Euro drei Viertel zu den Mehreinnahmen und damit den Löwenanteil zum Gewinn des Mutter-Konzerns von 665 Millionen Euro beitrug.
Doch gerade dieser Hintergrund hätte für ein kritisches Nachrichtenmagazin die eigentliche Story sein müssen. Der Spiegel hätte den Zynismus, der hinter der Studie versteckt ist, für jedermann offenkundig machen müssen. Stattdessen vermarktet er noch das Doppelspiel von Bertelsmann-Konzern und Bertelsmann Stiftung.
Da plädiert die Stiftung für „soziales und persönliches Lernen“ und ihr Finanzier, der Konzern, verdient dreistellige Millionenbeträge an einem Schmuddel-Sender. Dessen Erfolgsrezept besteht nun wirklich nicht in der Förderung von „sozialem und persönlichem Lernen“. Im Gegenteil, die Einschaltquoten speisen sich überwiegend aus Gewalt darstellenden oder aus halbseidenen Filmen, vor allem aber aus täglichen sog. Doku-Soaps in denen Kindern und Jugendlichen asoziales Verhalten geradezu gelehrt wird. Durch verdummenden Fernsehkonsum der RTL-Programme werden junge Menschen vom „persönlichen und sozialen Lernen“ gezielt abgehalten.
Man kann es deshalb nur scheinheilig nennen, wenn der „Architekt der Bildungsvolkszählung“ (wie der Schulspiegel lobt), nämlich Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger Schulkinder und Jugendliche auffordert, sich zu engagieren, ins Museum zu gehen oder Fortbildungsangebote zu nutzen. Hätte diese Aufforderung Erfolg, was wäre dann mit den Einschaltquoten bei den RTL-TV-Programmen? Was wäre dann mit den hohen Werbeinnahmen? Was wäre die Bertelsmann Stiftung ohne diese Werbegewinne? Die Forderung nach „sozialem Lernen“ und das Programmangebot von RTL stehen in einem haarsträubenden Widerspruch zueinander.
Man muss es so deutlich sagen: Wie die Mafia-Bosse eine Scheinfirma betreiben, um ihre dunklen Geschäfte zu tarnen, so hält sich der Bertelsmann-Konzern seine Bertelsmann Stiftung: mit dem angeblichen Einsatz der Stiftung für bessere Bildung soll über die systematische Verblödung der Bevölkerung durch Konzern-Gewinnbringer RTL hinweg getäuscht werden.
In seinem Beitrag geht der Spiegel mit keinem Wort auf diesen Zusammenhang zwischen der Bertelsmann-„Studie“ und dem Bertelsmann-Konzern ein. Noch schlimmer: Es wird nicht einmal die geringste journalistische Distanz zu dieser „Studie“ gewahrt.
Eine Auseinandersetzung mit der Erhebungsmethode erspart sich der Spiegel von vorneherein: „Wer das wichtigste Resultat verstehen will, muss sich nicht lange mit Rechenwegen beschäftigen. Ein Blick auf die Grafik reicht“ – jedenfalls für den Spiegel.
Die Bertelsmann Studie stellt nicht nur auf die Pisa-Ergebnisse und ähnliche Schulleistungsvergleiche ab (die ja nur landesbezogen ausgewiesen werden), sondern auf „soziales“ und „persönliches Lernen“ vor Ort. Sie beansprucht, die „regionalen Lernbedingungen“ in 412 Kreisen und kreisfreien Städten zu vergleichen. In Abwandlung des klassischen Spruches: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ verkündet Bertelsmann die umgekehrte Botschaft: „Nicht in der Schule lernen wir, sondern im Leben“. Lernen könne man nämlich fast überall, etwa bei der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Deutschen Roten Kreuz („Soziales Lernen“). Und wichtig sei, „was jeder Einzelne für sich selbst tut“ („Persönliches Lernen“).
Viel wichtiger als Klassengrößen, Schulform, Schulstruktur, gemeinsames oder getrenntes Lernen ist – nach der Meinung von Bertelsmann – für das Lernen demnach wie viele Menschen und wie oft sie ins Museum oder ins Theater oder in einen Sportverein oder in den Kirchenchor gehen.
„Aus einem Fundus von über 300 potentiellen Lern- und Bildungskennzahlen“ hätte man ausgewählt, zitiert der Spiegel den Projektleiter Ulrich Schoof. Warum nur 38 Kriterien übrig blieben und vor allem welche, danach fragt der Spiegel natürlich nicht. Der Spiegel begnügt sich vielmehr Bertelsmann aus der Hand zu fressen: „Zusammenfassend lässt sich die Indexberechnung beschreiben als statistisch-basierte Auswahl an relevanten (was ist relvant? (WL)) und nicht-redundanten Kennzahlen, die gewichtet um ihren Einfluss auf den Human-und Sozialkapitalfaktor in einem Index subsumiert sind“.
(„Zentrales Kriterium bei diesem Gewichtungsverfahren ist also der statistische Zusammenhang der jeweiligen Kennzahl mit einem eigens errechneten sogenannten „Human- und Sozialkapitalfaktor“, der aus verschiedenen sozioökonomischen Kennzahlen (wie etwa Leskompetenz, Grad der Bildungsabschlüsse, Dauer der Arbeitslosigkeit vor einer beruflichen Weiterbildung etc. Abbildung 12, Seite 16 (WL)) ermittelt wurde“, heißt es in der Studie.)
Bei diesem „Humankapital“-Ansatz für Lernen und Bildung handelt es sich – ganz typisch für Bertelsmann – um ein wirtschaftswissenschaftliches Konzept, in dem das Bildungsniveau auf das künftig mögliche Erwerbseinkommen bezogen wird. Es geht also um den Ertrag, den private und/oder öffentliche „Investitionen“ in Bildung oder Lernen für den einzelnen oder für die Gesellschaft erbringen. Bildungsstand und Wohlstand korrelieren also miteinander.
Bertelsmann und dem Spiegel gelingt es den Zusammenhang von Bildung und Wohlstand von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Nicht der Wohlstand ist eine gute Voraussetzung für Bildung, sondern umgekehrt: Es wird Lernen „als Mittel zum Zweck“ betrachtet, als die Möglichkeit, „das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen“ einer Region zu steigern. Motto: Ihr Schülerinnen und Schüler im Ruhrgebiet lernt und bildet euch besser, geht in die Bergmannskapellen und in die Freiwillige Feuerwehr oder wenigstens in den Kirchenchor, dann könnt ihr Eure Region wieder vorwärts bringen und „glücklich und reich“ werden.
Wie im amerikanischen Mythos der Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann, so steigt in der Bertelsmannschen Ideologie der einzelne Mensch, ja eine ganze Region durch besseres Lernen zu Reichtum auf.
Es ist das alte Bertelsmannsche Lied, das da gesungen wird: Man wirft sich in die Pose des Bildungsförderers und verschafft sich damit Sympathie (denn wer wäre nicht für mehr und bessere Bildung) und blockiert alles, was sich im Bildungssystem ändern müsste, damit möglichst viele besser lernen können.
Der Spiegel und die Stiftung tun so, als würde die Ungleichheit der Lernerfolge bis ins letzte Dorf gemessen. Aber über das zentrale Thema, nämlich der sozial ungleichen Verteilung der Bildungschancen wird kein Wort verloren. Gerade die Spitzenreiter im Bertelsmann-Ranking, nämlich Bayern und Baden-Württemberg haben ein hochgradig sozial selektives Bildungssystem [PDF – 45.8 KB]. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind aus einem Akademikerhaushalt ein Gymnasium zu besuchen im Vergleich zu einem Arbeiterkind ist in Bayern zehn Mal so hoch – höher als in kaum einem anderen Bundesland. Selbst die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. tadelt Bayerns unterdurchschnittliche Absolventenquote. Und sogar die UNO bescheinigt, den Spitzenreitern im Bertelsmannschen „Lernatlas“, also z.B. Hessen und dem Saarland beim „Recht auf Bildung“ besonderen Nachholbedarf.
Auch dass Bayern mit die niedrigste Abiturientenquote hat, all solche Kriterien spielen offenbar im Bertelsmann-Ranking kaum eine Rolle. Da wird vielmehr als Erklärung für den konstatierten Lernerfolg des Spitzenreiters, dem Main-Spessart-Kreis, gemutmaßt, dass es im gesamten Landkreis eben nur zwei Kinos gebe, dafür aber 119 Freiwillige Feuerwehren und rund 1.400 Vereine.
Vielleicht liegt es aber weniger an der Feuerwehr oder an der Zahl der Museumsbesuche, sondern einfach daran, dass die Eltern in den Spitzenländern mehr Geld für Nachhilfeunterricht ausgeben (können). So liegen etwa bei den Ausgaben für private Nachhilfe gleichfalls Baden-Württemberg, Sachsen, Hessen, Schleswig-Holstein das Saarland, und Bayern bei den Flächenländern an der Spitze.
Es scheint für die Ersteller der Studie keinen Unterschied für die Lernmotivation auszumachen, dass der Landkreis Main-Spessart eine Arbeitslosenquote von 2,1 Prozent hat, während beim Schlusslicht Mecklenburg-Vorpommern diese Quote bei über 14 Prozent liegt. Ob man – wie in Bayern – eine Jugendarbeitslosenquote von knapp 4 Prozent oder – wie in Mecklenburg-Vorpommern – von weit über 11 Prozent hat, bleibt außer Betracht.
Wenn die Ruhrgebietsstädte Nordrhein-Westfalen zum „Mecklenburg-Vorpommern des Westens“ erklärt werden, so kann man mit den Händen greifen, dass die wirtschaftliche und soziale Situation einer Region, z.B. ihr Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund etc. für die Bertelsmann Stiftung allenfalls insoweit relevante „Lern- und Bildungskennzahlen“ darstellen, dass das ökonomische Umfeld, für das die lernenden Schüler am wenigsten können, sie zu Bildungsversagern stigmatisiert.