“Damals wie heute sind es Ausgrenzung und Abstiegsängste, welche die Menschen den Nazis in die Arme treiben.”

Ein Artikel von Thorsten Hild

Im Gespräch: Wolfgang Neskovic, Bundesrichter a. D. und Justiziar der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, über Rechtsradikalismus, Rechtsterrorismus, Rassismus, V-Leute, verfassungsrechtliche Ignoranz, die Notwendigkeit der sozialen Diagnose des neonazistischen Syndroms und die Rolle der Medien. Das Interview führte Thorsten Hild.

Thorsten Hild: Herr Neskovic, seit der Aufdeckung der Zwickauer Terrorgruppe ist Rechtsradikalismus wieder im Visier der Politik? Wieder einmal ein moralischer Aufschrei, der so plötzlich verhallt, wie er gekommen ist – oder findet jetzt ein Umdenken statt – und wenn, in welche Richtung?

Wolfgang Neskovic: Ich hoffe, dass es diesmal nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt. Immerhin haben wir jetzt eine Debatte der Politik zum Rechtsterrorismus und einen Untersuchungsausschuss des Bundestages. Vor allem gibt es wohl auch die Einsicht, dass das Phänomen über Jahre unterschätzt wurde. Insofern gibt es ein Umdenken. Aber ich bezweifle, dass die eigentliche Ursache erkannt und entschieden bekämpft wird.

Was ist nach Ihrer Auffassung die eigentliche Ursache?

Es fehlt die Erkenntnis, dass diese Gesellschaft einen latenten Rassismus pflegt. Das zeigt schon die Tatsache, dass der Begriff “Dönermorde” über Jahre zu einem Teil der Alltagssprache wurde. Der Begriff klingt, als seien Döner statt Menschen ermordet worden. Er verharmlost die Tötung unserer Mitmenschen. “Dönermorde” – das ist ein verächtliches Wort für die Lebenswelten der Türken und der Griechen.  Es enthält schließlich auch die Fehlvorstellung der damaligen Ermittler. Sie gingen von Milieu-Straftaten aus. Dieses eine Wort enthält das Problem und auch schon die entscheidende Frage: Wie rassistisch ist eine Gesellschaft, in der mit derselben Waffe neun Morde begangen werden können – während Medien, Politik und Sicherheitskräfte davon ausgehen, es handele sich um Rivalitäten unter Immigranten nach der Vorstellung: „Ausländer ermorden Ausländer“?

Es gibt also einen latenten Rassismus?

Ja, es gibt einen latenten Rassismus in breiten Teilen der deutschen Gesellschaft. Es gab ihn wohl immer, doch zumindest seit den frühen 2000er Jahren hat er wieder zugenommen. Damals entsetzten die Anschläge auf Asylbewerberheime die deutsche Öffentlichkeit. Wir Deutschen trugen in großer Zahl unseren Protest auf die Straße. Es gab Mahnwachen und Demonstrationen. Noch im Jahre 2000 brachte der „Aufstand der Anständigen“ 200 000 Menschen zu einer Lichterkette zusammen. Die Menschen verlangten von der Politik, sich dem Rechtsradikalismus entgegenzustellen. Doch die Politik verschärfte das ohnehin schon faktisch abgeschaffte Asylrecht weiter und begann würdelose Integrationsdebatten. Der latente Rassismus wurde hoffähig, bürgerte sich in die Köpfe vieler Menschen ein. In dem latenten Rassismus wuchs der radikale Rassismus und begann zu morden. Es war der allgegenwärtige latente Rassismus, der ihm dabei Schutz gab. Denn er sorgte dafür, dass Ermittler und Journalisten die Morde für “Dönermorde” hielten. Nun spricht die Gesellschaft über die “Zwickauer Zelle.” Doch über ihren latenten Rassismus spricht sie nicht. Die Menschen gehen nicht einmal auf die Straße wie im Jahre 2000. Hingegen sind Sarrazins “Kopftuchmädchen” immer noch in aller Munde.

Die NSU war nur die berühmte Spitze des Eisberges?

Ja. Den Rest des Eisberges bilden breite Teile der bundesdeutschen Gesellschaft. Wenn man einem Eisberg die Spitze abschlagen könnte, würde man sehen, wie ein Teil des Eisberges über dem Meer aufsteigen und eine neue Spitze bilden würde.

Welche Rolle spielt die NPD?  Und wie wahrscheinlich ist ein Verbot?

Ein Verbot wird gerade wieder unwahrscheinlicher. Das liegt an dem Verhalten der meisten Innenminister. Auf der letzten Innenministerkonferenz hatten sie Gelegenheit, die notwendigen Vorbereitungen für ein Verbot zu beschließen. Sie hätten sich auf den Abzug der V-Leute aus den Führungsgremien der Partei einigen müssen. Das haben sie aber nicht getan. Damit fehlt es auch weiterhin an den vom Bundesverfassungsgericht erläuterten Voraussetzungen für ein Verbot der Partei. Im Jahre 2003 scheiterte das erste Verbotsverfahren wegen der “Staatspräsenz” in den Führungsgremien der Partei.  Das Gericht hatte die Bedeutung der Parteien für die bundesrepublikanische Demokratie zu beachten und die daraus folgenden hohe Hürden für ein Parteiverbot. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung hatten Karlsruhe Verbotsanträge vorgelegt, deren Belege für die Verfassungsfeindlichkeit der NPD in großen Teilen aus den Mündern und Federn von V-Leuten in der Führung stammten. Der Staat hatte also zunächst Menschen bezahlt, die sich aus der NPD heraus verfassungsfeindlich äußern. Dann wollte der Staat ein Verbot der Partei, deren verfassungswidriges Verhalten er selbst mitgestaltet hatte. Das Bundesverfassungsgericht kam zu der Einschätzung, dass es erst über ein Verbot der NPD urteilen könne, wenn zuvor die V-Leute aus der Führung der NPD verschwänden. Nun wollen vor allem die christdemokratischen Innenminister dieser Vorgabe nicht folgen und liefern damit der Nazipartei eine Art Bestandsgarantie.

Die Innenminister sagen, sie bräuchten die V-Leute, um nicht auf dem rechten Auge blind zu sein.

Das ist eine bloße Behauptung, für deren Richtigkeit die Innenminister bislang nicht den geringsten Beweis erbracht haben. Im Übrigen beweisen die Innenminister mit dieser Behauptung, dass sie entweder die Entscheidung nicht gelesen, oder sie gelesen, aber nicht verstanden, oder sie gelesen und verstanden, aber sie aus politischer Böswilligkeit falsch wiedergeben. Denn diese Behauptung unterstellt, es ginge um einen Abzug oder das Verbleiben aller V-Leute. In Wahrheit jedoch müssen die Innenminister nur prüfen, ob sie sich von den V-Leuten trennen sollten, die den führenden Zirkeln und Gremien der Partei angehören. Das waren zur Zeit des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht maximal 15 Prozent aller V-Leute. Nur um diese V-Leute geht es. Alle übrigen, also 85 Prozent oder mehr, könnten auch weiterhin – unabhängig von ihrer Informationstauglichkeit – tätig sein.

Haben die christdemokratischen Innenminister diese Voraussetzungen also nicht begriffen oder wollen sie sie nicht begreifen?

Wem das Begreifen schadet, dem fällt das Nichtbegreifen leichter. Das ergibt dann wohl einen fließenden Übergang zwischen dem Nichtwollen und dem Nichtkönnen. Jedenfalls haben CDU und CSU einen objektiven Nutzen von der Existenz der NPD. Der Nutzen entstammt der öffentlichen Einstufung von “rechts” und “rechtsradikal”. Da wo die NPD beginnt, endet gleichsam die demokratische Rechte. Zum einen halten sich damit echte Rassisten aus der CDU heraus. Zum anderen fallen die Wenigen, die schon drin sind, nicht so sehr auf. Solche Probleme haben SPD und Grüne nicht. Deswegen neigen sie auch zu einem Verbotsverfahren. Ich gehe aber nicht davon aus, dass man diese Motivlagen auf der Innenministerkonferenz offen besprochen hat. Verhandlungen fallen immer schwer, wenn man mit Vorwänden argumentiert und Einwände für sich behält. Deswegen ist die Konferenz auch ohne nennenswerte Ergebnisse beendet worden.

Welchen Nutzen haben die V-Leute überhaupt?

Ein wirklich nennenswerter Erkenntnisgewinn ist nicht erkennbar. Die Innenminister behaupten jedoch die Unverzichtbarkeit, ohne dafür einen irgendwie gearteten Beweis antreten zu können. Gerade die Morde der Zwickauer Zelle beweisen die völlige Nutzlosigkeit von V-Leuten. Obwohl die Szene mit V-Leuten durchsetzt ist und die Zwickauer Zelle nicht abgeschottet agierte, sondern über einen größeren Unterstützerkreis verfügte, befanden sich die Ermittler im Zustand der Ahnungslosigkeit.

Ist die Finanzierung von V-Leuten also eher Teil des Problems? Sind das nicht selbst Leute mit rechtsextremer Gesinnung, oder weiß man darüber nichts?

Das muss man so sehen. Es handelt sich hier um ein strukturelles Problem. Die V-Leute befinden sich in einer Doppelrolle. Sie sind ideologisch in der NPD verankert. Deswegen wollen sie der Partei und deren Zielen auch treu dienen. Dennoch sollen sie dem Staat Informationen liefern, was die NPD beschädigen könnte. Es ist deswegen nachvollziehbar, dass die V-Leute ihre staatliche Mitarbeit nach einem System ausrichten, von dem die NPD im Ergebnis profitiert. Der Staat bezahlt für Informationen. Das bedeutet: Die Information eines V-Mannes muss also gerade so gut sein, dass sie Geld einbringt und in jedem Fall so schlecht, dass sie der NPD nicht schadet. Das staatliche Geld fließt dann der NPD in Form von Mitgliedsbeiträgen und Spenden zu. Es ist der eigentliche Grund, dass die NPD ihre staatliche Ausforschung duldet. Die Partei kämpft seit Jahren mit erheblichen Finanzproblemen. Die V-Leute sind also in zweifacher Hinsicht für die NPD von Wert. Zum einen machen sie das Verbot der Partei sehr unwahrscheinlich. Zum anderen finanzieren sie die Partei in erheblichem Maße. Die V-Leute nützen dem Staat praktisch nicht und sind zugleich für die Existenz der NPD unentbehrlich.

Der niedersächsische Innenminister forderte, der NPD müsse man den staatlichen Geldhahn zudrehen.

Niedersachsens Innenminister Schünemann stellt mit dieser Forderung wieder einmal seine verfassungsrechtliche Ignoranz unter Beweis. Denn es wäre ein klarer Verfassungsverstoß, der NPD ohne vorheriges Verbot den Geldhahn zudrehen zu wollen. Die NPD ist juristisch solange eine Partei auf dem Boden des Grundgesetzes, bis das Bundesverfassungsgericht das Gegenteil feststellt. Als nicht verbotene Partei hat die NPD aber grundsätzlich Anspruch auf staatliche Finanzierung. Wer der NPD den Geldhahn zudrehen will, erreicht dies nur über das Bundesverfassungsgericht. Am Ende eines erfolgreichen Verbotsverfahrens ist die Partei aufzulösen und ihre Finanzierung einzustellen.

Sie sind aus Lübeck. Der in Lübeck aufgewachsene und leider an Krebs verstorbene Autor und Journalist, Rolf Winter, hat in seinem autobiographischem Buch, Hitler kam aus der Dankwartsgrube (und kommt vielleicht mal wieder), eine Kindheit in Deutschland, beschrieben, wie ein von  Sozialdemokraten und Kommunisten bewohntes Arbeiterviertel in Lübeck Hitler entgegen reifte; soziale Aussichtslosigkeit ließen Hass und Missgunst entstehen. Er hat das Buch seiner Mutter gewidmet, “die es nicht besser wusste”. Wissen wir es heute besser?

Sie fragen, ob wir es heute besser wissen als die politisch Verantwortlichen der Weimarer Republik. Vielleicht wissen es die Deutschen noch nicht gut genug. Winter hat seinem Buch sehr bewusst einen Untertitel gegeben: “…und kommt vielleicht mal wieder.” In dem Buch schreibt er sinngemäß, die Deutschen ließen es schon wieder zu, dass der soziale Rand anwächst. Er schreibt, dass die Mitte der Gesellschaft auf diesen Rand mit bürgerlicher Verachtung blicke. Doch diese Verachtung sei so hilflos wie gefährlich. Denn durch Verachtung wird der soziale Rand nicht wieder in die Gesellschaft geholt. Nur das Aufgehobensein in der Gesellschaft wirkt der Ohnmacht und dem Hass entgegen, die den Faschismus befördern.

Was ist die Dankwartsgrube auf die heutigen Verhältnisse übertragen?

Armut ist immer relativ. Wer erkennbar weniger hat als die soziale Mitte der Gesellschaft, erlebt sich als arm und ist es auch. In der Dankwartgrube ist man arm. Vor allem aber hat man keine Hoffnung, dies ändern zu können. Diese Mischung aus Armut und Hoffnungslosigkeit führt dann zu dem in allen Dankwartgruben typischen Ausmaß an Hass und Solidaritätsverweigerung mit anderen Gruppen, Anhänglichkeit für betrügerische Heilsversprechen und der Bereitschaft zu Gewalt und Unrecht. Beides wird in Dankwartgrube täglich selbst erlitten. Warum sollten denn nicht auch andere, genauso leiden?

So wie Mundlos und dessen Szene?

Hitler kam aus der Dankwartsgrube. Mundlos kam aus einer Straße der Jenaer Nachwendezeit. Das Klima der Stadt war von den Entlassungswellen der Zeisswerke bestimmt. Mundlos verlor die Aussicht auf eine Lehrstelle bei Zeiss. Ich habe gelesen, dass er ein sehr begabter Programmierer war – bevor das Programm der Nazis ihn zum Mörder machte.

In der Wendezeit fanden sich die Kinder der Revolution am sozialen Rand der Bundesrepublik wieder. Eben noch waren ihre Eltern Helden, die ein System gestürzt hatten. Jetzt aber gerieten sie in die geschwisterliche Umarmung der Bundesrepublik. Sie wurden abgestempelt zu wirtschaftlichen und politischen Anfängern. Die ostdeutsche Wirtschaft, die ihnen bisher Arbeit gab, wurde zerschlagen. Die Wendezeit hat den Eltern die Selbstgewissheit genommen, ihre Kindern in geeigneter Weise beraten, führen und unterstützen zu können. Die für jede Erziehung notwendige Grundorientierung mussten sich die älteren DDR-Bürger erst selbst wieder erarbeiten, während sie gleichzeitig selbst so viel Neues lernen mussten und mit den alltäglichen neuen Sorgen zu kämpfen hatten. Sie mussten sich um ihre alten Arbeitsplätze sorgen oder um neue kämpfen. Gleichzeitig verschwand das dichte Netz aus sozialer Sicherheit, dass der DDR-Staat den Menschen zur Verfügung gestellt hatte. Auch den jungen Erwachsenen nahm die Wende viele sozialistische Sicherheiten, Perspektiven und Zielstellungen. Sie gab ihnen gleichzeitig neue westliche Rollenbilder, von denen sie ohne elterliche Hilfestellung nicht recht wissen konnten, wie sie zu erreichen sind oder die zu erreichen – allein schon aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – schlicht aussichtslos war.

“Das soziale Klima der Orientierungslosigkeit befördert ein fremdenfeindliches Klima im Sozialraum. Dieses schwächt das friedfertige Zusammenleben in der Gesellschaft, da die Gleichwertigkeit der Menschen zur Disposition gestellt wird.” Kennen Sie das Zitat?

Nein. Woher stammt es?

Aus der letzten Folge der “Deutschen Zustände” von Wilhelm Heitmeyer. Heitmeyer hat mir auf meine Frage, ob er denn bei der Politik Gehör finde, geantwortet: “Ich bin seit fünf, sechs Jahren nicht nachgefragt worden.”

Das bedauere ich. Gerade die Linke hätte Anlass, auf solche Zusammenhänge einzugehen. Ihr fällt es schwer, für das neonazistische Syndrom die soziale Diagnose zu stellen. Vielleicht liegt das daran, dass zwischen Erklärungen und Entschuldigungen oft schwer zu unterscheiden ist. Wir wollen die Nazis nicht entschuldigen, also erklären wir uns deren Entstehungsgeschichte nicht in ausreichendem Maße mit sozialen Missständen.

Wo also muss die Politik ansetzen? Was ist konkret kurzfristig zu tun, was mittel- und langfristig?

Kurz-, mittel- und langfristig benötigt die bundesrepublikanische Politik den stabilen antifaschistischen Konsens.

Den gibt es nicht?

Es gibt ein gewisses Minus zu diesem Konsens. Breite Teile der Gesellschaft sind sich darüber einig, dass sie hohle nazistische Phrasen oder plumpen Antisemitismus ablehnen. Darin liegt eine Art negativer Konsens für die groben Fälle. Einen positiven antifaschistischen Konsens sehe ich nicht. Er würde darauf abzielen, auch latenten Antisemitismus und latenten Nazismus aktiv zu bekämpfen.

Vielleicht gibt es aber einen breiten politischen Konsens gegen totalitäre Theorien?

Ja. Es gibt diesen Konsens und es gibt leider auch das Missverständnis, das sich mit ihm verbindet. Zunächst möchte ich zum Wahrheitsgehalt dieser These etwas sagen und dann zum Missverständnis. Die Totalitarismusthese, die in der Soziologie und der Politikwissenschaft vertreten wird,  bemüht sich zunächst um eine richtige Lehre aus dem Zeitalter der Ideologien, dem 20. Jahrhundert. Die richtige Lehre lautet: Nie wieder darf zugelassen werden, dass Menschen im Namen einer Ideologie, die einen unwiderlegbaren Wahrheitsanspruch behauptet, Verbrechen begehen. Das Missverständnis, auch das bewusste Missverstehenwollen, das einige Soziologen und vor allem Politiker mit der These dann verbinden, beginnt mit der Behauptung, alle Ideen, die die Gesellschaft in erheblicher Weise verändern wollen, seien gleichsam totalitäre Ideologien und damit gefährlich für die freiheitliche Demokratie.
Wenn das wahr wäre, dann wäre auch die soziale Marktwirtschaft eine totalitäre Idee, die man abzulehnen hätte. Denn natürlich ist die gegenwärtige Gesellschaftsordnung die Folge von ganz erheblichen Veränderungen gegenüber der liberalen Marktwirtschaft des frühen 20. Jahrhunderts, die ihrerseits Ergebnis von vielen historischen Umwälzungen war. Gesellschaften haben sich immer geändert und sie werden sich auch immer ändern.

Wegen dieses letzten Satzes würde der konservativ gelenkte Verfassungsschutz sicher gerne eine Akte über Sie anlegen.

Das wäre dann eine Akte mehr, die er nicht anlegen dürfte. Denn es ist die vom Grundgesetz geschützte Aufgabe linker Politik, die veränderungswürdigen Elemente unserer Gesellschaft, die insbesondere  auf den Schutz der Schwachen abzielen, herauszuarbeiten und für Veränderungen einzutreten. Diese Aufgabe will das Grundgesetz erfüllt sehen. Es ist eine Verfassung, die für vielfältige gesellschaftliche Veränderungen offen ist. Was das Grundgesetz jedoch verhindern will, das sind solche Parteien, die gerade darauf aus sind, diesen geschützten Rahmen für Veränderungen beseitigen zu wollen. Dieser Rahmen wird durch das Grundgesetz in Artikel 79 Absatz 3 unveränderbar festgelegt. Diese Bestimmung ist weltweit einzigartig. In ihr spiegelt sich das Misstrauen der Mütter und Väter des Grundgesetzes gegen die nachkommenden Generationen wider. Solange das Grundgesetz existiert, können bestimmte Grundsätze auch nicht mit verfassungsändernder Mehrheit der Gesetzgebungsorgane beseitigt oder geändert werden. Diese sogenannte Ewigkeitsgarantie umfasst u.a. die Menschenwürde in  Artikel 1, die Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie sowie den Sozialstaat. Auf dieser Grundlage sind  auch gerechtere Gesellschaftsordnungen als die gegenwärtige gestaltbar. Wer diese Grundlage beseitigen will, ist ein Verfassungsfeind. Wer auf dieser Grundlage bauen will, ist ein Verfassungsfreund.

In den Verfassungsschutzberichten des Bundes und in vielen der Länder gibt es keine Kapitel über Verfassungsfreundschaft. Dort argwöhnt man, Teile der Linken seien verfassungsfeindlich. Die Linke wird beobachtet und überwacht.

Die Linke ist eine verfassungstreue Partei, weil sie die Gesellschaft auf dem Boden des Grundgesetzes verändern will. Die Linke tritt für eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes ein. Das macht einigen Leuten Angst, aber es ist verfassungskonform und entspricht dem gemeinwohlorientierten Geist des Grundgesetzes. Das wissen die Innenminister mit großer Sicherheit auch selbst. Deren Beobachtung und Überwachung hat einen parteipolitischen Zweck. Die konservative Politik missbraucht den Verfassungsschutz als politische Waffe im Ideenwettstreit der Parteien. Denn allein die Tatsache, dass die Linke in den Berichten erwähnt wird, verunsichert Wähler, benachteiligt Kandidaturen, erschwert die Mitgliederwerbung und verändert Wahlausgänge. So dient der Verfassungsschutz nicht dem Schutz unserer Verfassung, sondern dem Schutz der politischen Konkurrenz, indem ihr ungerechtfertigt Wettbewerbsvorteile verschafft werden.

Der Generalsekretär der CSU will die Linke sogar verbieten lassen.

Der Mann versteht unsere Verfassung nicht. Aber Herr Dobrindt hilft immerhin, das Problem zu illustrieren. Denn die Konservativen fühlen sich von rechts und von links bedroht. Dabei unterscheiden sich die Bedrohungslagen formal und inhaltlich ganz erheblich. Die NPD versammelt Feinde der Demokratie, der Freiheit und der Toleranz. Die Linken sind die Freunde der sozialen Gleichheit und der bürgerlichen Freiheit. Der Feind des Grundgesetzes steht rechts. Diesem Feind kommt nur derjenige bei, der sich nicht beim Kampf gleichzeitig und ohne Grund ständig über die Schulter schaut. Genau das müssen die Konservativen begreifen. Wir stehen neben ihnen, ob sie nun wollen oder nicht. Das ist eine ausgetreckte Hand und die linke Lehre aus Weimar. Es muss aber noch eine weitere Lehre  geben. Die allerdings kann nur die konservative Mitte ziehen: In Weimar wurde die ungelöste soziale Frage zum Steigbügelhalter der Faschisten. Heute haben wir wieder einen sozialen Rand. Wir benötigen also auch einen neuen sozialen Konsens. Alle demokratischen Parteien müssen einsehen, dass es in einem sozial gerechten Staat den Menschen viel schwerer fällt, zum Faschisten zu werden. Damals wie heute sind es Ausgrenzung und Abstiegsängste, welche die Menschen den Nazis in die Arme treiben.

Sehen Sie politische Mehrheiten für mehr sozialen Ausgleich?

Nein. Aber ich sehe die großen Gefahren, wenn sie sich nicht endlich finden. In vielen europäischen Ländern sind in den letzten Jahren starke rechtspopulistische und nazistische Parteien entstanden. Unsere Geschichte gibt uns keine Garantie, dass dies nicht auch in der Bundesrepublik geschieht. Im Gegenteil – unsere Geschichte lehrt: Auch in Weimar ist mit der NSDAP eine Splitterpartei in kurzer Zeit zur Massenpartei geworden. Das geschah unter den Bedingungen einer wirtschaftlichen Krise. Die haben wir derzeit gerade wieder. Sie hat Deutschland nur noch nicht in vollem Umfang erreicht.

Die Wochenzeitung DIE ZEIT – ebenfalls eine Aussage Heitmeyers – hat 2007 die Zusammenarbeit mit den Forschern und ihrer Publikation “Deutsche Zustände” aufgekündigt, weil ihnen deren Berichterstattung zu kritisch war. Welches ist ihre Erfahrung und wie bewerten Sie die Rolle der Medien? Welche Aufgabe käme den Journalisten konkret zu – und werden sie dem Ihrer Meinung nach zurzeit gerecht?

Der Kabarettist Hagen Rether hat ein Programm, in dessen Verlauf er immer wieder einen prägnanten Satz wiederholt: “Wir leben in einer Volvo-Werbung.” In Rethers Stück gleiten die Menschen sanft und bei vernünftigem Wohlstand durch ein Leben mit gutem ökologischem Gewissen. Das Publikum seiner Veranstaltungen setzt sich zusammen aus genau jenem scheinbar aufgeklärten bildungsbürgerlichen Milieu, aus dem auch die meisten Journalisten stammen. Rether ist ein mitfühlender Feingeist, der die ignorante Feingeistigkeit aufs Korn nimmt.
Denn das Leben ist selbstverständlich keine Volvo-Werbung. Viele Journalisten weigern sich, zu sehen, worin es wirklich besteht. Das bundesrepublikanische Leben ist voller Armut, Wut und Verzweiflung. Die Lebensrealität von Millionen besteht darin, in einem Vollzeitarbeitsverhältnis mit Überstunden gerade den Betrag zu erringen, der sie von den Millionen anderen unterscheidet, die als arm gelten müssen. Weder die Ausgebeuteten noch die Ausgegrenzten finden einen Weg zur humanen Selbstverwirklichung. Viele erfolgreiche Medienmacher geben dieses Milieu der Lächerlichkeit preis oder meiden es. Andere leugnen es. Sie verwechseln ihr eigenes Leben zwischen Empfängen, Theaterbesuchen und Energieeffizienzhaus mit der mehrheitlichen bundesdeutschen Realität. Sie wissen nichts über den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Karrierechancen. Sie glauben tatsächlich, dass sozial Benachteiligte so etwas wie Verlierer sind, die sich einfach nicht genügend angestrengt haben und deshalb nichts zu verlangen haben. Wenn der Verlierer dann auch noch ein brutaler Nazi ist, ist er in den Augen der Medien zweifach schuldig.

Nazis stören den Frieden der “Volvowerbung”?

Ja. Die Berichterstattung über Neofaschismus erschöpft sich meist in bildungsbürgerlicher Selbstbehauptung. Die Journalisten zeichnen das Bild eines dümmlichen und gefährlichen rechten Hasses, der sie und uns alle bedroht. Das Bild trifft zu. Doch es fehlt ihm auch Entscheidendes. Es ist ein rein deskriptives Bild. Es fehlt ihm die Analyse, die zu verstehen hilft, wo Hass und Dummheit herstammen und wie sie sich langfristig beheben lassen. Niemand wird dumm und hassend geboren. Erst das gesellschaftliche Leben, seine Ungleichheiten, seine Ungerechtigkeiten stecken für Hass und Dummheit die Wahrscheinlichkeiten ab. Es wäre die Aufgabe der Medien, diese Wahrscheinlichkeiten und ihre gesellschaftlichen Hintergründe zu untersuchen und zu hinterfragen. Doch dazu müssten sie gleichsam den Volvo anhalten und aussteigen. Das täte dann weh.


Wolfgang Neskovic sitzt seit 2005 für die DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Er ist Bundesrichter a.D. und Justiziar der Bundestagsfraktion. Wolfgang Neskovic ist Vorsitzender des Wahlausschusses für die Richter des Bundesverfassungsgerichts und Mitglied im Ausschuss für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium.

Thorsten Hild arbeitet als Journalist in Berlin. Neben Beiträgen in Zeitungen und Rundfunk schreibt er auf www.wirtschaftundgesellschaft.de.

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