Fiskalpakt – der klammheimliche Systemwechsel
Gestern gab es den Auftakt der Beratungen über den Fiskalpakt und den dauerhaften europäischen Rettungsschirm ESM. Mit der Verabschiedung des Fiskalpakts wird nicht nur für Deutschland sondern für nahezu das gesamte Europa ein „Systemwechsel“ vollzogen: Nämlich mit einer möglichst in allen Verfassungen zu verankernden „Schuldenbremse“, deren Überwachung durch die Behörde der Europäischen Kommission und – bei einem Verstoß gegen die Verschuldungskriterien – der Klagemöglichkeit vor dem Europäischen Gerichtshof.
Weil man nicht den Mut hat die Europäischen Verträge zu verändern, was ja in verschiedenen Ländern einer Volksabstimmung bedürfte, soll der Fiskalpakt – sozusagen auf einem Schleichweg – separat in einem zwischenstaatlichen Vertrag festgeschrieben werden. Dieser Vertrag ist praktisch nicht revidierbar, er wird also künftig die Politik nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa – so lange es noch als politische Institution existiert – bestimmen. Die schwarz-gelbe Koalition würde die Gesetzentwürfe im Schnellverfahren am liebsten noch vor der Sommerpause verabschieden. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns alle intensiv damit auseinandersetzen. Deswegen ein paar wichtige Informationen. Von Wolfgang Lieb.
Für Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wird mit dem europäischen Fiskalpakt der deutsche Weg der „wachstumsfreundlichen Defizitreduzierung“ auf Europa übertragen. Obwohl es in der größten Oppositionspartei, der SPD heftige Widerstände gibt [PDF – 50,7 KB], hat sich in der Debatte der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier einmal mehr gerühmt, dass schließlich die SPD auf die Schuldenbremse gedrängt habe. Er hat sich wie üblich im Wesentlichen darüber ausgelassen, dass die Bundesregierung handwerklich schlecht arbeite und ständig nachbessern müsse (die „roten Linien sind in Wahrheit Wanderdünen“). Fiskalpakt und ESM sind für Steinmeier nur „Zwischenstationen“, das heißt, sie sind für ihn längst abgehakt. Seine zusätzlichen Forderungen nach Wachstumsprogrammen für wirtschaftlich angeschlagene Euro-Länder und nach einer Finanzmarkttransaktionssteuer sind so windelweich, dass es wohl kaum zu einer Ablehnung des Fiskalpakts kommen wird. Auch die Grünen „eiern“ nur herum.
Wir haben auf den NachDenkSeiten oft genug auf den Unsinn einer gesamteuropäischen Sparpolitik hingewiesen. Wenn zeitgleich alle Euroländer sich aus der Krise heraussparen müssen, kann das nur zu weiterem Sozialabbau, zu Wohlstandseinbußen und zu weniger Beschäftigung führen. Wir begeben uns in einen Teufelskreis, statt dass ein Befreiungsschlag erfolgte.
Der einzige Redner, der sich gestern nicht mit Deklamationen begnügte, sondern auf die Details des Fiskalpaktes einging, war Gregor Gysi. Es lohnt sich, seine Rede zu lesen. Das Mindeste wäre, dass seine aufgeworfenen Fragen beantwortet würden. Als da wären:
- Wie verhält sich der Fiskalpakt zum Grundgesetz? (Siehe dazu auch „Fiskalpakt entmachtet Bundestag [PDF – 43,2 KB]“
- Kann es richtig sein, eine Politik dauerhaft festzuschreiben und sich jeden Rückweg praktisch dauerhaft zu verbarrikadieren? (Siehe dazu ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages [PDF – 98 KB])
- Welche tatsächlichen für Konsequenzen hat der Fiskalpakt für den Haushalt und für die Wirtschaft? Wie sollen 20 Jahre lang jeweils 25 Milliarden an Schulden in Deutschland abgebaut werden und vor allem wo? Und wie soll das gelingen, wenn gleichzeitig durch eine gesamteuropäische Austeritätspolitik auch der eigene Wachstumsmotor, nämlich die Exporte abgewürgt wird [PDF – 2.8 MB]?
Wer sich wirklich einmal gründlich mit dem Fiskalpakt auseinandersetzen möchte, sollte sich die Zeit nehmen und sich mit dem Hintergrundpapier von Anne Karras beschäftigen [PDF – 188 KB] oder mit den Antworten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages auseinandersetzen [PDF – 78 KB].
Wir werden diese Auseinandersetzung auf den NachDenkSeiten so gut es uns möglich ist führen. Wir werden das allerdings nicht alleine leisten können. Bei dieser Frage wäre das Jagdfieber, das der deutsche Journalismus angesichts der Affären um den früheren Bundespräsidenten Wulff an den Tag gelegt hat, wirklich einmal angemessen.
Was wir bislang erlebten war weitgehend Verlautbarungsjournalismus und die wenigen sachlich fundierten Beiträge haben leider nicht dazu geführt, dass in Deutschland über den anstehenden Systemwechsel ernsthaft diskutiert worden wäre.