Die Arbeit des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge in Russland kommt seit 2022 ins Stocken. Seit 1992 konnte der Volksbund die Gebeine von einer halben Million deutscher Soldaten, die von 1941 bis 1945 gegen die Sowjetunion gekämpft hatten, identifizieren und 22 deutsche Soldatenfriedhöfe anlegen oder wiederherrichten. Das war möglich aufgrund eines Abkommens zwischen Russland und Deutschland, in dem die Pflege deutscher Soldatengräber in Russland und russischer Soldatengräber in Deutschland geregelt wurde. Doch seit 2022 wird es immer schwieriger, von den staatlichen russischen Stellen Genehmigungen für die Exhumierung deutscher Soldaten zu bekommen. Nun hat sich die Bundesregierung dazu geäußert. Von Ulrich Heyden (Moskau).
Mitte Oktober stellte die Fraktion der AfD im Deutschen Bundestag eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Ziel war es, etwas über den Stand der Arbeit des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge in Russland zu erfahren. Eine Antwort der Bundesregierung liegt jetzt vor.
Die Antwort der Bundesregierung wurde offenbar in Eile verfasst. Eine Fleißarbeit ist es nicht. Viele Fragen beantwortete die Bundesregierung mit der Formel, dazu lägen „keine Angaben vor“. Das ist schon merkwürdig bei einer Organisation wie dem Volksbund, der vom Bund mit jährlich 19 Millionen Euro unterstützt wird. Die schnelle Abfertigung der Fragesteller ist bitter für alle, die auf irgendeine Art mit dem Schicksal der deutschen Soldaten in der Sowjetunion verbunden sind.
Die Bundesregierung leitete ihre Antwort mit salbungsvollen Worten ein:
„Die Kriegsgräberfürsorge und das mit ihr verbundene Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft bleiben aber auch in dieser schwierigen Zeit wichtig, um der deutschen Verantwortung weiterhin gerecht zu werden und dies gegenüber den Menschen Russlands sichtbar zu machen.“
Fakten über das „Sichtbarmachen“, Links zu Fotos, Videos und Textdokumenten in russischen Medien legt die Bundesregierung bis auf eine Ausnahme nicht vor.
20 Fragen und viele ausweichende Antworten
Die AfD-Fraktion hatte 20 Fragen an die Bundesregierung gestellt. Einen Großteil der Fragen übernahm die AfD von einer Liste, die ich im April dieses Jahres erstellt hatte, um ein Interview mit dem Büroleiter des Volksbundes in Moskau, Hermann Krause, zu führen. Krause wurde 2019 Leiter des Büros, nachdem er zuvor 17 Jahre lange ARD-Korrespondent in Moskau war. Er hatte mir ein Interview zugesagt und um die Zusendung von Fragen gebeten. Nachdem er die Fragen erhalten hatte, schrieb er – für mich überraschend –, „aufgrund der aktuellen schwierigen politischen Situation“ habe er sich entschlossen, „zum jetzigen Zeitpunkt kein Interview über die Arbeit des Volksbundes“ in der Russischen Föderation zu geben.
Ich bin kein Anhänger der AfD, aber ich habe mich gefreut, dass meine Fragen, die der Volksbund nicht beantworten wollte, nun der Bundesregierung gestellt wurden.
„Deutschland schuldet den Opfern würdiges Gedenken“
Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort an die AfD-Fraktion, Deutschlands Beziehungen zu Russland seien „in hohem Maße auch von der Geschichte des 20. Jahrhunderts und dem NS-Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion von 1941 bis 1945 geprägt. Deutschland schuldet den Millionen Opfern dieses Krieges ein würdiges Gedenken.“ Weiter heißt es: „Die Bundesregierung schätzt die Arbeit des Volksbunds, die weiterhin im außenpolitischen Interesse Deutschlands liegt.“ Die Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Russland sei „trotz schwieriger bilateraler Beziehungen eine der wenigen Bereiche, in dem Gesprächskanäle und eine operative Zusammenarbeit aufrechterhalten werden konnten.“
Über die Präsenz des Volksbundes in der russischen Öffentlichkeit liefert die Bundesregierung nur dürre Hinweise. In einer zweiseitigen Liste führt sie 25 Gedenkveranstaltungen und Kranzniederlegungen auf, die seit September 2014 auf deutschen Soldaten- und Kriegsgefangenenfriedhöfen in Russland stattfanden. Angaben darüber, inwieweit zu diesen Veranstaltungen Vertreter Russlands eingeladen wurden, ob die Eingeladenen kamen und ob sie Reden halten durften, fehlen.
In der Antwort der Bundesregierung fehlen auch konkrete Angaben über die Präsenz des Volksbundes in den russischen Medien und Bildungseinrichtungen.
„Die Bundesregierung hat keine umfassende Kenntnis aller Medienauftritte von Vertretern des Volksbundes. Der Bundesregierung ist bekannt, dass der Büroleiter des Volksbundes in Moskau in der Vergangenheit in diversen russischen TV-Formaten aufgetreten ist und auch Interviews für russische Tageszeitungen gegeben hat.“
Volksbund in den russischen Medien nicht mehr präsent
Es stimmt. Vor 2022 gab es noch einige Interviews russischer Medien mit Hermann Krause, dem Büroleiter des Volksbundes in Moskau, zum Beispiel in der Tageszeitung Kommersant. Aber ab 2022 fand ich nur noch einen Artikel von Krause im russischsprachigen Raum, und zwar in der Moskauer Deutschen Zeitung.
Die Bundesregierung nennt in ihrer Antwort an die AfD-Fraktion nur ein einziges konkretes Beispiel für einen Auftritt Hermann Krauses im russischsprachigen Raum. Es handelt sich um ein im September 2025 vom Sender RTVI gesendetes Interview, was auf YouTube veröffentlicht wurde und dort 1.400 Klicks bekam. Das Video – in russischer Sprache – ist sehenswert und reich an Informationen, aber 99,9 Prozent der Russen haben es nicht gesehen.
Der Sender RTVI ist übrigens gar kein russisches Medium. Er sendet zwar in russischer Sprache, hat aber seinen Sitz in New York. Der Sender hat sein Publikum vor allem unter den im Ausland lebenden Russen. In Russland kann man die Sendungen von RTVI nur über YouTube sehen, wenn man zuvor eine verschlüsselte Verbindung (VPN) zum Internet hergestellt hat, denn YouTube ist in Russland blockiert.
Wer interessiert sich in Russland heute noch für deutsche Reue und Gedenken?
Nach meinem persönlichen Eindruck und meinen Internet-Recherchen wird im russischen Fernsehen seit 2022 nicht mehr über den Volksbund berichtet. Das hängt offenbar damit zusammen, dass sich deutsche Politiker seit 2022 nicht mehr sachlich über Russland äußern, sondern in eine Rhetorik verfallen sind, die mit der Rhetorik von Joseph Goebbels wortgleich ist („Kriegsertüchtigung“, „Russland besiegen“). Es hängt auch damit zusammen, dass Ukrainer mit deutschen Waffen gegen Russland kämpfen und sogar in das uralte, zentralrussische Gebiet Kursk eingefallen sind. Und es hängt damit zusammen, dass es in fast jeder russischen Familie Menschen gibt, die im Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion gefallen sind, die als Politkommissare und Partisanen erschossen oder als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wurden.
Die Bundesregierung betont in ihrer Antwort an die AfD-Fraktion, dass die Kriegsgräberfürsorge „wichtig“ sei, „um der deutschen Verantwortung weiterhin gerecht zu werden und dies gegenüber den Menschen Russland sichtbar zu machen“. Es wird so getan, als ob dieses „Sichtbarmachen“ heute in Russland noch möglich sei. Aber wie soll ein „Sichtbarmachen“ möglich sein, wo die russisch-deutsche Gaspipeline gesprengt wurde, es aber keine ernsthaften Ermittlungen gibt und die EU bereits das 19. Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet hat? Die Umstände, mit Bürgern Russlands über deutsche Soldatengräber zu sprechen, waren lange nicht mehr so schlecht wie heute.
Der Volksbund-Vertreter in Moskau weiß mehr als die Bundesregierung
Die Antwort der Bundesregierung wurde eilig und knapp verfasst. Im Ergebnis kann man von dem Büroleiter des Volksbundes in Moskau mehr über die Gräberpflege in Russland und die Zahl der gefundenen Gebeine deutscher Soldaten erfahren als aus der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der AfD-Fraktion. Sie fragte die Bundesregierung:
„Wie viele deutsche Soldaten, die am Angriff auf die Sowjetunion von 1941 bis 1945 teilgenommen haben, liegen nach Kenntnis der Bundesregierung in bekannten, öffentlich zugänglichen deutschen Soldatenfriedhöfen auf dem Territorium der Russischen Föderation (bitte auch angeben, wie viele noch als vermisst gelten)?“
Darauf antwortete die Bundesregierung:
„Der Volksbund hat zwischen 1992 bis 2024 auf dem Gebiet der Russischen Föderation 462.723 Kriegstote geborgen und bestattet. (…) Zur Gesamtzahl der Vermissten liegen der Bundesregierung keine Daten vor.“
Volksbund-Vertreter Hermann Krause weiß mehr. Im RTVI-Interview erklärte er:
„In Russland starben 1,5 Millionen deutsche Soldaten. Bis heute haben wir die Gebeine von 500.000 Soldaten gefunden. Das heißt, wir müssen noch eine Million finden.“
An anderer Stelle nennt Krause die Zahl von 3,8 Millionen deutschen Soldaten, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion gestorben sind.
Die AfD-Fraktion fragte: „Wie viele Gebeine von vermissten deutschen Soldaten wurden in den letzten zehn Jahren nach Kenntnis der Bundesregierung gefunden (bitte nach Jahr aufschlüsseln)?“
Die Bundesregierung antwortete: „Hierzu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. Eine Aufschlüsselung der im genannten Zeitraum gefundenen Gebeine nach Vermissten und Soldaten mit vorliegender Todesmeldung erfolgt nicht.“
Der Volksbund-Vertreter Hermann Krause sagte im RTVI-Interview:
„Wir bekommen jetzt keine Genehmigung für die Exhumierung von Gebeinen mehr – oder nicht in ausreichendem Maße. Im letzten Jahr hat der Volksbund noch die Genehmigung für die Exhumierung von 4.000 Gebeinen bekommen. Vor ein paar Jahren haben wir noch die Genehmigung für die Exhumierung von 10.000 Gebeinen bekommen.“
„Der neue deutsche Außenminister war noch nicht in Russland“
Krause sagte im RTVI-Interview Bemerkenswertes, nämlich, dass die derzeitige politische Verhärtung zwischen Russland und Deutschland die Arbeit des Volksbundes in Russland erschwere, dass der wichtigste Ansprechpartner für den Volksbund in Russland das russische Außenministerium ist und der neue deutsche Außenminister Johann Wadephul noch nicht in Russland war.
Besonders an einer Stelle im RTVI-Interview merkt man, dass Krause, dessen Vater selbst als Soldat gegen die Sowjetunion kämpfte, die derzeitige Situation unbehaglich ist, dass er sich die Rückkehr zu Verständigung und Dialog wünscht. Krause berichtete von einer Zeremonie zum Austausch von deutschen und russischen Gebeinen zwischen deutschen und russischen Suchtrupps, die er 2021 auf den Sinjawinskije-Höhen vor St. Petersburg miterlebte.
„Wir haben dort die Gebeine eines russischen Sergeanten übergeben, und wir bekamen im Tausch die Gebeine von sechs deutschen Soldaten. Das fand in einer feierlichen Atmosphäre statt.“
Bei der Veranstaltung anwesend waren nach den Worten von Krause auch ein katholischer, ein russisch-orthodoxer Geistlicher und ein Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums. Solche gemeinsamen Zeremonien gäbe es in Russland heute nicht mehr, erklärte der Büroleiter des Volksbundes in Moskau.
Kriegsertüchtigung und Reue – wie passt das zusammen?
Anstatt einzugestehen, dass über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in russischen Medien nicht mehr berichtet wird und schon gar nicht im russischen Fernsehen, was Millionen Menschen gucken, behauptet die Bundesregierung das Gegenteil. Warum? Offenbar geht es der Bundesregierung gar nicht um die Russen, sondern es geht um die Menschen in Deutschland. Diesen soll vorgegaukelt werden, dass Deutschland in Russland immer noch an Gedenken und Dialog interessiert ist. Deutschland habe aus der Geschichte gelernt. Es gäbe also keinen Grund, Angst vor der deutschen Politik gegenüber Russland zu haben. Diese Botschaft richtet sich insbesondere an die Teile der deutschen Bevölkerung, die eine weitere Zuspitzung des Konflikts mit Russland ablehnen.
Die Bundesregierung – die Deutschlands Läuterung in Russland durch Gräberpflege und Gedenken in Russland „sichtbar machen“ will – hat dem Dialog zwischen Russen und Deutschen selbst den Boden entzogen. Deutschland kündigte 2022 alle Städtepartnerschaften mit Russland, Flugverbindungen nach Russland wurden eingestellt, Russen bekommen beim deutschen Konsulat in Moskau nur noch mit großen Schwierigkeiten ein Visum für Deutschland. Gedenkveranstaltungen im Berliner Treptow-Park am 8. und 9. Mai werden von den Berliner Behörden seit 2022 mit scharfen Auflagen belegt. In Torgau, also dort, wo die Befreier – russische und US-amerikanische Soldaten – 1945 das erste Mal aufeinandertrafen, durfte der russische Botschafter nicht auf einer Gedenkveranstaltung sprechen. Er wurde in den Zuschauerbereich verwiesen.
Nur wenn die deutsche Öffentlichkeit aufwacht, kann sich die Situation ändern. Es wäre zu wünschen, dass sich auch die Nachkommen von in der Sowjetunion gefallenen Soldaten an die Öffentlichkeit wenden und für eine Wiederherstellung des Dialogs mit Russland eintreten. Sonst müssen wohl bald neue Gräber für deutsche Soldaten geschaufelt werden.
Titelbild: Ulrich Heyden
Warum ist es so still um die großen deutschen Soldatenfriedhöfe in Russland? – Eine Spurensuche
Deutschland drosselt Hilfe für Überlebende der Blockade von Leningrad
Leningrad-Jahrestag – Drei Millionen Zivilisten von deutschen Truppen eingeschlossen






