ZEIT WISSEN klärt Irrtümer zum demografischen Wandel auf

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

„Werden wir wirklich zu alt? Vier Irrtümer über den Demografiewandel + eine Bitte an den Deutschen Bundestag“. – So ist ein Dossier [PDF – 810.2 KB] im ZEIT Magazin vom 07.10.2013 überschrieben. Wenn man sich seit Mitte der siebziger Jahre mit dem demographischen Wandel beschäftigt hat und in den NachDenkSeiten seit 2003 und davor in anderen Publikationen ständig über diese Irrtümer geschrieben hat, dann haut es einen angesichts dieser Erkenntnisse „vom Hocker“. Aber besser spät als gar nicht. Deshalb können wir Kritiker der Dramatisierung des demographischen Wandels angesichts dieses Medienereignisses nur froh und dankbar sein. Danke vielmals an „ZEIT WISSEN“ für die Genehmigung zur Übernahme. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Artikel enthält einige wirklich wichtige Erkenntnisse:

  • dass es die Alterung schon immer gab, jedenfalls im gesamten 20. Jahrhundert,
  • dass Bevölkerungsprognosen unsicher sind,
  • dass es auf die Produktivitätsentwicklung ankommt und der Zuwachs an Produktivität die „durch Alterung bewirkte Finanzlücke mehr als ausgleicht“,
  • dass es darauf ankommt, junge Menschen gut ausgebildet in Arbeit zu bringen,
  • dass die Vorstellung, die Frauen kriegen zu wenig Kinder, falsch ist,
  • usw.

Größtes Handicap des Dossiers:

Die Autorin Ulrike Meyer-Timpe tut so, als wären die Irrtümer vom Himmel gefallen. Sie übersieht, dass die Irrtümer zum demographischen Wandel zum größeren Teil in die Köpfe der Menschen „eingepflanzt worden sind“ und hinter den Kampagnen der Meinungsmache dicke Interessen stecken. Ersatzweise bemüht die Autorin einen Psychologen, den Leiter der „Forschungsgruppe für Kognitive Anthropologie“ der Max Planck Institute Leipzig und Niymwegen, damit er erklärt, „warum eine Mehrheitsmeinung manchmal so zementiert“ ist.
Auf diese Interessen und die zur Durchsetzung dieser Interessen laufenden PR-Kampagnen haben wir in den NachDenkSeiten immer wieder aufmerksam gemacht. Als Autor des kleinen Büchleins „Mut zur Wende“ habe ich diese Zusammenhänge 1997 beschrieben und belegt. (Siehe Anlage 1).
Dann wieder in einem Beitrag für das Kritische Tagebuch des WDR vom November 1999. (Siehe Anlage 2) Das sind jetzt 14 Jahre her.
Im Buch „Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“ von 2004 sind drei Kapitel den Irrtümern zum demographischen Wandel gewidmet. Sie wurden auch in den NachDenkSeiten wiedergegeben, siehe die angefügten Links:

Seit Jahren liegt also alles auf den Tisch. Meinungsführende Medien in Deutschland brauchen 14 bzw. 16 Jahre, um zur Einsicht zukommen, dass es sich bei den dramatisierenden Vorstellungen zum demographischen Wandel um Irrtümer handelt. Aber wie gesagt: Spät ist besser als gar nicht.

Und ich kann die Autorin und die „Zeit“ auch deshalb von Herzen loben, weil andere Medien nach wie vor weit von dieser Erkenntnis entfernt sind. Noch immer erinnere ich mich einer Diskussion bei einem Medien Konferenz in Leipzig Ende April 2010. Damals reagierte der Chefredakteur von GEO empört auf meine Zweifel an der Weisheit der Demographiedebatte. Siehe hier.

Auf die frühen Quellen mit aufklärenden Texten habe ich nicht zum Spaß hingewiesen. Ich will die Sorge artikulieren, dass unsere Aufklärungsarbeit offensichtlich wenig Sinn macht, weil wir Schaden offenbar nicht abwenden können. Denn in der langen Zeit, nach der nun zu mindest bei der „Zeit“ die Einsicht eingekehrt ist, ist ja vieles passiert:

  • Das Vertrauen in die gesetzliche Rente ist nahezu zerstört,
  • ihre Leistungsfähigkeit ist enorm gemindert worden,
  • und damit werden Millionen von Menschen in die Altersarmut geschickt,
  • es sind Milliarden zur Förderung der privaten Vorsorge ausgegeben worden und damit in die Taschen der Versicherungswirtschaft und der Banken geflossen – eine glatte Ressourcenvergeudung,
  • auf dem Feld der Altersvorsorge grassiert, gefördert von der Dramatisierung der demographischen Entwicklung, die politische Korruption; man denke nur an Maschmeyer, Riester, Rürup und Bohl.

Die Aufklärungsversuche müssen wohl trotzdem weitergehen. Nüchtern. Ernüchtert.

Anhang 1:

Das Gerede über Demographie und Kapitaldeckung ist ein klassischer Fall von Brainwashing – Auszug aus einem alten und aktuellen Text. Er stammt von 1997.
(Es beginnt mit der Einführung eines Eintrags vom 10.9.2012. Dann kommt der Auszug.)

Bei der Vorbereitung für einen NDS-Text zur laufenden Debatte um die Altersarmut und die Strategie der dahinter steckenden Interessen habe ich mich eines eigenen früheren Textes erinnert. Es handelt sich um ein Kapitel eines 1997 im Aufbau-Verlag erschienenen Taschenbuchs. Die Aussagen zum Generationenvertrag, zur Illusion über den Vorteil der Kapitaldeckung, zur damals anlaufenden Propaganda und den dahinter steckenden Interessen, zu den einfachen Lösungsmöglichkeiten usw. sind immer noch aktuell. Der Blick auf heute aus damaliger Sicht scheint mir auch für NDS-Leser/innen interessant, vielleicht auch amüsant. Deshalb die Wiedergabe dieses früheren Textes. Albrecht Müller. Mehr.

Amüsant sein könnte, dass ich wie andere auch meine Hoffnung auf die Wende zu Rot-Grün setzte. Eine eitle Hoffnung, wie wir heute wissen und damals ahnten. Ich hatte skeptisch gefragt, ob SPD und Bündnis/Grüne bei diesem Thema noch kampagnenfähig sind. Der folgende Text ist Antwort 4 von 8 Antworten auf die Frage nach den Themen und Projekten zu einer Alternative zu Helmut Kohl und Schwarz-Gelb. Das Buch war im Vorfeld der Bundestagswahl von 1998 erschienen.

Ich kann nicht verschweigen, dass die Rückerinnerung an diesen Text deprimiert: Die wichtigsten Schritte zur Zerstörung einer unserer wichtigen Säulen der sozialen Sicherung sind vorhergesagt und es wird auch klar, was zu tun wäre und wie einfach das wäre. Und dennoch mussten wir machtlos zusehen, wie uns die damals schon zu erkennende PR- und Lobby-Maschine überrollte. Und wir sehen heute, wie auf den Trümmern – der Altersarmut – die nächste Zerstörungsstrategie aufgebaut wird.
Beides wird Gegenstand meines nächsten Beitrags zum Thema sein.

Auszug aus Albrecht Müller: Mut zur Wende!
Erschienen 1997 im Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin. (Besonders einschlägige Passagen sind gefettet.)

  1. Der Generationenvertrag zur Altersvorsorge hält

    Das Vertrauen in die soziale Sicherung der Renten wird vorsätzlich zerstört. Diesen Vorgang offenzulegen und zu erklären, wie der Generationenvertrag der gesetzlichen Rentenversicherung auch für die junge Generation gesichert werden kann, das ist eines der ganz großen Wahlkampfthemen für 1998 und ein Schlüsselprojekt zur Verteidigung der Sozialstaatlichkeit.

    Die Bonner Koalition suggeriert zwar mit ihrem Rentenreformentwurf, die gesetzliche Rentenversicherung, wie sie bisher auf dem Generationenvertrag beruht, erhalten zu wollen, doch Teile der CDU/CSU und vor allem der FDP geben das bisherige System der Sozialversicherung preis. Hier spielt sich eine Entwicklung ab, die den Charakter eines Krimis und die Dimension eines Milliardendeals hat.

    Statt notwendige politische Entscheidungen zu treffen, die eine Entlastung der Sozialkassen bewirken könnten, wird Stimmung gemacht. Die Veränderung der Alterspyramide hin zu mehr Rentenempfängern bei gleichzeitiger Abnahme der Beitragszahler werde den Generationenvertrag zerbrechen lassen, heißt es aus Kreisen der Union, der FDP und der mit ihnen verbundenen Interessengruppen. Das System sei nicht mehr haltbar, man müsse umsteigen auf das sogenannte Kapitaldeckungsverfahren. Modelle, wie das nach dem sächsischen Ministerpräsidenten benannte Biedenkopf-Modell, plädieren für eine Grundsicherung, finanziert durch Steuern: jeder Mann und jede Frau soll künftig einen Sockel an Altersrente vom Staat beziehen, den man dann zusätzlich aufstocken kann – über Betriebsrenten und Zusatzrenten, mit privat angespartem Vermögen und über private Lebensversicherungen. Auf den ersten Blick eine vernünftige, einfache Lösung.

    Tatsächlich jedoch haben wir es bei dem Gerede um das angebliche Ende des Generationenvertrags und die notwendige Umstellung vom Umlageverfahren zum Kapitaldeckungsverfahren mit einem klassischen Fall von Brainwashing zu tun.

    Zum einen ist die demographische Verschiebung bei weitem nicht so dramatisch, wie es dargestellt wird. Es wird einen Anstieg der Belastungen für die arbeitende Bevölkerung bis etwa zum Jahre 2030 geben. Die Lage entspannt sich dann wieder geringfügig, und sie kann sich ohnehin ändern, wenn sich die Geburtenrate oder die Zuwanderung verändert. Niemand kann das genau vorhersagen.

    Viel wichtiger für die Klärung der Frage, wie die Arbeitenden durch die Rentner und durch die nicht arbeitende Kindergeneration belastet werden, sind folgende Aspekte: Wie entwickelt sich die Produktivität der Volkswirtschaft, wie hoch ist die Arbeitslosigkeit, und welche Art von Arbeitsverhältnissen – sozial gesicherte oder ungesicherte – werden die Regel? Wenn es gelingt, endlich die Arbeitslosigkeit abzubauen und die Produktivitätsentwicklung unserer Volkswirtschaft wenigstens annähernd so zu halten wie in den vergangenen Jahren, dann werden ohne Änderung des Systems, also selbst ohne Senkung des Rentenniveaus, die verfügbaren Realeinkommen der arbeitenden Menschen und Familien auch in Zukunft steigen. Das Vertrauen in diese Möglichkeit aufzugeben käme einer politischen Bankrotterklärung gleich.

    Zudem und auch darüber wird falsch informiert, ändert sich durch die Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren nichts an der Tatsache, daß auch künftig eine bestimmte Anzahl von Menschen für die nicht arbeitende alte Bevölkerung und die Kindergeneration zu sorgen haben wird. Die Umstellung des Finanzierungssystems ändert nichts an dieser Relation, es sei denn, man unterstellt, daß Menschen fruchtbarer werden, wenn sie von der gesetzlichen Renten- zur privaten Lebensversicherung wechseln. Die geläufige Behauptung, die erhöhte Kapitalbildung, die mit einer Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren verbunden sei, führe zu einem höheren Wachstum, muß, zumal in einer offenen Volkswirtschaft, nicht zutreffen,

    • weil sich möglicherweise überhaupt keine Zunahme der volkswirtschaftlichen Sparquote ergibt, sondern nur eine Substitution von Anlageformen eintritt und
    • weil die nationale Ersparnis angesichts internationaler Kapitalmärkte keinen limitierenden Faktor für die Investitionsquote und das Wachstum darstellt.

    Die Konservativen zerstören das System der gesetzlichen Rentenversicherung – teils gewollt, teils ungewollt

    Die gesetzliche Rentenversicherung ist vor allem deswegen in finanziellen Schwierigkeiten,

    • weil die hohe Arbeitslosigkeit und die zeitweise großzügigen Vorruhestandsregelungen dazu führen, daß es zu Mindereinnahmen bei der Rentenversicherung kommt,
    • weil sie mit 30 Milliarden DM versicherungsfremden (genauer: nicht durch Beiträge gedeckten) Leistungen belastet ist; z.B. Ausgaben für Renten der Aus- und Umsiedler und Belastungen aus der Wiedervereinigung, die eigentlich vom Bund bezahlt werden müßten, aber aus Rentenversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer finanziert werden.

    Würde die Bundesregierung darauf verzichten, allgemeine Staatsaufgaben den Beitragszahlern anzulasten, dann könnten die Beiträge sofort um ca. 2% gesenkt werden. »Die aktuellen Finanzierungsdefizite der Rentenversicherung gehen auf die Arbeitslosigkeit und die vereinigungsbedingten zusätzlichen Lasten zurück«, resümiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer am 12. Juni 1997 veröffentlichten Studie.

    Dazu kommt, daß immer mehr junge Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage entweder nicht ständig einen Arbeitsplatz finden oder auf Arbeitsverhältnisse angewiesen sind, bei denen keine Sozialversicherungspflicht besteht. Der von den Neoliberalen betriebene Trend wirkt langfristig gegen das bestehende Rentensystem. Hier gibt es tatsächlich ein Reformproblem. Wer weiter ungesicherte Arbeitsverhältnisse oder Scheinselbständigkeit ohne Sozialversicherung zuläßt, der untergräbt das Rentensystem finanziell und das Vertrauen in die soziale Sicherung.

    Eine neue politische Koalition müßte in ihrem Wahlkampf darüber aufklären, daß der Systemwechsel nichts an den demographischen Problemen löst, ja daß die Schwierigkeiten der gesetzlichen Rentenversicherung zuallererst mit der fehlgeschlagenen bzw. nicht vorhandenen Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung und ihres Mißmanagements bezüglich der deutschen Vereinigung zu tun haben. Anstatt eine bewährte Sozialversicherung ohne Not preiszugeben, müssen zuerst diese Fehlentwicklungen wirksam bekämpft werden. Änderungen, die das bewährte System als Ganzes nicht in Frage stellen, sind durchaus vernünftig. Sie sind wegen vieler gesellschaftlicher Verschiebungen wie der Änderung der Erwerbsbiografien und wegen hoher Scheidungsraten auch notwendig.

    Änderungen, die das Vertrauen zerstören, sind hingegen unvernünftig. Das gilt für das wichtigste Element der von der Bundesregierung geplanten Rentenreform. Danach soll das Standard-Rentenniveau von 70 auf 64% des durchschnittlichen Nettogehaltes sinken. Gerade für Geringverdienende und Frauen, die wegen ihrer Kinder oft nicht durchgängig arbeiten, ist eine solche große Absenkung nicht zumutbar. Darüber zu befinden ist heute auch wirklich nicht nötig. Wer diese Entscheidung heute dennoch betreibt, muß sich vorhalten lassen, die Bürger verunsichern, von der sozialen Vorsorge weg und hin zur privaten treiben zu wollen.

    Nach einer im Juli 1997 veröffentlichten Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB)27 nahm das Vertrauen der Bürger in die sozialen Sicherungssysteme in den letzten Jahren rapide ab. Diese Verunsicherung ist die Folge der »Reform«-Debatte und tatsächlicher Eingriffe wie etwa der Zuzahlungen im Krankenkassenwesen. Schon die jungen Leute machen sich Sorgen um ihre Renten, unter den herrschenden Umständen mit Recht, wenn sie keine Arbeit haben und die Ausbildungszeiten nur begrenzt angerechnet werden.

    Soweit diese Verunsicherung bewußt betrieben wird, muß man fragen: Wer verdient daran, wer hat ein Interesse daran? – Die privaten Lebensversicherer betreiben mit viel Aufwand Werbung in Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen. Es ist interessant, zu beobachten, wie Artikel über die angeblich desolate Lage der gesetzlichen Rentenversicherung mit Anzeigen der Versicherungswirtschaft gekoppelt sind, manchmal so geschickt, daß kaum noch deutlich wird, ob es sich um einen redaktionellen oder einen gesponserten Beitrag handelt.

    Die privaten Lebensversicherungsgesellschaften nehmen heute knapp 90 Milliarden an Prämien ein. Sie wittern jetzt das Geschäft des Jahrhunderts. Schließlich hat die gesetzliche Rentenversicherung einen Leistungsumfang von ca. 300 Milliarden. Nur 1/10 dieses Kuchens herauszuschneiden brächte den privaten Lebensversicherungen einen Zuwachs ihrer Prämien von 33%, also einen außerordentlich großen Geschäftszuwachs.

    Bei aller Verunsicherung der Bürger scheint vielen die Aussicht auf eine Grundrente verlockend. Da diese über Steuergelder, also vom Staat, finanziert werden soll, hat sie schon fast Wohlfahrtsstaatscharakter. Doch was sind die Folgen?

    Die angepeilte Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren hätte gravierende Auswirkungen auf die junge Generation, derentwegen angeblich die Umstellung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren betrieben wird. Sie würde mehrfach belastet: Die heute Jungen müßten erstens weiterhin mit ihren Beiträgen die Renten der Alten bezahlen; sie wären also bei den Beiträgen gar nicht entlastet. Sie müßten zweitens ihre eigene private Lebensversicherung bezahlen. Das heißt, der Beitrag für die gesetzliche Rentenversicherung und für die private müßte addiert werden, was zu einer Rentenbeitragsbelastung von 22, 23, 25% oder noch mehr führen würde. Der jungen Generation mutet man drittens zu, daß sie mit unsicheren Arbeitsverhältnissen fertig werden soll. Und dann soll viertens diese Generation auch noch akzeptieren, daß die ihnen nachwachsende Generation in 30 oder 40 Jahren keine Beiträge mehr für sie zu zahlen hat.

    Es besteht die Gefahr, daß die steuerfinanzierte Grundsicherung für Alte nicht ausreichend hoch festgesetzt oder in Zeiten der Finanzknappheit nicht ausreichend einem Inflations- und Reallohnzuwachs angepaßt wird, während das gegenwärtige Rentensystem durch die formelmäßige Dynamisierung in Gestalt der Nettolohnanpassung dieses Problem bisher nicht hatte. Da Menschen gerade in jungen Jahren die Notwendigkeit der Vorsorge nicht sehen und deshalb nicht an eine private Zusatzversicherung zur Grundsicherung denken, wird die Altersarmut anwachsen. Dazu ein Zitat zur Praxis in Großbritannien aus der »ZEIT« vom 14. März 1997: »Nach dieser neoliberalen Maxime haben bereits die Briten ihr Rentensystem zugunsten privater Vorsorge umgebaut. John Bridgeman, Generaldirektor des auch für die Kontrolle privater Lebensversicherer zuständigen Office of Fair Trade, faßt die Stimmung unter den älteren Menschen im modernen Großbritannien so zusammen: ›Die Leute fürchten heute mehr, daß sie zu lange leben, als daß sie zu früh sterben, weil ihr Geld für einen einigermaßen auskömmlichen Lebensabend nicht mehr reicht.‹«

    Daß politische Entscheidungen dieses Ausmaßes bei uns direkt oder indirekt auf die Interessen von privaten großen Konzernen zurückzuführen sind, ist sehr bemerkenswert. Die wirkliche Triebfeder der hier geplanten Revolution sind die Milliarden Prämien, die künftig bei den privaten Lebensversicherungen anfallen und die den gesetzlichen Rentenversicherungen fehlen werden.

    Ob SPD und BündnisGrüne noch kompagnenfähig sind?

    Die Rentenfinanzierung hat alle Dimensionen eines großen Wahlkampfthemas:

    • Es betrifft viele Menschen.
    • Es gibt einen wirklichen Konflikt. Die andere Seite muß und wird um ihrer Glaubwürdigkeit willen versuchen, diesem Konflikt auszuweichen.
    • Die CDU/CSU ist in dieser Frage gespalten. Es gibt führende Politiker und zahlreiche Wähler der CDU/CSU, die genauso wie die meisten Sozialdemokraten und Gewerkschafter das System der sozialen Sicherung vor dem Ausverkauf an private Interessen retten wollen und die genau wissen, was gespielt wird.
    • Es geht um viel Geld. Damit hat das Thema die Dimension des Themas »Großes Geld« der Wahl 1972. Damals hatten Teile der deutschen Wirtschaft mit mehreren Millionen Mark in den Wahlkampf eingegriffen, um Bundeskanzler Willy Brandt loszuwerden. Die SPD hat aus diesem Versuch der Einflußnahme ein großes Thema gemacht und gewonnen.

    Das Thema Rentenfinanzierung wird ein guter Test dafür sein, ob die SPD und die BündnisGrünen fähig sind, eine Alternative zur konservativen Hegemonie zu entwerfen, zu propagieren und zu verteidigen. Das ist fraglich geworden. Teile der BündnisGrünen signalisieren deutliche Unterstützung für die Privatversicherungsvariante. Bei den »Modernisierern« der SPD ist es ähnlich. Das gilt nicht für die Rentenreformkommission der SPD und die große Mehrheit der Mitglieder und Verantwortungsträger.

    Dennoch lohnt es sich in dieser Frage, eine gemeinsame Basis zu suchen und zu finden. Die soziale Sicherung ist das Vermögen der »kleinen Leute«. Wenn es nicht gelingt, ihnen dieses »Vermögen« zu erhalten, dann werden sie sich dem Umweltschutz, liberalen Rechtsauffassungen und Menschenrechtsfragen noch mehr verschließen, als dies heute der Fall ist.

    Die Entscheidung über die Zukunft der Sozialstaatlichkeit fällt 1998
    (Anmerkung AM 9.10.13: Da hatte ich eindeutig zu viel Vertrauen in Rot und Grün. Sie haben das begonnene Zerstörungswerk fortgesetzt.)

    Es entscheidet sich in diesen Monaten, ob es den privaten Interessenten gelingt, den Zusammenbruch des jetzigen Sozialversicherungssystems endgültig einzuleiten. Es entscheidet sich, ob es gelingen könnte, den Menschen, die unter Dauerberieselung der Werbung zum Einstieg in eine Privatversicherung stehen und denen eingeredet wird, das soziale Sicherungssystem breche demnächst zusammen, wieder Sicherheit zu geben. Deshalb ist es höchste Zeit, die für das Renommee der Sozialstaatlichkeit entscheidende Weichenstellung zum großen Thema zu machen. Noch einmal: Es genügt nicht, die Ideologie der andern allein durch Sachargumente zu entkräften bzw. eigene Vorschläge zur Rentenreform gegen die anderen Reformvorstellungen zu setzen. Es ist wichtig, den Menschen zu sagen, warum ihnen Angst gemacht wird. Sie müssen das der Kampagne zugrundeliegende Interessengeflecht erkennen. Nur dann werden sich Emotionen und damit eine Gegenöffentlichkeit mobilisieren lassen.

Anlage 2:

Ein Beitrag für das Kritische Tagebuch des WDR vom Anfang November 1999:

Glaubenssätze auf dem Prüfstand

  1. Der Generationenvertrag trägt nicht mehr. Deshalb müssen wir die bisherige Rentenversicherung um die private Altersvorsorge ergänzen.

    Angenommen, Sie hätten einen Umsatz von 100 Milliarden Mark und einen Konkurrenten, der 400 Milliarden Mark umsetzt. Und nun hätten Sie die Chance, mit einer Mischung aus Eigenwerbung und Verbreitung des Gerüchtes, der Konkurrent sei ein Auslaufmodell, die Umsatzzuwächse des Konkurrenten und dann auch von seiner Substanz Milliarden auf sich umzulenken; vielleicht für’s erste gute 10% seines Umsatzes. So könnten Sie auf Anhieb Ihren Umsatz um 40 Milliarden, also um mehr als ein Drittel aufstocken. – Das wäre doch was… Bei einem erwarteten Umsatzplus von 40 Milliarden wären einige 10 Millionen für Zeitungsanzeigen und eine groß angelegte PR-Arbeit unter Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten eine lächerlich kleine Investition, um das Gerücht über den Konkurrenten als Auslaufmodell am Leben zu halten. Peanuts sozusagen.

    Dieses Märchen ist Wirklichkeit. Nicht für Sie und nicht für mich. Aber für die Lebensversicherungsbranche und die Banken.
    Eine Kostprobe aus der laufenden Werbearbeit. Zitat aus einem Brief des Vorstandmitglieds der Dresdner Bank, Dr. jur. Joachim von Harbou, veröffentlicht per Zeitungsanzeige am 22. Oktober:

    Sprecher:
    „Sehr geehrte Damen und Herren,
    angesichts des demographischen Wandels – immer mehr älter werdende Menschen stehen immer weniger jungen Bürgern gegenüber – machen sich viele Sparer Gedanken über ihre finanzielle Sicherheit im Alter. Es zeichnet sich ab, dass die staatliche Rentenversicherung den Versicherten in Zukunft nicht mehr das gewohnte Leistungsniveau bieten kann. Deshalb wächst der privaten Altersvorsorge eine immer größere Bedeutung zu“

    Und weil das so sei, wirbt Herr von Harbou für

    Sprecher:
    „..ertragsstarke Anlageformen wie beispielsweise Wertpapierfonds“

    „Ihre deutschen Lebensversicherungen“ werben schon seit dem letzten Bundestags-Wahlkampf nahezu ununterbrochen in teuren Anzeigen für die private Vorsorge durch Abschluss einer Lebensversicherung:

    Sprecher:
    „Was bei der gesetzlichen Rente später für Sie rausspringt, kann Ihnen keiner sagen“
    „Eine Lebensversicherung hält, was sie verspricht. Ein Leben lang“.

    Die Banken und die Lebensversicherer schwimmen mit ihrer Kampagne zur Störung des Vertrauens in die klassische Rentenversicherung wie der Fisch im großen Strom von Wissenschaftlern und Politikern, von Talkshows, Zeitungen und Zeitschriften. Der SPIEGEL – bei diesem Thema schon seit langem an vorderer Front – forcierte die Kampagne am 30. August mit einer eigenen Titelgeschichte:

    Sprecher:
    „Weil Deutschland vergreist, wird die Rentenversicherung unbezahlbar,….“

    An einer Reform der sozialen Sicherungssysteme mit mehr Eigenvorsorge und weniger staatlicher Fürsorge führe kein Weg vorbei.
    Anfang Oktober fasste der SPIEGEL die Kernbotschaft so zusammen :

    Sprecher:
    „Letztlich geht es in der neu entfachten Debatte um eine Grundsatzfrage. Alle Parteien haben erkannt, dass die staatliche Rente allein künftig nicht mehr ausreichen wird. Das Umlageverfahren, das die Beiträge der aktiven Arbeitnehmer direkt an die derzeitige Rentnergeneration weiterreicht, bedarf der Ergänzung durch eine kapitalgedeckte Altersvorsorge, es soll also privat Geld zurückgelegt werden“.*

    Das klingt schlüssig und logisch. Aber logisch ist die Behauptung, unser demographisches Problem sei dadurch zu lösen, dass die Gesetzliche Rentenversicherung durch ein privates Bein ergänzt wird, allein für die Versicherungswirtschaft, die Banken und die mit ihnen verbundenen Wirtschaftsinteressen. Sie gewinnen, wenn die Soziale Alterssicherung in Richtung Grundsicherung gedrückt wird und alles Zusätzliche in private Altersvorsorge gelenkt wird – in Versicherungen, in Wertpapierfonds oder was auch immer.

    Weder für uns Bürger noch für die Politiker ist die Behauptung schlüssig, der Generationenvertrag der Rentenversicherung trage angesichts der demographischen Veränderungen nicht mehr und das Problem sei nur mit Hilfe privater Vorsorge lösbar. Sie klingt nur so.

    Es ist nicht zu bestreiten, dass in absehbarer Zeit auf einen arbeitsfähigen Erwachsenen zunehmend mehr Menschen im Rentenalter kommen.
    Aber wegen dieses demographischen Problems müsste unsere Gesellschaft nicht die Leistungsfähigkeit des bisherigen Systems der Rentenversicherung in Zweifel ziehen und durch ein staatlich verordnetes privates Bein ergänzt werden.
    Erstens ist die bisherige Soziale Alterssicherung mit dem Umlageverfahren als Kernstück eine hochmoderne soziale Erfindung, eine außerordentlich leistungsfähige und kostengünstige Sozialtechnik. Es werden, vereinfacht gesagt, von den Arbeitenden Beiträge erhoben und direkt an die Rentner ausgezahlt. Für jeden Arbeitenden wird eine Art Konto geführt. Er oder sie erwirbt mit dem Beitrag einen Anspruch gegenüber dem Staat, den dieser im Kern nicht antasten kann, weil die Eigentumsgarantie der Verfassung den Rentenanspruch schützt. Der besteht gegen die nächste erwerbstätige Generation, den heutigen Beitragszahlern später eine Rente zu zahlen. Deshalb ist die Gesetzliche Rentenversicherung auch eine sichere Altersvorsorge. -Die Bundesversicherungsanstalt und die Landesversicherungsanstalten verwalten die Gelder und Ansprüche, man braucht keine große Vermögensverwaltung. Entsprechend niedrig sind die Verwaltungskosten. Sie lagen 1996 bei 1,8 % des Umsatzes. Die Verwaltungskosten der privaten Lebensversicherungen liegen hingegen bei 4,5% plus den Provisionen der Versicherungagenturen, also um mehr als das Dreifache höher.

    Zweitens spricht für das bisherige System, dass die Ergänzung durch ein private Vorsorge am Problem der demographischen Entwicklung überhaupt nichts ändert. Die Belastung der im Jahre 2020, 2030 oder 2040 arbeitenden Generation wird durch Änderung des Finanzierungssystems vom sogenannten Umlageverfahren in ein System der Kapitalansammlung nicht vermindert.
    Anderes anzunehmen, wäre ein Fehlschluss. Das kann man mit Hilfe eines Tricks erkennen, mit dem Laien auch sonst gelegentlich volkswirtschaftliche Probleme besser durchschauen können. Man muss sich dafür volkswirtschaftliche Zusammenhänge in realen Kategorien vorstellen. In der Nationalökonomie sagt man: To understand better, think in real terms. Konkret: Heute versorgen 100 Arbeitenden 37* Rentner mit Gütern und Dienstleistungen. Im Jahre 2040 müssen 100 Arbeitende voraussichtlich für 68 Rentner aufkommen. Wenn wir in der Zwischenzeit das bisher übliche Umlageverfahren der Rentenfinanzierung durch ein privates Kapitaldeckungsverfahren der Lebensversicherungskonzerne ablösen oder ergänzen, ändert sich an der Tatsache nichts, dass 100 Arbeitende für 68 Rentner mitzusorgen haben.
    Die propagierte Änderung des Finanzierungssystems ändert übrigens auch nichts an der speziellen Last der jungen Generation zwischen 20 und 40 Jahren. Sie vor allem wird a gegen das soziale Rentenversicherungssystem in Front gebracht. Ihretwegen hält man die Beiträge unter 20 % fest, angeblich weil mehr nicht zu vermitteln sei. Gleichzeitig sollen sie aber bis zu 2,5% ihres Einkommens – später auch mehr – für ihr Alter obligatorisch privat anlegen. Offenbar spekulieren die Entscheider darauf, dass die Jüngeren unfähig sind, 20 und 2,5 zusammenzuzählen. Nach Lage der Dinge muss man darauf gefasst sein, dass die Spekulation aufgeht.
    Die Jüngeren, die gegenwärtig zusätzlich zur Altersvorsorge so eifrig Lebensversicherungen, haben offenbar auch nicht begriffen, dass sie dadurch nicht aus der Verpflichtung des Generationenvertrages entlassen werden; sie werden weiterhin Beiträge oder Steuern für die Versorgung der Rentnergeneration zu zahlen haben

    Wie könnte man dennoch die arbeitende Generation von der steigenden Alterlast entlasten? Wieder in real terms gedacht:

    Sprecher:

    • Erstens indem man künftig von den 5, 6, oder 7 Millionen Arbeitsfähigen, die heute ohne Arbeit sind, mehr in Arbeit bringt. Auch wenn das nicht leicht ist, es wäre ein Entlastung. Mehr Schultern schultern mehr.
    • Zweitens, indem man die Ansprüche der Rentner, also das, was für sie vom Sozialprodukt abgezweigt wird, geringer als vorgesehen wachsen läßt. Das ist das, was die jetzige Regierung mit der Anpassung nach Inflationsausgleich plant oder die Regierung Kohl mit dem Absenken auf 64 % *Rente geplant hatte.
    • Drittens kann man die arbeitende Generation entlasten, in dem man alles tut, um die volkswirtschaftliche Produktivität zu steigern. Wenn so die Gesamtleistung der Arbeitenden – das Sozialprodukt – kräftig steigt, dann tut es nicht weh, wenn ein fairer Teil für die wachsende Zahl der Rentner abgezweigt wird. Es bleibt immer noch ein Wohlstandzuwachs für die Arbeitenden.
    • Viertens kann man die Alterslast der hier Arbeitenden mildern, in dem man vom Ausland Güter und Dienste einführt, ohne sie gleich zu bezahlen, sich also beim Ausland verschuldet.
    • Fünftens kann man die Last für die Arbeitenden verringern, in dem man die Alten später in Rente gehen läßt.

    Über alle diese Entlastungsmöglichkeiten kann man sprechen. Man sollte dies auch tun, wenn sich die junge Generation übervorteilt fühlt. Aber man sollte aufhören, das bisherige System grundlos madig zu machen. – Es könnte sein, daß dies den Versicherungskonzernen und Banken mit ihrer massiven Werbe- und PR-Kampagne dennoch gelingt. Da mit wäre eine der großen Erfindungen der deutschen Sozialgeschichte ruiniert.

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