„Anfang Januar 2019 bin ich direkt nach London gereist und zur ecuadorianischen Botschaft gelaufen“

„Anfang Januar 2019 bin ich direkt nach London gereist und zur ecuadorianischen Botschaft gelaufen“

„Anfang Januar 2019 bin ich direkt nach London gereist und zur ecuadorianischen Botschaft gelaufen“

Ein Artikel von Frank Blenz

Ein Gespräch mit Moritz Müller, NachDenkSeiten-Autor, über Julian Assange. Am 25. Juni 2025 ist es ein Jahr her, dass Julian Assange, der Gründer der Plattform WikiLeaks, nach 14 Jahren (!) unerbittlicher Verfolgung, Erniedrigung, Überleben im Asyl, haltloser Anklagen, ewiger Prozesse, Inhaftierung ohne Urteil einzig aufgrund seiner investigativen wie unbequemen Arbeit als Journalist und Whistleblower aus einem Hochsicherheitsgefängnis in London entlassen wurde. NachDenkSeiten-Autor Moritz Müller hat diese Zeit noch sehr intensiv in Erinnerung, vor allem die Jahre seit 2017, in denen er sich der zahlreichen Leserbriefe an die NachDenkSeiten zu Assange annahm. Als Moritz Müller Ende 2018 darauf aufmerksam wurde, dass Assange nach sechs Jahren immer noch im Botschaftsasyl in London festsaß und seine Situation sich stetig verschlechterte, zögerte er nicht lange und reiste nach London. Eine intensive Zeit der Unterstützung begann. Das und mehr erfuhr Frank Blenz im Gespräch mit Moritz Müller und hat es für die NachDenkSeiten aufgeschrieben.

Frank Blenz: Lieber Moritz, wenn ich an Julian Assange denke, denke ich auch an Moritz Müller – und zwar, weil Dein Name, Deine Arbeit für die NachDenkSeiten in den langen Jahren der Unterjochung Julian Assanges für mich trotz aller Pein, trotz der schlimmen Nachrichten immer etwas Hoffnung weckten. Ich ziehe vor Dir bis heute – Pardon, wenn ich das so blumig sage – den Hut, dass Du so geduldig und unverrückbar auch selbst in London vor Ort warst. Dort hast Du zahlreiche Artikel verfasst, Texte, die in anderen Publikationen unserer wertebasierten Medienwelt so selten waren und bis heute sind. Ich bin nun, da es sich erstmals jährt, dass Julian Assange freikam, wieder nah in Gedanken bei Euch, Assange und Dir, und will einiges wissen. Also, was war Dein Schlüsselerlebnis, welcher Gedanke kam auf, welcher Anlass ließ Dich entscheiden, dass Du Dich für Julian Assange persönlich einsetzen willst und wirst?

Moritz Müller: Seit Ende 2017 war ich bei den NachDenkSeiten für die Bearbeitung der eingehenden Leserbriefe zuständig. Im Herbst 2018 kamen dann sehr gebündelt Leserbriefe zu Julian Assange und der sich zunehmend verschlechternden Situation in seinem Botschaftsasyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Der Hintergrund dazu war ein Aufruf, den seine Mutter Christine Assange gestartet hatte und auf den uns die NDS-Leser aufmerksam machten. Die NachDenkSeiten haben dann im November 2018 einen Beitrag von Chris Hedges veröffentlicht, der diesen Aufruf enthielt, und am nächsten Tag nochmals darauf hingewiesen.

Im Archiv der NachDenkSeiten finden sich sehr viele intensive wie wichtige Beiträge von Dir zu Julian Assange. Diese reichen bis auf das Jahr 2019 zurück. Im Dezember/Januar 2018/19 bist Du erstmals, so habe ich gelesen, nach London gereist …

Damals hatte ich persönlich den Aufenthaltsort von Julian Assange sozusagen nur im Hinterkopf, zumindest hatte ich noch nicht gehört, dass er die Botschaft verlassen hatte. Ich habe dann mit Freunden in Schottland Silvester gefeiert. Anfang 2019 bin ich dann nach London gereist und zur ecuadorianischen Botschaft gelaufen. Dort hielten eine Handvoll Unterstützer eine Mahnwache. Einige von ihnen unterstützten Julian Assange schon seit seiner ersten Verhaftung im Dezember 2010. Mit ihnen kam ich an diesem Januarnachmittag ins Gespräch.

In mir keimte die Idee für meinen ersten Artikel über Julian Assange. Das war dann mein erster eigener Beitrag auf den NachDenkSeiten überhaupt. Man muss wissen: In den Medien kamen Julian Assange und seine prekäre Situation zu dieser Zeit fast gar nicht vor. Für mich schien es nun umso klarer, dass man sich für den Journalistenkollegen Julian Assange einsetzen muss, wegen seiner persönlichen Situation, aber auch, um die Pressefreiheit zu verteidigen. Ich habe die Diskussionen um die Frage, ob er nun Journalist ist oder nicht, nie verstanden. Viele meiner Artikel habe ich geschrieben, um Julian Assange in der öffentlichen Wahrnehmung wachzuhalten. Es geht mein Dank hier auch explizit an die Kollegen und die Redaktion der NachDenkSeiten, die das Thema immer zu 100 Prozent unterstützt haben. Die NachDenkSeiten wiederum wären ohne die finanzielle Unterstützung der Leser nicht möglich, und somit auch mein großer Dank in diese Richtung.

Deine Vor-Ort-Geschichten waren und bleiben wichtig und eindrucksvoll. Wie oft warst Du in London, wie hast Du diese lange, aufreibende Zeit erlebt? Gab es für Dich in der Zeit der Dunkelheit erhellende Hoffnungsmomente, oder war es eher eine Zeit zahlreicher Niederlagen und Demütigungen?

Insgesamt bin ich 19-mal nach London gereist, um mich vor Ort zu informieren und für die Leser tätig zu sein. Im September 2020, als am zentralen Londoner Strafgerichtshof Old Bailey über den Auslieferungsantrag der USA verhandelt wurde, war ich für vier Wochen in London. Ich habe auf diesen Reisen London kennen- und lieben gelernt. Ich kenne aus dieser Zeit wunderbare und engagierte Menschen, die nicht nur für Assange auf die Straße gingen und protestierten. Diese Bekanntschaften und Freundschaften möchte ich nicht missen. Sie helfen mir bis heute, noch ein bisschen Optimismus zu haben, was die derzeitige Misere der Menschheit angeht.

Hoffnungsmomente gab es in der Sache eher selten, die Situation von Assange verschlechterte sich eigentlich stetig. Im März 2019 war ich mit zwei Freunden mit Plakaten vor einem der Londoner Amnesty International (AI) Büros. Auf einem der Plakate stand: „Protect our Whistleblowers“. Der Name von Julian Assange wurde dabei nicht erwähnt. Es regnete in Strömen. Wir standen da, warteten, hofften. Anstatt mit uns zu kommunizieren, ließen die AI-Angestellten dann die Jalousien herunter. Das war für mich ein entlarvender Moment. Wir gaben nicht auf. Am nächsten Tag wiederholten wir die Aktion vor der AI-Zentrale in Roseberry Avenue, wieder mit einem Whistleblower-Plakat. Diesmal kam AI-Generalsekretär Kumi Naidoo persönlich aus dem Gebäude, um meinem Kollegen die Hand zu schütteln. Als dieser ihm darauf ein Julian-Assange-Flugblatt überreichte, machte Naidoo auf dem Absatz kehrt. So löste sich auch dieser kurze Moment der Hoffnung in Luft auf.

Die schlechten Sachen, die Niederlagen? Es kam am 11. April 2019 zu Assanges gewaltsamer Verschleppung aus der Botschaft. Da war der Richter, der ihn nach 15-minütiger Verhandlung als Narzisst beschimpfte. Da ist das Auslieferungsbegehren, welches die USA nach jahrelanger Leugnung plötzlich aus der Tasche zogen. Und da ist die Verurteilung zu 50 Wochen Haft wegen Verstoßes gegen „Kautionsauflagen“ in schlimmer Erinnerung. Vergleichend gesagt: Die Hoffnung erwuchs aus dem Engagement der Aktivisten und nicht aus dem Agieren der beteiligten Justizbehörden, Regierungen, Leuten wie beispielsweise denen von AI.

Die Mainstream-Medien spielten ebenso eher eine negative Rolle. Die New York Times, die Washington Post, El Pais, The Guardian und der Spiegel, die alle an der Veröffentlichung der Wikileaks-Enthüllungen beteiligt waren und davon schlagzeilenstark profitierten, konnten sich erst zu ganz später Stunde, Ende November 2022, zu einem Aufruf zur Freilassung von Assange durchringen. Man stelle sich das mal vor, das geschah nach über dreieinhalb Jahren nach der Verschleppung aus der Botschaft. Es gab in den Leitmedien natürlich auch positiv herausragende Ausnahmen. Zum Beispiel John Goetz vom NDR, Michael Sontheimer vom Spiegel und der freie Journalist Wolfgang Michal, um nur einige zu nennen.

Nicht nur mir war klar, dass die Justiz im Fall Assange gegen ihn eingesetzt wurde. Der damalige UN-Sonderbeauftragte für Folter und menschenunwürdige Behandlung Nils Melzer hat dies in einem kurzen Essay treffend beschrieben.

Du wirst sicher immer wieder hautnah erlebt haben, wie die Justiz und die Mächtigen im Königreich Großbritannien agierten. Hat ihr Handeln etwas mit einem Rechtsstaat zu tun?

Mein sowieso eher sehr rudimentär und von Skepsis durchzogener Glauben an den Rechtsstaat hat sich durch die Beobachtung des Geschehens im Fall Assange fast komplett verflüchtigt. Natürlich hat man in dem System, in dem wir leben, eine gewisse und in vielen Fällen entwickelte Rechtssicherheit. Man darf den Staat und die Agierenden, wenngleich in immer enger werdenden Grenzen, auch kritisieren, das aber gewissermaßen, um den Anschein der Freiheit zu wahren. Geht es jedoch wirklich ans Eingemachte und jemand wie Julian Assange veröffentlicht Dinge, die die Staaten wirklich unter der Decke halten wollen, setzt sich die Maschinerie gnadenlos in Gang.

So geschehen auch im Fall Chelsea Manning. Manning hatte einen Großteil Informationen an Wikileaks geliefert. Auch die Behandlung von Reiner Füllmich und Michael Ballweg sehe ich in diesem Zusammenhang. In beiden Fällen scheint mir die Behandlung durch die Justiz zumindest äußerst unverhältnismäßig, wenn nicht sogar ungerechtfertigt. Im Fall Assange wurden dann alle Register gezogen, um einem Menschen – ihm – das Leben so schwer wie nur möglich zu machen: Isolationshaft, restriktive Besuchsbedingungen, die späte oder nicht stattfindende Zustellung von Verfahrensakten gehörten dazu.

Den ungenügenden Zugang zu den öffentlichen Auslieferungsanhörungen habe ich selbst erlebt. Im Old Bailey passen normalerweise 34 Personen auf die Besuchergalerie, aber während der sogenannten Corona-Maßnahmen wurde die Zahl auf ganze fünf reduziert, von denen drei noch für die Hälfte der Zeit für VIPs reserviert waren. Die drei VIP-Besucher erschienen jedoch nie … Zu diesem Zeitpunkt waren in sonstigen öffentlichen Räumen in England die Fassungsvermögen auf ein Drittel reduziert, was im Old Bailey immerhin noch elf Beobachter ermöglicht hätte. Dies führte in der Schlange vor der Besuchergalerie oft zu Unmut zwischen den Menschen, die Assange und die Pressefreiheit unterstützen wollten. Ich sehe das als einen sehr effektiven Einsatz einer „Teile und herrsche“-Taktik der britischen Behörden. Ich könnte diese Aufzählung noch eine ganze Weile fortsetzen. Nils Melzer hat das Agieren der Justiz in seinem Buch über den Fall Assange sehr treffend auf den Punkt gebracht:

Denn wenn die Grundrechte einer Person über einen Zeitraum von zehn Jahren in allen Verfahren aller involvierten Behörden in jedem Stadium systematisch verletzt werden, wenn jedes dagegen ergriffene Rechtsmittel jedes Mal versagt, und wenn die übergeordneten Behörden trotz zahlreicher Hinweise und Beschwerden in keinem Fall korrigierend eingreifen, dann kann beim besten Willen nicht mehr von normalen Unregelmäßigkeiten ausgegangen werden, wie sie auch in funktionierenden Rechtsstaaten hin und wieder vorkommen können.“

Während der insgesamt über sechs Wochen andauernden Anhörungen wurde nie (!) dem Antrag der Verteidigung stattgegeben, die beantragt hatte, dass Assange während der Verhandlungen bei seinem Anwaltsteam sitzen konnte. Stattdessen musste er in diesen Wochen in einem Glaskäfig sitzen, von dem er kaum mit seinem Anwaltsteam kommunizieren konnte – all das, obwohl Assange nie als gewalttätig aufgefallen ist. Am Ende all dieser Erniedrigungen musste dann Julian Assange einen faulen Kompromiss eingehen und, wie er selbst am Tag seiner Freilassung sagte, sich des Journalismus für schuldig bekennen. Und nein, es war nicht ein funktionierender Rechtsstaat, der ihn auf freien Fuß setzen ließ. Interessanterweise konnte man in den letzten Monaten des Auslieferungsverfahrens in Großbritannien den Eindruck bekommen, als gäbe es eine Art Rechtsstaat. Meine persönliche Sicht dazu ist, dass der Deal (Erpressung) zwischen den USA und Assange schon so weit fortgeschritten war, dass es sich die britischen Justizbehörden erlauben konnten, den rechtsstaatlichen Anschein zur Schau zu stellen, weil man wohl wusste, dass Assange wahrscheinlich sowieso freigelassen würde. Das ist zugegebenermaßen eine Vermutung, begründet auf meiner Beobachtung der Geschehnisse seit Anfang 2019.

Du erzählst von Unterstützern, von Mahnwachen, von Plakataktionen, von Besuchen bei Anhörungen. Wie hast Du die Unterstützung für Julian Assange erlebt, konntest Du selbst helfen? Wie hast Du die Behandlung der Unterstützer wahrgenommen, wie die Behandlung von Dir als Zeitzeuge?

Wie eingangs erwähnt, einige Unterstützer waren schon seit dem Jahr 2010 an Julian Assanges Seite. Ich kann fast sagen, dass sich dieses Unterstützen verselbstständigt hat. Aus dem Londoner Unterstützerkreis wurde eine Art Familie mit gegenseitigem Vertrauen, mit Zwistigkeiten, mit Freundschaften, Skandälchen usw. und mit einem Gefühl der Geborgenheit. Und doch waren sich die Leute auch darüber im Klaren, dass es stets um etwas sehr Ernstes ging. Ich selbst habe, so gut es ging, praktisch geholfen. Für den Unterstützer Ciaron O’Reilly, der im Freien vor der ecuadorianischen Botschaft kampierte, haben wir eine Art Schlafkiste gebaut. Manchmal gelang es mir, einen Streit zu entschärfen und die Wogen zu glätten. Ich hoffe, dass ich letztlich ein kleines, ein minimales „Bisschen“ zur Freilassung von Julian Assange beigetragen habe.

Insgesamt ließ man die Unterstützer recht frei agieren, wahrscheinlich, weil deren Zahl so gering war, dass sich die Behörden keine Sorgen machen mussten und der Protest immer gewaltfrei blieb, was wiederum zu Julian Assange passte und bis heute passt. Die meisten von uns hatten auch immer brav ihre Mobiltelefone dabei, Dank denen man uns orten kann. Nicht nur in London gibt es an jeder Ecke Kameras, und die allerwenigsten Menschen verschlüsseln ihre Emails. Es bleibt somit wenig Platz für Subversion. Die Gedanken sind momentan (noch) frei …

Die andere Seite: Einige Male wurden Unterstützer verhaftet, aber es blieb unklar, was das bezwecken sollte. Es schien mir keine konzertierte Kampagne der Behörden gewesen zu sein, vielmehr Unruhe stiften versus Unterstützer. Mal was Positives: Ich empfand die Londoner Polizisten zum Großteil als sehr umgänglich und teilweise ebenfalls relativ gut informiert. Doch sie waren und sind Teil der ständig weiter walzenden Machtmaschinerie. Jede Person (siehe Polizisten) muss für sich entscheiden, inwieweit sie dabei mitmacht.

Negativ: Die Behandlung durch die Gerichtsdiener war oft sehr willkürlich, so wie es ihnen im gegebenen Moment in den Kram zu passen schien. Manchmal wurde mein irischer Presseausweis anerkannt und manchmal nicht, obwohl die ausstellende Organisation, die National Union of Journalists, in beiden Ländern der gleiche Verband ist. Die von der australischen Aktivistin Alison Mason initiierten Mahnwachen vor dem Australia House, der australischen Botschaft in London, haben meiner Meinung nach sehr viel bewirkt. Ich glaube, die Botschaft war des wöchentlichen Auftriebs, des Lärms und des Aufsehens so überdrüssig, dass der wahrscheinlich Julian Assange ohnehin schon wohler gesonnene Premierminister Anthony Albanese es für nötig befand, sich für Assange einzusetzen. Dafür hat ihm Assange auch gedankt, indem er vor einiger Zeit zur Stimmabgabe für Albanese aufrief. Leider ist Alison Mason letztes Jahr kurz nach Assanges Freilassung an Krebs gestorben. R.I.P. (Rest in Peace, deutsch: Ruhe in Frieden).

Du hast aus London für die NachDenkSeiten geschrieben und die Kollegen um Dich herum erlebt. Wie haben diese es mit dem Fall Assange gehalten?

Die Medien im Vereinigten Königreich sind, wie auch in vielen anderen Ländern, durch Desinteresse vielleicht noch mehr aufgefallen als zum Beispiel in Deutschland. Das hatte auch zur Folge, dass es meines Wissens außer in London keinen nennenswerten Unterstützerkreis für Assange gab. Das war ja in Deutschland durchaus etwas anders, denn es gab in sicher 20 – manchmal auch kleineren – Orten Mahnwachen für Assange. Das fand ich immer beeindruckend, was die Mahnwachenden in Deutschland auf die Beine gestellt haben, auch mit der Online-Plattform FreeAssange.Eu. Es hat sich dann so ergeben, dass ich besonders mit den Berliner und den Mönchengladbacher Mahnwachenden in Kontakt stand. Ein großer Dank auch an das deutsche Netzwerk!

Zurück nach England: Überaus schäbig unter den britischen Medien war der Guardian. Zuerst hatte man von den WikiLeaks-Enthüllungen durch Mitmachen profitiert. Dann haben sich einige Mitarbeiter, aus welchen Gründen auch immer, mit Julian Assange überworfen und die Schuld dafür zu 100 Prozent Assange zugeschoben. So konnte man ihn wie eine heiße Kartoffel fallen lassen und dazu mit Lügen niedermachen, indem behauptet wurde, Trumps Wahlkampfmanager Paul Manafort habe Assange dreimal in der Botschaft in London besucht. Das konnte der Guardian nie belegen, obwohl das Gebäude in Knightsbridge zu der Zeit eines der am besten überwachten Häuser in London war. Auch im Gästebuch der Botschaft erscheint der Name Manafort nicht. Der deutsche Sender NDR fand später heraus, dass die Botschaft die Existenz der Manafort-Besuche noch vor der Veröffentlichung aktiv verneinte. Trotzdem befindet sich der Artikel weiterhin unkommentiert auf der Guardian-Webseite.

Den absoluten Tiefpunkt erreichte der Guardian mit einem Klatschartikel von Hadley Freeman, in dem es um Assanges angebliches Fehlverhalten in der ecuadorianischen Botschaft geht. In diesem Schmier-Artikel kommt aber weder vor, warum Assange überhaupt in die Botschaft flüchten musste, noch gibt es einen Funken Mitgefühl mit einem Menschen, der die seinerzeit letzten sieben Jahre ohne Sonnenlicht auf 20 Quadratmetern verbringen musste. Der ehemalige Vizekonsul Fidel Narvaez, der viel Zeit mit Assange in der Botschaft verbracht hat, hat sich mir gegenüber immer positiv über Assange geäußert, denn er hält große Stücke auf ihn. Assange hat sicher nicht immer alles richtig gemacht, was ja Teil unseres Menschseins ist, aber diese schäbige Behandlung, die ihm von den beteiligten Regierungen und vielen Medien zuteilwurde, die hat er nicht verdient. So etwas hat niemand verdient.

Du erzählst von Deinen Eindrücken und von den Unterstützern. Wie haben die einfachen Menschen, die Bürger auf der Straße über die Jahre auf Assange reagiert? Mein Eindruck war mitunter, so als Stichwort: Queen und Fußball sind wichtiger …

Ja, es gab und gibt auch in UK eine große Apathie, was die Themen des Tages angeht. Trotzdem muss ich sagen, dass ich die Menschen in London immer als freundlich und aufgeschlossen empfunden habe. Mit vielen konnte man über das Thema Assange reden und die allermeisten merkten, dass bei diesem Thema etwas faul war. Wie es auch sonst bis heute ein Grundgefühl gibt, dass die Dinge momentan in die falsche Richtung laufen und dass die Leute in den entscheidenden Positionen fast alle Integrität und Verhältnismäßigkeit verloren haben. Ich denke viel darüber nach, wie man Abhilfe schaffen kann, denn sich zu informieren mag zwar gut sein, aber es wird sich wohl nur etwas ändern, wenn die einzelnen Menschen Taten oder Vermeidungen folgen lassen.

Rückblickend wird nun gesagt, dass sich alle Anschuldigungen als haltlos, falsch, ja infam erwiesen haben. Assange ist frei, seit nunmehr einem Jahr. Was bleibt von dieser großen, tragischen, von Mächtigen verursachten Geschichte?

Ja, was bleibt? Das Wichtigste ist wohl, dass die Kampagne zur Freilassung von Julian Assange von Erfolg gekrönt war und bleibt. Das macht mir irgendwie Mut. Es bleiben die Veröffentlichungen von WikiLeaks, die uns die Korruptheit und Machtversessenheit unserer sogenannten Eliten vor Augen führen. Und man darf nicht vergessen, dass es bei vielen der Dinge, die enthüllt wurden, um handfeste Verbrechen geht. Für mich ganz persönlich bleiben Freundschaften und Begegnungen mit interessanten Menschen, die mit dem Herzen am richtigen Fleck. Da ist die Journalistin Diana Johnstone zu nennen, die den wichtigen Brief an den Erzbischof von Canterbury angestoßen hat. Da ist Alexander Mercouris von The Duran, der mir immer wieder wichtige Einblicke in den Fall gegeben hat. Ich habe unzählige engagierte Menschen getroffen, die nie im Rampenlicht stehen wollten und die ich hier auch nicht namentlich erwähnen kann oder will.

Was auch bleibt, ist eine beeindruckende Situation, die Julian mutig gemeistert hat. Als er aus der Botschaft geschleift wurde, hat er laut und deutlich und andauernd „UK resist!“ gerufen („Vereinigtes Königreich, Widerstand leisten!“). Das sagte er nach all dem, was er alles die vorherigen Jahre in UK ausgehalten hatte. Was bleibt weiter, was ist? Eine Person, Assange, wurde vergangenes Jahr aus unmenschlichen Haftbedingungen gerettet, während die Bundesregierung das schlimmste Handeln der israelischen Regierung mit ihrer Armee in Palästina bis heute geradezu aktiv unterstützt und auch den sinnlosen Krieg in der Ukraine mit weiteren Waffen anheizt. In diesem Fall geschieht das auch trotz des Risikos, dass Russland irgendwann vielleicht die Geduld verliert oder so sehr in die Enge getrieben wird, dass es Deutschland womöglich unter Beschuss nimmt. Ich verstehe nicht, wie die vielen Politiker und Leitartikler vergessen können oder ausblenden, dass Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion überfallen hat und dass dieser Überfall bis 1945 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete. Es ist für mich heute offensichtlich, dass Russland angesichts der fortwährenden NATO-Osterweiterung irgendwann nervös werden musste …

Hast Du etwas davon gehört, dass es eine Entschuldigung Großbritanniens gegenüber Julian Assange gibt oder eine Entschuldigung seitens der führenden Medien, die ihn einst wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen haben und deren Artikel über ihn von Häme durchzogen waren?

Nein. Ich glaube auch nicht, dass es eine Entschuldigung geben wird, weder vonseiten der Regierung noch von den Medien, die sich entschuldigen könnten oder sollten. Ich weiß aber auch nicht, ob das wirklich wichtig ist oder ob das für Julian Assange noch eine Rolle spielt. Ich glaube, bei den Medien gab es in allen Ländern die gleiche Mischung aus Lethargie, Folgsamkeit und Gemeinheit.

Wie ist jetzt die Lage? Der amtierende Regierungschef ist ein Falke, ein Reaktionär, die Briten rüsten auf, U-Boot-Pläne inklusive. Das Soziale wird weiter geschleift. Was sagen die einfachen Menschen auf der Insel?

Die Lage im Vereinigten Königreich scheint immer prekärer zu werden, und die wirtschaftliche Situation ist seit Brexit nicht rosig. Zu Premier Keir Starmer fällt mir ein, dass er zu Beginn von Assanges Botschaftsasyl der Chef des Crown Prosecution Service war, also der Boss der Staatsanwaltschaft der Krone. Diese Behörde scheint die Lösung des schwedischen Auslieferungsverfahrens betreffs Assange aktiv hintertrieben zu haben. Von ihm ist wohl auch keine Entschuldigung zu erwarten. Gerade hörte ich, dass er der unpopulärste Premierminister seit Beginn der Meinungsumfragen sei, aber da ist er vielleicht nur einer unter vielen.

Noch mal zu Julian Assange. Hast Du aktuelle Infos zu Julian? Wie geht es ihm? Man sah ihn öffentlich in Rom zu den Trauerfeierlichkeiten für Papst Franziskus, in Cannes bei den Filmfestspielen. Vergangenes Jahr weilte er in Straßburg, wo er bei einer wichtigen wie beeindruckenden Menschenrechtsanhörung Rede und Antwort stand. Und noch etwas, Moritz: Gibt es vielleicht neue Julians, die sein Schaffen fortsetzen?

Ich habe keine wirklichen Insiderinfos zu Julian Assange. Auch ich habe mich seit letztem Oktober etwas zurückgezogen aus der Nachrichtenwelt, weil bei mir andere Dinge anstanden und weil ich vieles einfach zu deprimierend finde. Ich hoffe aber, dass das lediglich eine Ruhepause ist. Ich mache mir viele Gedanken, wie man Pressefreiheit und Freiheit im Allgemeinen verteidigen oder bzw. überhaupt erreichen kann. Womit wir wieder bei den Gedanken wären … Ende Mai hat ein Film über Assange, „Der 6 Milliarden Dollar Mann“, in Cannes einen Preis gewonnen. Bei der Preisverleihung in Frankreich sah Julian Assange gesund und munter aus, aber laut seiner Frau Stella will er noch weiter zu Kräften kommen, bevor er öffentliche Interviews gibt. Ich weiß, dass er wohl mit einigen Unterstützern und dem Assange-Archiv in Dessau in Kontakt steht. Und nein, bis jetzt hat sich noch kein neuer Julian Assange hervorgetan. Es werden aber glücklicherweise immer wieder Dinge geleakt, die die Herrschenden lieber unter Verschluss halten würden. Die Zukunft wird es uns zeigen.

Moritz Müller, vielen Dank für dieses Gespräch und weiterhin alles Gute!

Titelbild: darko m/shutterstock.com