‚Attacs und Merkels Ziele sind identisch.’ Ja, Sie haben richtig gelesen.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

In meiner Tagebuchnotiz vom 5.6. zur Kommunikationsstrategie von Angela Merkel bin ich bewusst freundlich mit Heiner Geißlers Rolle umgegangen. Sein neues Interview, diesmal mit FAZ.NET vom 6.6., irritiert jedoch gehörig. Da wird allen Ernstes behauptet, die Ziele von Attac „sind identisch mit denen der Bundeskanzlerin“. Hier wird das Bild der inhaltlichen Orientierung von Bundeskanzlerin Merkel auf nicht mehr nachvollziehbare Weise beschönigt. Und Attac muss dafür herhalten. Dieser aktuelle Versuch einer Gehirnwäsche zwingt mich dazu, an einige markante Positionen und Einlassungen, Taten und Unterlassungen von Angela Merkel zu erinnern.

  1. Zunächst die einschlägigen Zitate aus dem Interview Geißlers mit der Überschrift „Proteste können Merkel nützen“ mit FAZ.NET:

    FAZ.Net: „Sie sind kürzlich Attac beigetreten. Könnte das Netzwerk ohne G-8-Gipfel überhaupt auf seine Anliegen aufmerksam machen?

    Geißler: Mehr als hundert Organisationen von Greenpeace bis Pax Christi, vor allem aber auch Attac haben die G-8-Treffen gegenüber 1975 gewaltig verändert. Die reichen Länder wurden durch die Proteste sensibilisiert. Die Bundesregierung oder wenigstens die Kanzlerin hat erkannt, dass die friedlichen Demonstranten ihre Bundesgenossen sind.“ ….

    FAZ.NET: Bei Attac machen auch linksextremistische Gruppen mit. Fühlen Sie sich in dieser Gesellschaft wohl?

    Geißler: …. Die Ziele von Attac sind klar formuliert, und sie sind identisch mit denen der Bundeskanzlerin: der Globalisierung ein menschliches Gesicht zu geben. Im Einzelnen mag es Unterschiede geben, aber beiden geht es darum, dass wir in der Wirtschaft nicht über Leichen gehen.

    FAZ.NET: Sie glauben nicht, dass Sie Ihrer Parteivorsitzenden, der gastgebenden Bundeskanzlerin, in den Rücken fallen?

    Geißler: Das Gegenteil ist der Fall. Die Demonstrationen können der Kanzlerin nützen, auch wenn einige Betonköpfe dies nicht kapieren.

  2. Zur angeblichen Identität der Ziele von Attac und von Angela Merkel.

    Ich würde ja gerne glauben, wir hätten eine Bundeskanzlerin, die die Ziele von Attac teilt und damit gesellschaftspolitisch auf der Linie dieser wichtigen Organisation liegt. Dann stände es relativ gut um unser Land. Aber ich kann diesen Glauben Heiner Geißlers beim besten Willen nicht teilen. Darauf wies ich am 4.6. schon hin und möchte stichwortartig einige Hinweise auf die inhaltliche und ideologische Positionierung und die faktische Politik unserer Bundeskanzlerin geben. Das ist kein Versuch einer umfassenden Beschreibung der Unterschiede, zumal einiges davon schon in früheren Texten steht:

    Erstens: Wertegemeinschaft mit den USA und Wertedistanz zu Russland

    In dieser Woche erschien (passend zum Gegenstand dieser Analyse) ein Interview mit Angela Merkel im Spiegel. Der Spiegel zitierte in einer Frage den SPD-Fraktionschef Peter Struck mit seiner Empfehlung einer „Äquidistanz“, also einem gleichen Maß von Nähe und Distanz zu den USA und zu Russland.
    Angela Merkel sieht das anders. Sie erwähnte zwar die strategische Partnerschaft mit Russland, aber die transatlantische Wertegemeinschaft sei für sie nach wie vor etwas sehr besonderes. Es gäbe, was die politische Struktur Russlands und Europas anbelangt, größere Unterschiede als zwischen Europa und USA.
    Angela Merkel machte dabei keinen Unterschied zwischen dem Verhältnis zu den Regierungen und zum Volk der jeweiligen Länder.
    Mit den USA gibt es eine Wertegemeinschaft, mit Russland nicht. Das ist doch wohl nicht auf der Linie von Attac?!
    In Bezug auf Nähe und Distanz der Völker ist diese Einschätzung völlig absurd. In Bezug auf die Regierungen und politischen Systeme würde ich heute wie Peter Struck auch von Äquidistanz sprechen. Das politische System mit George W. Bush und ziemlich verkommenen Medien, mit Guantanamo und den rechtsstaatswidrigen Praktiken der Geheimdienste unterscheidet sich nicht mehr fundamental vom System der Russen.
    Außerdem: Wo ist die Wertegemeinschaft mit den heute in Polen Regierenden? Ich empfinde keine. Wo mit der ehemaligen Regierung Italiens unter Berlusconi? Mit Berlusconi verbinden mich keine Werte. Übrigens auch nicht mit Frau Thatcher. Und ob mit Herrn Sarkozy, das wird sich noch zeigen müssen.
    Man muss diese Relationen durchspielen, um zu begreifen, wie grotesk die Einschätzung unserer Bundeskanzlerin ist. Ihr Denken ist zudem friedenspolitisch ein Rückschritt.
    Die Nähe Angela Merkels zu den herrschenden Kreisen in den USA wird auch sichtbar in der Unterstützung für eine transatlantische Freihandelszone. Das wird angesichts der Leistungsbilanz-Differenzen vermutlich ein Geschäft zulasten Europas, jedenfalls Deutschlands.

    Zweitens: Strukturreformen, Hartz IV und seine Verschärfung, Riester-Rente und Privatisierung der Altersvorsorge, Privatisierung wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen und Unternehmen

    Angela Merkel ist mir nicht dadurch aufgefallen, dass sie sich von den zerstörerischen Reformen der Schröder-Zeit distanziert hätte. Im Gegenteil. Angela Merkel hat mit einer andauernden Agitation zur angeblich völlig neuen Situation eine Menge ideologische Vorarbeit für die so genannten Strukturreformen geleistet. Sie zog durch das Land mit der Behauptung, unser Land müsste sozusagen neu gegründet werden. Das war die fundamentalste Agitation zur Vorbereitung der Zerstörung wichtiger Einrichtungen wie der gesetzlichen Rente und auch zur Privatisierung. Die Ernte zu Gunsten mächtiger Interessen wird heute von den CDU-Ministerpräsidenten besonders eifrig eingefahren. Typisch dafür ist Hessen, wo nahezu alles unter den Hammer die Privatisierung kommt. Typisch dafür sind die so genannten Hochschulfreiheitsgesetze, mit denen unsere Universitäten mehr und mehr der Wirtschaft ausgeliefert werden.
    Die Steuerpolitik zu Gunsten der großen Einkommen und Vermögen ist unter der Ägide der Bundeskanzlerin Angela Merkel vehement fortgesetzt worden. War dabei im Ringen mit der SPD und den von ihr regierten Ländern die CDU unter dem Vorsitz von Angela Merkel der Bremser?

    Drittens: Eine arbeitnehmerfeindliche Makropolitik.

    Just am Tag des Erscheinens von Geißlers Interview erhöhte die europäische Zentralbank wieder einmal den Leitzins. Damit zeichnet sich ein Abbremsen des Aufschwungs ab, bevor dieser die Mehrheit der arbeitenden und arbeitssuchenden Menschen erreicht hat. Wir sind wieder wie im Jahr 2000 dabei, ein zartes Pflänzchen Konjunktur zu zertrampeln.
    Dahinter steckt die Angst der für die Geldpolitik Verantwortlichen vor einem Anstieg der Löhne und Gehälter. Die reale Lage der Arbeitnehmerschaft ist nicht im Blick dieser Politik. Diese Politik wird von Menschen gemacht, die unausgesprochen gerne eine Reservearmee von Arbeitnehmern sehen, weil dies aus ihrer Sicht die beste Garantie für die Zähmung der Gewerkschaften und für das Niederhalten der Löhne und Masseneinkommen ist.
    Sind das die Ziele von Attac? Doch wohl nicht. Würde Angela Merkel die Ziele der Kritiker der jetzigen Wirtschaftspolitik teilen, dann müsste sie gegen die Bremspolitik der Europäischen Zentralbank intervenieren, jedenfalls sich deutlich zu Wort melden.
    Das geschieht nicht. Und so stehen wir wieder vor der Gefahr, unsere labile Konjunktur abzuwürgen.

    Viertens: Wo sind die Vorstöße zur besseren Regelung der internationalen Finanzströme und zu einer fairen Behandlung von Arbeit und Kapital bei den Steuern? Wo sind die konkreten Vorschläge und Durchsetzungsstrategien zum Austrocknen der Steueroasen?

    Fehlanzeige. Die Linie von Attac ist für mich bei Angela Merkel nicht erkennbar.

    Heiner Geißler hat im zitierten Interview gesagt, unser Wirtschaftssystem sei überholt, die Kapitalinteressen dominierten einseitig die Welt. …
    Das ist schön gesagt und klingt wunderbar in den Ohren jener, die das System überwinden wollen. Aber wie denn? Welches System soll es stattdessen sein? Welches ist erreichbar? Die Tobin-Steuer alleine bringt kein anderes System. Sie muss deshalb nicht falsch sein. Was kann man tun, um der Vorherrschaft der Kapitalinteressen entgegenzuwirken? Was tut Angela Merkel konkret? Wo bleibt die Kontrolle der Internationalen Finanzindustrie, mit der auch Parteifreunde der Bundeskanzlerin eng verflochten sind? Siehe auch dazu der Tagebucheintrag vom 5.6.: https://www.nachdenkseiten.de/?p=2389
    Vielleicht geschieht wegen dieser engen Verflechtung nichts.

    Fünftens: Angela Merkel ist eng verflochten mit den eigentlich Mächtigen im Land – mit Liz Mohn von Bertelsmann, mit Friede Springer und mit den Spitzen der Wirtschaft

    Das ist die Basis ihrer Macht. Und sie wird nichts ernsthaft tun, was diese Macht gefährden könnte. Auf Geißlers Behauptung, Angela Merkel habe einen Kurswechsel weg von der wirtschaftsnahen Linie des Leipziger Parteitag der CDU vollzogen, war ich schon in der Tagebuchnotiz vom 4.6. eingegangen.

    Sechstens: Raketen in Polen und Tschechien.

    Mir muss entgangen sein, dass Angela Merkel bei George W. Bush gegen dessen Pläne interveniert hat. Liegt diese de facto Zustimmung zum Beginn einer neuen Aufrüstungsrunde auf der Linie von Attac?

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