Was ist von Rürups und des SVR „Reformdividende“ zu halten?

Ein Artikel von Karl Mai

Das untersuchte für Sie Karl Mai und kommt im Anschluss an zwei kritische Einträge (“Der so genannte Sachverständigenrat ist nur noch eine Maschinerie der Meinungsmache.” und “Die Glaubenskongregation Sachverständigenrat hat mal wieder getagt.”) in den NachDenkSeiten zu einem ähnlichen Urteil: Nichts.

Zur „Reformdividende“ des Sachverständigenrates

Von Karl Mai

– Weitere kritische Anmerkungen im Anschluss an Albrecht Müller –

BIP-Wachstum als „Reformdividende“?

Die deutsche Wirtschaft ist seit Anfang 2006 in eine quantifizierbare Belebungsphase der Konjunktur eingetreten, die bereits schon wieder leicht rückläufig erscheint. Die Prognosen für das Jahr 2008 sind verhaltener, werden aber vom Optimismus einiger Experten gestützt.

In dieser Lage wird leicht vergessen, dass diese zeitweilige Belebung die Mehrheit der Wirtschaftsforscher und Sachverständigenrats-Experten zuvor tatsächlich völlig überrascht hatte – es gab dafür keine zutreffende Voraussage aus dieser Richtung. Im Gegenteil: man hatte sich auf eine intensive Fortsetzung bzw. Verschärfung des „Reformkurses“ eingeschossen, ohne den vorgeblich auf keine stärkere neue Konjunkturbelebung zu hoffen sei.

Um so größer war dann die Verlegenheit, als dennoch ein höherer BIP-Zuwachs gegenüber 2005 für 2006 eintrat – dessen tiefere Ursachen zwar nicht überzeugend aufgedeckt waren, aber der sogleich als erfolgreiches Ergebnis der deutschen Reformpolitik vereinnahmt wurde.
Im internationalen Vergleich erreichten die BIP-Zuwachsraten in Deutschland keineswegs eine reforminduzierte Spitzenposition in der EU. Man hätte schon daraus leicht schließen können, dass der Reformimpuls nicht spezifisch nachweisbar sein dürfte.

Tabelle 1: Realer BIP-Zuwachs im Internationalen Vergleich 2005 und 2006 in % im Vergleich zum Vorjahr

Land %-Wachstum 2005 %-Wachstum 2006
Deutschland 0,9 2,7
Spanien 3,5 3,9
Finnland 2,9 5,5
Frankreich 1,2 2,0
Dänemark 3,1 3,1
Österreich 2,0 3,1
Schweden 2,9 4,4
Großbritannien 1,9 2,8
EU-27 1,7 3,0
USA 3,2 3,3

Quelle: BMF, Monatsbericht September 2007, S. 113

Bis auf Frankreich hat Deutschland 2005 und 2006 eine auffallend niedrige BIP-Wachstumsrate, die den Effekt der neoliberalen Reform desavouiert.

Doch inzwischen hat der SVR die deutsche Entwicklung analysiert (SVR, Jahresgutachten 2007/2008, S. 8 ff.) und kommt zu folgendem Ergebnis – ich zitiere ausführlich:

Viele dieser Entwicklungen gehen zumindest mittelbar auf noch in der vorangehenden Legislaturperiode ergriffene Politikmaßnahmen zurück. Daher wird im Kontext der Diskussion über die Natur der jüngsten wirtschaftlichen Belebung mit dem Begriff der Reformdividende operiert als dem Ertrag bisheriger Strukturreformen, die man als Investition in die Wachstumsperspektiven der deutschen Volkswirtschaft verstehen kann. Eine solche Dividende verstanden als ein höheres Potenzialwachstum, eine niedrigere Beschäftigungsschwelle, ein Abbau der persistenten Arbeitslosigkeit, solider finanzierte Sozialversicherungen und strukturell ausgeglichene öffentliche Haushalte schlägt sich nicht zuletzt in größeren Handlungsspielräumen bei der Verfolgung wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele nieder. Die genaue Quantifizierung eines so verstandenen Ertrags der bisherigen Reformen ist nicht möglich, denn dies würde die Kenntnis einer hypothetischen Entwicklung ohne diese Maßnahmen erfordern.

(Hervorhebung von K.M.)

Eine bloße Hypothese

Damit ist allerdings gesagt, dass eine empirische Überprüfung der Hypothese vom Reformimpuls objektiv nicht möglich sei – mithin bleibt sie eine verbale Arbeitshypothese ohne Verifizierung.
Und diese verbale Qualifikation erfolgt für die Reformimpulse dann wie folgt:

Die aufgeführten Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt, in den Systemen der Sozialen Sicherung und bei der Lage der Öffentlichen Haushalte sowie die deutlich gestiegene Attraktivität des Wirtschaftsstandorts sind aber Befunde, die nicht allein durch zyklische Faktoren erklärt werden können, sondern deutliche Hinweise darauf, dass es eine Reformdividende gibt.

Man kann den zitierten Satz auch so lesen: eine Reformdividende gibt es, weil es … eine Reformdividende gibt, was auf eine Tautologie hinausläuft. Es ist also eher Glaubenssache einzusehen, dass die „Reformen“ im Sozialstaatsbereich folgendes bewirkt haben könnten: ein „Potentialwachstum“ „eine niedrigere Beschäftigungsschwelle“, „einen strukturell ausgeglichenen öffentlichen Haushalt“, wenn keine exportvermittelte Belebung der Konjunktur über Deutschland hereingebrochen wäre.

Und dann steigert sich der SVR geradezu in euphorischer „Glorie“:

Für die Bürger besteht diese Reformdividende in einem steigenden Beschäftigungsgrad, sichereren Arbeitsplätzen und verbesserten Einkommensperspektiven und für die Unternehmen in nachhaltig verbesserten Standortbindungen.

Also „Reformdividende“ als Wundermedizin! Der Anstieg prekärer Arbeitsplätze und unsicherer Arbeitsplätze als „verbesserte“ Einkommensperspektive muß wie Hohn in den Ohren der Betroffenen klingen. Allerdings haben sinkende Reallöhne die Standortbindungen der Unternehmen erhöht – zu Gunsten explodierender Profite.

Der Politik erwächst daraus eine wiedergewonnene finanzpolitische Handlungsfähigkeit, die es erlaubt, in einer künftigen konjunkturellen Schwächephase anders als in den Jahren 2002 bis 2005 antizyklisch zu reagieren und die Wirkungen der automatischen Stabilisatoren nicht durch Abgabenerhöhungen oder Leistungskürzungen beschneiden zu müssen.

Dass in einer solchen Schwächephase zwangsläufig Mehreinnahmen des Fiskus wieder Mindereinnahmen weichen müssen, sollte diesen Optimismus doch etwas fragil erscheinen lassen – immerhin wollen manche Politiker künftig auf Netto-Neuverschuldungen verfassungsmässig ganz verzichten.
Im übrigen bleibt noch festzustellen, dass wir auch jetzt noch im Bundeshaushalt und in den meisten Landeshaushalten ein Haushaltsdefizit haben, das erst im mittelfristigen Zeitraum planmäßig abgebaut werden soll. Außerdem: nach dem Jahr 2000 wurde die Konjunktur auch durch eine prozyklisch und Geld- und Fiskalpolitik schwer geschädigt. Diese gründete auch auf einer falschen Analyse des Sachverständigenrates im Jahresgutachten vom 15.11.2000. (Siehe dazu NachDenkSeiten: “Die Glaubenskongregation Sachverständigenrat hat mal wieder getagt.”)

Nachdem der SVR definitiv erklärt, die Reformdividende könne empirisch-statistisch nicht exakt nachgewiesen werden, sollte er auch nicht erwarten, dass die Reformgegner ihrerseits die Unwirksamkeit der Reformen in Verbindung mit der Konjunkturbelebung exakt aufzeigen. Inzwischen kann man ja auch noch feststellen, dass in zahlreichen Ländern ohne derartige aktuelle Reformen der Wachstumsschub durchaus größer ist. (Tab. 1)

Effekt der Arbeitsmarktreformen?

Prof. Bofinger hat als Opponent im Sachverständigenrat für den deutschen Arbeitsmarkt eine statistisch-analytische Verifizierung des Reformeffekts eingebracht. Nachdem er dort einige markante Aspekte des Arbeitsmarkts empirisch für die beiden letzten Konjunkturzyklen verglichen hatte, kommt er zu dem Schluß:

Ein eindeutig positiver Effekt der Arbeitsmarktreformen lässt sich nicht feststellen. (Pkt. 513)

Und zur Langzeitarbeitslosigkeit bemerkt er:

Auch bei einer differenzierteren Betrachtung der Entwicklungen am Arbeitsmarkt fällt es schwer, die Erfolge der Arbeitsmarktreformen zu erkennen. So liegt beispielsweise bei den Langzeitarbeitslosen die Rate der Abgänge aus der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr mit 1,8 vH nur geringfügig höher als der Wert des Jahres 2000, der 1,7 vH betragen hatte. (Pkt. 511)

Ebenso ist der angebliche Effekt der Reformen auf das deutsche Produktionspotential nicht nachweisbar. Bofinger hierzu:

Wenig überzeugend ist in diesem Zusammenhang auch der Verweis auf ein höheres Wachstum des Produktionspotenzials (Ziffer ???). Dessen Wachstumsrate hat sich zwar gegenüber dem Tiefstand von 1,1 vH im Jahr 2004 wieder etwas erhöht, sie liegt aber mit 1,6 vH nicht höher als im Jahr 1999, das heißt vor der Umsetzung der Wirtschaftsreformen in Deutschland.“ (Pkt. 512)

Reformeffekt auf das Haushaltsdefizit?

Kommen wir nun zur „reforminduzierten“ Verminderung des Haushaltsdefizits. Hier wäre zunächst daran zu erinnern, dass die Reformen bei den Gewinn- und Unternehmenssteuern ab dem Jahre 2000 erst dafür gesorgt haben, dass der öffentliche Haushalt in eine ernsthafte Krise geriet. Das kann man beim Finanzminister direkt nachlesen:

Die Mindereinnahmen der Steuerreform 2000 wurden vom BMF wie folgt vorausgesehen: 2001 23,2 Mrd. Euro, 2002 9,8 Mrd. Euro, 2003 15,0 Mrd. Euro, 2004 12,8 Mrd. Euro und 2005 32,1 Mrd. Euro. Insgesamt von 2001 bis 2005 92,9 Mrd. Euro. (BMF, „Steuerreform 2000“, Sonderbericht Aug. 2000, S. 30.)

Und weiter:

Wäre die Einnahmequote seit Beginn des Defizitverfahrens gegen Deutschland konstant geblieben, hätten die auf der Ausgabenseite erreichten Konsolidierungserfolge ausgereicht, die 3-%-Grenze des Maastricht-Vertrages bereits im Jahr 2004 zu unterschreiten“, bemerkt das BMF aktuell.(BMF, Monatsbericht 7/2007, S. 38)

Nach einer Analyse des BMF vom August 2007 „führen die Anhebung der Umsatzsteuer und die dynamischen Zuwächse bei den gewinnabhängigen Steuern zu einem Anstieg der volkswirtschaftlichen Steuerquote von 23 % auf rund 24 % im Jahre 2007.“ (BMF, Monatsbericht 8/2007, S. 62/63) Für 2006 berechnet das BMFi eine Senkung der nominalen Defizitquote um 1,6 % des BIP. Natürlich geht in diese verbesserte Defizitlage auch das größere absolute BIP-Wachstum als Basis in den Defizit-Quotienten ein. Die erhöhten Steuereinnahmen und die erhöhte BIP-Leistung überblenden den Effekt einer moderaten Ausgabenentwicklung des Fiskus auf die Defizitquote.
Daher kann die „Sparpolitik“ schlechthin nicht das Sinken der Defizitquote für sich politisch reklamieren.

Reformeffekt auf dem Binnenmarkt?

Bleibt am Ende noch das gängige Argument der Reformer in der Fragestellung:

Ohne diese Reformen wäre die eingesetzte Konjunkturbelebung 2006/2007 noch weitaus geringer ausgefallen!

Hier sei daran erinnert, welche Kaufkraftverluste und Verminderungen der effektiven Massennachfrage die reformerischen „Heldentaten“ in Deutschland verursacht haben – der Binnenmarkt konnte sich von daher nicht annähernd proportional der Erhöhung der Einkommens- und Vermögensentwicklung der oberen Einkommensgruppen erweitern und folglich auch keine Basis für eine starke Binnenkonjunktur bilden. (Tab. 2)
Viele Ökonomen sind darin einig, dass die expansive Exportwirtschaft – jenseits und unabhängig von den Reformen – hauptsächlich die konjunkturelle Belebung getragen hat.
Der Sachverständigenrat, der jetzt über eine mangelnde Binnennachfrage klagt, hat wohl damit seine Legende von der umfassenden Reformdividende für die Bürger selbst ad absurdum geführt.

Bleibt ein partieller Effekt der Reformen auf die überproportionale Entwicklung der Gewinn- und Kapitaleinkommen in Deutschland. Hier wird in einer Verschiebung bei der Verteilung sichtbar: die Masseneinkommen zeigten den geringsten Zuwachs. (Tab. 2)
Damit offenbart sich der tatsächliche Sinngehalt des Reformeifers und der bejubelten „Reformdividende“ als eine verkappte Apologetik zu Gunsten der Kapital- und Vermögensbesitzer, deren Einkommen sprunghaft anstieg.

Tabelle 2: Einkommensentwicklung 2005 und 2006 in % zum Vorjahr lt. VGR

  2005 2006
Volkseinkommen 1,5 3,6
Unternehmens- und Vermögenseinkommen 6,2 7,2
Arbeitnehmerentgeld -0,7 1,7
Masseineinkommen -0,2 0,3

Quelle: IWH, „Wirtschaft im Wandel“, 2. Sonderausgaben 2006 und 2007, S. 66 bzw. S. 68

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