Wir sind alles kleine Kapitalisten

Ein Artikel von Joke Frerichs

Ich erfuhr die frohe Botschaft während der morgendlichen Zeitungslektüre: Da stand es – schwarz auf weiß.: „Viele Arbeitnehmer und einfache Bürger sind inzwischen längst kleine Kapitalisten.“ Diese überaus erfreuliche Mitteilung fand sich in einem Artikel von Peter Hahne (nein, nicht der bekannte Neokonservative vom ZDF), sondern eines Redakteurs vom Kölner Stadt-Anzeiger. Ich gestehe, dass ich für derlei Hinweise überaus empfänglich bin. Was in der Zeitung steht, ist bekanntlich wahr. Erbaulich auch die Nachricht, dass unser Finanzminister Steinbrück den Bankmanagern einmal so richtig die Leviten gelesen hat. Viele seien der Komplexität ihrer Aufgaben nicht gewachsen. Hat der Mann sich in der Veranstaltung geirrt oder ist das schon eine Auswirkung der strikt anti-kapitalistischen Parteitagsbeschlüsse der SPD; gar des Bekenntnisses zum „demokratischen Sozialismus“? Die Zukunft wird es zeigen.
Ein Zwischenruf zum Schmunzeln von Joke Frerichs.

Und hatte nicht erst kürzlich unser aller Bundespräsident den Managern ins Gewissen geredet, es mit den exorbitanten Gehältern nicht zu übertreiben. Nun ja – von ihm wissen wir ja, dass er die Dinge immer zur Unzeit beim Namen nennt und seine Appelle stets die nachhaltigsten Wirkungen zeitigen.
Man reibt sich verwundert die Augen und vermeint die Erschütterung in diesen Kreisen förmlich zu spüren.

Was aber hat nun unseren Redakteur Hahne zu seiner kühnen Behauptung bewogen. Hahne berichtet über eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung (HBSt), in der festgestellt wird, dass die Nettolohnquote, also der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, trotz des sog. Aufschwungs erneut gesunken ist. Gegenüber 2006 von 40,5 % auf 38,8 %. Die Forscher weisen darauf hin, dass die Kaufkraft der Arbeits-Einkommen nur noch ein Viertel der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausmacht. Damit sei eine nachhaltige Entwicklung der Binnennachfrage und damit auch von Wachstum und Beschäftigung mehr als zweifelhaft und der vom Export getriebene Aufschwung wegen der erkennbaren weltwirtschaftlichen Risiken äußerst labil.

Der Bericht der HBSt enhält noch weitere aufschlussreiche Details: Während die besagte Nettolohnquote seit 1960 von 55,8 % auf 38,8 % gesunken ist, ist die Lohnsteuerbelastung im gleichen Zeitraum von 6,3 % auf 18,3 % gestiegen. Demgegenüber nahm die Steuerbelastung auf Gewinn- und Vermögenseinkommen von 20 % auf 7,1 % ab.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Unternehmensgewinne in den letzten zehn Jahren sich nahezu verdoppelt haben: von 238,4 Milliarden Euro auf 472,5 Milliarden.

Angesichts dieser beeindruckenden Zahlenreihen stellt denn auch unser Autor lapidar fest, „dass die Ungleichverteilung der Einkommen zugenommen habe. Das ist richtig, bekannt und in der Tat auch ein sozialpolitisches Problem.“ Um dann zu der überraschenden Schlussfolgerung zu gelangen: „Doch für die Behauptung, der rückläufige Anteil der Lohneinkünfte am Volkseinkommen drücke automatisch die Kaufkraft der Arbeitnehmer, trifft das schon nicht mehr so ganz zu.“

Eine derart einfache Deutung verbietet sich seiner Meinung nach schlicht. „Wirtschaftliche Zusammenhänge sind leider komplexer, als viele wahrhaben wollen. Es bringt wenig, stets den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu beschwören.“
Dabei dachte ich, dass die genannten Zahlen eigentlich ganz aussagekräftig sind. Aber dem ist offenbar nicht so. Was ich gänzlich übersehen habe, aber dank der Aufklärung unseres Autors nunmehr weiß, ist: „Der größte Teil der abhängig Beschäftigten bezieht heute auch Einkünfte aus anderen Quellen – ob aus Aktienfonds, Spareinlagen oder aus Versicherungen. Wir sind alle kleine Kapitalisten.“

Also ihr Rentner, Arbeitslosen, geringfügig Beschäftigten, Normalverdiener – und all ihr anderen, die ihr von der „etatistisch grundierten Wohlfühlpolitik“ der Großen Koalition profitiert – jetzt mal ran an die Sparschweine und eure sonstigen Revenuequellen. Ganz sicher habt ihr doch noch irgendwo heimliche Einkünfte versteckt: z.B. Mieteinnahmen, Gewinnbeteiligungen, Zinseinkünfte u.a.m. Her damit, wir verraten`s auch nicht dem Finanzamt.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste, Florian Gerster (SPD), der Löhne von acht Euro in seinem Unternehmen für das Maximum hält. Das ist der Mann, an dessen Reformeifer die Bundesagentur fast kollabiert wäre und deren Folgen noch bis heute spürbar sind. Das ist auch der Mann, der sich als erste Amtshandlung in der BA das Gehalt auf 800.000 verdoppelte, das er m.W. auch nach seiner überaus erfolgreichen Tätigkeit und dem leider viel zu späten Ausscheiden weiter bezog. Gerster verfügt über tiefe Einsichten in die Grundmechanismen unseres Wirtschaftslebens: „Wenn die Produktivität keinen Lohn von neun oder zehn Euro hergibt, kann man ihn auch nicht zahlen“. Mal abgesehen davon, wie er die „Produktivität“ seiner Briefträgern misst – diese Leute verdienen bei einer 40-Stunden-Woche doch immerhin 320 Euro (das Trinkgeld nicht eingerechnet). Damit lassen sich doch bei etwas gutem Willen Aktien kaufen oder Zinserträge erwirtschaften. Oder auch – wofür neuerdings auf der ersten Seite meiner Tageszeitung geworben wird: die Riester-Rente einschließlich der bis zu 51 % staatlichen Förderung sichern. (Wobei diese, so ist dem Kleingedruckten zu entnehmen, von der jeweiligen „Lebenssituation“ abhängig ist). Das meint wohl: Wer viel verdient, bekommt auch einen höheren staatlichen Zuschuss. Oder sollte ich das wieder einmal falsch interpretieren?

Man sieht: meine Tageszeitung bietet so einiges. Schlagzeile heute: „2008 wird Strom richtig teuer“. Während also auf diese Weise „unsere Lohn-Nebenkosten“ für Strom, Gas, Benzin, Grundnahrungsmittel usw. steigen, lohnt es sich doch wenigstens für die vier Energie-Monopolisten, die sich seit dem Jahr 2000 bei den Gaspreisen mit einer bescheidenen Steigerungsrate von 76 % und beim Strompreis um noch bescheidenere 46 % zufrieden gegeben haben. Also sage keiner, Privatisierungen brächten nichts. (Von daher versteht sich doch wohl von selbst, dass jegliche Polemik gegen die Bahn-Privatisierung reine Ideologie ist).

Auch sonst gibt es viel Interessantes in meiner Zeitung: So kämpft die Stadt Köln künftig noch energischer gegen „Wildpinkler“: sie schafft in den Boden versenkbare Urinate an. Und dann erschüttert mich zutiefst die folgende Nachricht: Der Kassenwart des Sparclubs „Die verarmten Millionäre“ aus Humboldt-Gremberg ist mit den 40 000 Euro Sparguthaben der Mitglieder dieses Clubs durchgebrannt – kurz vor der geplanten Auszahlungsfeier. So wie ich meine Zeitung kenne, wird sie eine Spendenaktion ins Leben rufen.

Und dann wird doch tatsächlich der Superstürmer des FC Köln nachts um 3.30 Uhr mit 1,4 Promille im Blut erwischt. Auch das noch, wo der FC gerade einen solchen Lauf hatte und zwei Spiele in Folge gewonnen hat. Ein schwerer Rückschlag für den Verein – was sage ich: für die ganze Stadt. Und eine echte moralische Herausforderung für die Clubleitung: Soll sie den Mann sperren und auf weitere Tore von ihm verzichten oder soll sie in üblicher Kölscher Manier Moral Moral sein lassen. Schließlich gab der Mann an, auf einem Weihnachtsmarkt gewesen zu sein. Da kann man doch mal ein Auge zudrücken. Ein Torschütze braucht schließlich einiges an Zielwasser.

Obwohl meine Zeitung, wie man unschwer erkennen kann, täglich einiges Erbauliche bereithält, freue ich mich schon jetzt auf die diesjährigen Weihnachtsansprachen. Vor allem die unseres Präsidenten. Das ist halt das Schöne an dieser Jahreszeit, dass die Gemüter empfänglich für Märchenstunden werden. Ich hoffe nur, dass er unsere Eliten in Wirtschaft und Politik nicht allzu hart anpackt. Was wären wir schließlich ohne sie!