Denkfehler 17: »Wir leben vom Export.«

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Der Bericht in SpiegelOnline über „WORLD TRADE REPORT Deutschland bleibt Exportweltmeister“ bringt mich zwangsläufig dazu, einen eigenen Text aus „Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden …“ ins Netz zu stellen. Denn Sie finden den einschlägigen Denkfehler Nr. 17 beispielhaft bei SpiegelOnline und bei dem zitierten Staatssekretär des BMWi, Pfaffenbach formuliert. Bei SpiegelOnline heißt es:
“Exporte gesteigert, Titel verteidigt: Deutschland bleibt auch 2007
Exportweltmeister.“ Diese undifferenzierten Lobeshymnen auf Exporte sind rational nur schwer zu verstehen. Albrecht Müller.

Auszug aus: Albrecht Müller, „Die Reformlüge.“ Seiten 212-215

Denkfehler 17: »Wir leben vom Export.«

Ob der Satz »Wir leben vom Export«, den wir so häufig gebrauchen, richtig oder falsch ist, das ist schwer zu sagen. Es hängt von den Umständen ab. Um das Problem und den dahintersteckenden Irrtum zu verstehen, ist es hilfreich, zwei Denkweisen kennenzulernen, mit denen Ökonomen wirtschaftliche Vorgänge darzustellen versuchen. Das ist zum einen die sogenannte güterwirtschaftliche Betrachtung oder das Denken in real terms, und das ist zum anderen das Denken in Geldgrößen oder in monetary terms. Zur Analyse mancher Probleme ist es hilfreich zu lernen, in real terms, also in güterwirtschaftlichen Größen, zu denken. Das muss man bewusst lernen, weil wir normalerweise im Alltag immer in Geldgrößen denken und auch wirtschaftliche Vorgänge danach bewerten. Man sagt zum Beispiel: »Ich verdiene 2000 Euro«, und man sagt nicht: »Ich verdiene so viel, dass ich mir soundso viel Brot und Würste und Kleider und ein Stück Auto kaufen könnte und so weiter.«
Auch in unseren außenwirtschaftlichen Beziehungen denken wir zuallererst immer an das Geld, an die Geldgröße. Wenn ein Land mehr exportiert als es importiert, dann ist das gut, so sagen wir, weil wir dann Devisen einnehmen oder Geldforderungen gegenüber Ausländern erwerben. »Wir leben vom Export«, so lautet deshalb die gängige Meinung.
Doch zunächst einmal ist dazu anzumerken, dass dieser Satz in seiner Schlichtheit nicht richtig ist. Wir leben von Gütern – von den Gütern, die wir hier produzieren, und von solchen, die wir importieren. Damit kleiden wir uns, damit fahren wir auf unseren Straßen herum; was wir an Nahrungsmitteln produzieren und ­importieren, essen wir. Das sind die Produkte, von denen wir ­leben. Das erkennt man, wenn man in real terms denkt.
Erst wenn wir fragen, wie wir das bezahlen, was wir essen, trinken, nutzen und als Dienstleistung in Anspruch nehmen, kommt die Frage auf, wo und wie wir dieses Geld verdienen. Das geschieht zu etwa 70 Prozent bei der Produktion von Gütern für unseren inländischen Markt und zu etwa 30 Prozent bei der Produktion von Gütern für den Export.
Nun produzierten wir im Jahr 2002 für 43 Milliarden US-Dollar mehr Güter, als wir zur Finanzierung der hier produzierten und konsumierten Güter und zur Finanzierung der Importe und Vermögenstransfers brauchten. Das heißt, wir hatten einen Leistungsbilanzüberschuss von 43 Milliarden Dollar. Darüber freuen wir uns in der Regel, weil wir sagen: »Wir leben vom Export, also ist es gut, wenn man Überschüsse erzielt, weil wir dann Devisen verdienen.« Dabei müssten wir beim zweiten Nachdenken eigentlich wissen, dass es ziemlich dumm ist, mehr Waren zu liefern, als man bekommt. Was nutzen uns die Devisen, die wir für den Saldo von 43 Milliarden US-Dollar bekommen? Was nutzen uns die Schuldscheine der Amerikaner oder der Russen? Wir essen keine US-Schatzanleihen und auch keine Dollars und schon gar keine Rubel. Wir essen Bananen und fahren Autos und kleiden uns mit Baumwolle, Wolle oder modernen Kunststoffen. Mit Dollars bekleidet sähen wir ziemlich nackt aus. Und selbst Gold zu essen ist nicht sonderlich appetitlich. Und doch glauben so viele an den Maßstab Geld.
In der üblichen Bewertung, wir lebten vom Export, steckt dennoch ein Körnchen Wahrheit, genauer gesagt, es stecken darin zwei Körnchen Wahrheit:

Zum einen führt der internationale Warenaustausch, also Exporte und Importe, dazu, dass man größere Serien und Stückzahlen produzieren kann. Somit steigt über diese Exporte und über die Importe (!) die Produktivität unserer Volkswirtschaft insgesamt, und zudem bekommen wir auf diese Weise überhaupt erst Güter, die wir in unserem eigenen Land gar nicht ­haben – das sind nicht nur Bananen, sondern auch Edelmetalle, Mineralöl und so weiter.

Zum zweiten hat der Satz, wir lebten vom Export, dann eine gewisse Berechtigung, wenn ein Land mangels Kapazitätsauslastung unterbeschäftigt ist und Arbeitslosigkeit herrscht, wie das bei uns zur Zeit der Fall ist. Wenn wir keine Exportüberschüsse hätten, stünde es um unsere Arbeitslosenrate und auch um die Schulden des Staates noch schlechter. Diejenigen, die für den inländischen Markt produzieren, sind für die Beschäf­tigung allerdings genauso wichtig. Das sind die Handwerker, die Dienstleister, die Fabriken, die Menschen im öffentlichen Dienst, in den Schulen, auf den Müllautos.
Also: Die Möglichkeit, durch eine Ankurbelung des Exports und die Erzielung von Exportüberschüssen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, ist nicht unbedeutend, aber erstens muss man dabei beachten, dass diese Beschäftigung immer nur ein kleiner Teil dessen ist, was insgesamt an Beschäftigung erfolgt und nötig wäre. Und zweitens muss man bedenken, dass eine solche Politik der Exportüberschüsse auf Dauer nicht zu halten ist. Die Exportüberschüsse eines Landes sind nämlich zugleich immer die Defizite anderer Länder. Auf Dauer kann aber ein Land letztlich nicht Leistungsbilanzdefizite hinnehmen, nur weil andere mit Leistungsbilanzüberschüssen ihre Beschäftigungsprobleme lösen wollen. Das ist auch für die gesamte Weltwirtschaft nicht gut. Ein Blick auf die Entwicklung der ­Leistungsbilanzdefizite der USA zeigt das. Wenn ein Land so massiv, wie die USA es in den letzten zehn Jahren getan haben, auf Kosten des Rests der Welt lebt, also immer mehr importiert als es exportiert, dann besteht die Gefahr einer massiven Spekulation gegen die Währung dieses Landes. In dieser Gefahr sind wir heute.

Es gibt also gute Gründe, Exporte und Exportüberschüsse neutraler zu betrachten und Einvernehmen darüber zu erreichen, dass möglichst alle Länder versuchen, über einen längeren Zeitraum ihre Leistungsbilanzen einigermaßen ausgeglichen zu halten. Das heißt in unserem konkreten Fall, dass wir endlich etwas tun müssen, um die Produktion für den inneren Bedarf anzukurbeln. Das geht nur, wenn im Inneren mehr Nachfrage entsteht und diese ­zusätzliche Nachfrage den Drang zum Export entlastet.
Es wäre daher ganz gut, wir würden uns angewöhnen zu ­denken: Wir leben von dem, was wir produzieren, und von dem, was wir importieren. Und wir finanzieren es mit dem Erlös dessen, was wir hier bei uns für den inländischen Markt produzieren, und dem ­Erlös dessen, was wir exportieren. Eine etwas differenziertere ­Betrachtungsweise tut auf jeden Fall gut.