Immer wieder sonntags: Einkaufen oder nicht? Das ist hier die Frage

Anette Sorg
Ein Artikel von Anette Sorg

Gleich nach dem fehlenden Tempolimit auf deutschen Autobahnen würden wir in Deutschland vermutlich die seit 20 Jahren gelockerten Ladenöffnungszeiten als Zeichen unserer Freiheit vehement verteidigen. Gewiss ist das Einkaufen entspannter geworden, seit Geschäfte nicht mehr Punkt 18:30 Uhr die Tore schließen. Zumindest für die Einkaufenden. Für die im Einzelhandel Beschäftigten sollten die verlängerten Öffnungszeiten neue Jobs und für die Händler mehr Einnahmen generieren. Diese Rechnung ist wohl nicht ganz aufgegangen.

Auch verkaufsoffene Sonntage werden – besonders in Städten – gerne allzu oft angeboten. Dazu gibt es zwischenzeitlich auch die eine oder andere kritische Stimme. Anette Sorg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Gewerkschaft Ver.di trägt ihre Auffassung zu den „verkaufsoffenen Sonntagen“ aktuell gerichtlich aus und klagt gegen verschiedene Städte, die das geltende Recht sehr großzügig auslegen. Am 12.7. hat sich die ARD in einem „Plusminus“-Beitrag ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt.

Über die „Flutung“ mit verkaufsoffenen Sonntagen sprachen wir mit Melanie Rechkemmer, Verantwortliche bei Ver.di für den Fachbereich Handel im Bezirk Mittelbaden-Nordschwarzwald/Baden-Württemberg.

Im Interview wird ein Dilemma deutlich: Obwohl die Gewerkschaft ver.di sich mit ihren Aktionen für die Belange der im Einzelhandel Beschäftigten einsetzt, wird dies von den Betroffenen nicht zwangsläufig wertgeschätzt. Die Ursache liegt in der Vielzahl an Menschen (überwiegend Frauen) mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, die auf Sonntagsarbeit und Sonntagszuschläge angewiesen sind.

Das Interview:

NDS/Anette Sorg: Wessen „heilige Kuh“ sind denn die verkaufsoffenen Sonntage? Die der Bürger/potentiellen Käufer? Die der Händler? Oder die der Marketing-Beauftragten der Städte?

Melanie Rechkemmer: Eindeutig die der Händler. Hier wird der Verdrängungswettbewerb im Handel auf den Sonntag ausgeweitet. Es geht darum, den Profit dem Konkurrenten abzujagen.

NDS: Was stört Ver.di an verkaufsoffenen Sonntagen und warum?

M.R.: In erster Linie stört uns, dass wir momentan die rechtsstaatlichen Aufgaben der Gemeinden und Städte übernehmen, die ihre Aufgaben zu diesem Thema sehr schlecht ausführen und Eigeninteressen in den Vordergrund stellen.

NDS: Gab es denn vor den Klagen bereits andere – „niedrigschwelligere“ – Aktionen seitens Ver.di?

M.R.: Außer unserem regelmäßigen schriftlichen Protest vor Absegnung der verkaufsoffenen Sonntage durch die Gemeinderäte arbeiten wir in der Allianz für den freien Sonntag mit und bieten darüber Fachkonferenzen an. Auch auf Betriebsversammlungen und unseren 1. Mai – Veranstaltungen sensibilisieren wir für das Thema Sonntagsarbeit.

NDS: Ver.di beruft sich auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2015, richtig? Hattet Ihr Erfolge mit euren Klagen? Wenn ja, wo?

M.R.: Das Bundesverwaltungsgerichtsurteil aus dem Jahre 2015 hat uns ermöglicht, nun tatsächlich gegen die augenscheinlichen Verstöße der Gemeinden bei deren Genehmigungspraxis von Sonntagsöffnungen zu klagen. Dass wir mit dem Schutz des „Freien Sonntag“ im Recht sind, bekamen wir bereits in einem Urteil vom Bundesverfassungsgericht im Dezember 2012 mitgeteilt.

NDS: Wie waren denn die Reaktionen der Betroffenen? Der Verantwortlichen in den Städten? Der Händler?

M.R.: Die Händler sehen uns als Zerstörer des kleinen und mittelständischen Handels, die an den Sonntagen „eigentlich nur dem Internet-/Versandhandel entgegentreten wollen“. Die Städte gehen davon aus, dass ver.di einfach den Schuss nicht gehört hat und gegen den Trend agiert. Sie sagen, „das Volk nimmt den verkaufsoffenen Sonntag an, braucht und will ihn“.

NDS: Ich vermute, die Medien haben die Interventionen von Ver.di nicht nur wohlwollend begleitet? Gibt es besonders erwähnenswerte „Produkte“?

M.R.: Da gibt es tatsächlich den einen oder anderen „Auswuchs“. Da ist z.B. der Herausgeber einer Tageszeitung, der uns als ewiggestrig übelst beschimpft und unsachlich wird. Da kann man nur sagen: Thema verfehlt und im Ton vergriffen. Klar, dass man die Hand, die einen füttert (über Zeitungsanzeigen) nicht beißt.

Auch die immer wieder angebrachte Aussage „Die Menschen wollen doch den Einkaufs-Sonntag – das sieht man an den Menschenmengen, die ihn nutzen“, nervt mich inzwischen. Klar nutzen sie den verkaufsoffenen Sonntag – wenn er da ist. Ich bin sicher, sie würden ihn aber auch nicht vermissen, wenn es ihn nicht gäbe.

Am allerübelsten ist aber immer wieder diese Haltung: „Die Betroffenen könnten sich ja auch einfach einen anderen Job suchen, wenn es ihnen nicht passt oder hätten halt bei der Berufswahl genauer hinschauen müssen, auf was sie sich da einlassen.“ Diese Aussagen höre ich nicht nur von Pressevertretern, sondern auch von Städtevertretern, Händlern und Kunden. Eine solche Einstellung macht mich meist sprachlos, weil sie egoistisch und unsolidarisch ist und vor Ignoranz nur so strotzt.

NDS: Wie erklärst du dir, dass die Medien so einseitig Partei für die Einkaufenden und Händler beziehen und so wenig die Belange der Beschäftigten im Blick haben? Der oben verlinkte Artikel der „Welt“ scheint mir eine der wenigen Ausnahmen zu sein.

M.R.: Zum einen benötigen die Zeitungen Ereignisse, über die sie berichten können. Zu den verkaufsoffenen Sonntagen werden Sonderseiten gedruckt. Zum anderen haben es sich einige Medien zur Aufgabe gemacht, Meinungsunterschiede anzuheizen und skandalisiert in Ihren Produkten wiederzugeben.

NDS: Wie reagierst du, wenn Verantwortliche der Städte sagen, die verkaufsoffenen Sonntage seien eine wichtige Einnahmequelle für die Händler und ein Instrument, um dem ausufernden Onlinehandel Paroli bieten zu können?

M.R.: Da gibt es nur eine Antwort drauf: „Macht Ihr Eure Arbeit anständig und setzt dadurch einen ordentlichen Rahmen für den Wettbewerb im Handel, der nicht auch noch über eine weitere Erweiterung der Ladenöffnungszeiten auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.“ Der Handel wird sich auch ohne das Zutun der Städte und Gemeinden zum Nachteil des stationären Einzelhandels verändern. An der Kannibalisierung in den jeweiligen Handelszweigen ist im Übrigen nicht ausschließlich der Onlinehandel schuld.

NDS: Sicher gibt es auch in deinem Umfeld Familien und Andere, die das Angebot, sonntags einzukaufen, gerne nutzen und deshalb auch verteidigen. Wie gehst du mit ihnen und ihren Argumenten um?

M.R.: In meiner Familie gibt es Beschäftigte, die im Einzelhandel arbeiten und deshalb meine Positionen ohne große Diskussion teilen – sie wissen, wie wertvoll ein verlässlicher gemeinsamer freier Tag ist, der nicht Wochen zuvor per Urlaub oder Arbeitsplanung bei allen Familienmitgliedern geregelt werden muss. Dieses Argument versuche ich in Gesprächen auch Anderen zu vermitteln. Freunden, die in anderen Branchen arbeiten, stelle ich meist die Frage, ob sie auch dann für Sonntagsarbeit wären, wenn sie selbst unter den Bedingungen wie im Handel arbeiten müssten. Die meisten sprechen sich dann im Falle ihrer eigenen Betroffenheit gegen die Sonntagsarbeit aus.

NDS: Die Reaktionen der im Handel Arbeitenden auf ver.dis gerichtliche Schritte sind doch hoffentlich durchweg positiv?

M.R.: Auch die Betroffenen haben teilweise eine andere Haltung als die Gewerkschaft zu den verkaufsoffenen Sonntagen. Der Sonntagszuschläge wegen. Für jemanden, der nicht wirklich viel verdient, wenige Wochenarbeitsstunden hat und sich aussuchen darf, ob er am Sonntag arbeiten möchte oder nicht, ist es lukrativer, sonntags zu arbeiten. Wobei wir hier von tarifgebundenen Unternehmen sprechen. Fraglich ist nämlich, ob in der Branche durchweg Sonntagszuschläge bezahlt werden. Ich bezweifle das.

NDS: Was wünscht sich eine Gewerkschaftsverantwortliche in der aktuellen Situation? Einsicht? Unterstützung? Eine gesellschaftliche Debatte? Oder ganz etwas anderes?

M.R.: Wenn ich drei Wünsche hätte, wären es diese:

  • Behörden, die gesetzeskonforme Entscheidungen treffen und sich nicht den Trends ergeben.
  • Kunden, die einsehen, dass die Sonntagsöffnungen lediglich mehr Unruhe in ihr Leben bringen und auch negative Folgen für sie selbst haben können.
  • Händler, die einsehen, dass Kunden nicht unendlich viel Geld haben und dass der Euro, der sonntags in Ihrer Kasse landet, am Dienstag nicht bei Ihnen ausgegeben wird.

NDS: Vielen Dank für deine Einschätzungen und Denkanstöße

Nachtrag: