Zusammenführen statt spalten. Eine Kritik des Aufrufs „Solidarität statt Heimat“

Ein Artikel von:

Die NachDenkSeiten gehen auf diesen Aufruf noch einmal ein. Mit einem kritischen Text von Hans Werner Horn[*] – siehe unten. Schon 9.667 Menschen haben diesen Aufruf unterzeichnet. Unter den Unterzeichnern sind auffallend viele Akademiker und Theaterleute. Die große Zahl macht nicht Mut, im Gegenteil. Ihr Aufruf trägt zum Zerfall der kritischen Öffentlichkeit bei. Unterschrieben haben auch Menschen, die wir als mutig, kreativ und kritisch kennen. Zwei will ich nennen: die hessische Politikerin Andrea Ypsilanti und den Regisseur Volker Lösch. Rätselhafte Unterschriften. Warum habt Ihr nicht wenigstens darauf bestanden, dass – wenn schon der Begriff „Heimat“ gebraucht wird – für „Solidarität und Heimat“ geworben wird und die akademische Abgehobenheit aus einem solchen Text verschwindet? Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es folgt der Text von Hans Werner Horn:

Zusammenführen statt spalten
Zur Kritik des Aufrufs „Solidarität statt Heimat“

Der Aufruf „Solidarität statt Heimat“ hat viele zur Unterzeichnung bewegt. Eine nähere Durchsicht zeigt aber, dass er von etlichen Widersprüchen, Ungereimtheiten und Diffamierungen begleitet ist. Im Folgenden soll dem in einigen Punkten kritisch nachgegangen werden.

Solidarität statt Heimat“ – ein fragwürdiger Gegensatz

Die Überschrift des Aufrufs “Solidarität statt Heimat“ zeugt von einem wenig durchdachten Aufmacher. Oder aber sie ist bewusst so gewählt, was noch schlimmer wäre. Warum?

  • Im ersteren Fall wird ein Gegensatz konstruiert, der rationaler Überlegung nicht standhält. Solidarität bezeichnet u.a.die Gestaltung des Lebens in einer Gesellschaft der Menschen miteinander, man tritt füreinander ein, man unterstützt sich gegenseitig, etc.. Der Ort, an dem solidarisches Handeln stattfindet bzw. stattfinden kann, ist weder auf die Heimat, den Wohnort oder das Land begrenzt, sondern nur durch konkrete Beschreibung des solidarischen Handelns zu definieren. Dies können z.B. Wirtschaftsbeziehungen sein, die einen gerechten Austausch beinhalten, unterstützende Maßnahmen und Hilfe bei Erdbeben oder auch Hilfe bei der Ernte im Heimatort, Griechenlandsolidarität oder Unterstützung bei Überschwemmungen im heimatlichen Umfeld. Also gibt die Formel “Solidarität statt Heimat” keinen Sinn.
  • Im zweiten Fall wird so getan, als ob Heimat ein antisolidarischer Begriff wäre bzw. unvereinbar mit solidarischem Handeln sei. „Jeder Mensch braucht einen Ort, an den er sich wenden kann“ (Dostojewski), das kann z.B. der Ort sein, den ein Individuum als Heimat bezeichnet, der nach obiger Lesart als unsolidarisch betitelt würde. Hier zeigt sich eine ganz perfide Herangehensweise an die Problematik, um die es im weiteren Text geht. Rüpelhaft, ohne die Menschen in ihren Lebensbezügen auch nur annähernd ernstzunehmen, unterstellt man denen, die sich einer Heimat zugehörig fühlen, unsolidarisches Verhalten. Die, die hier Solidarität plakativ hochhalten, stellen den Heimatbegriff unreflektiert in eine rechte Ecke und diffamieren damit all diejenigen Menschen, die sich solidarisch engagiert für andere Menschen einsetzen. So spaltet man eine Gesellschaft!

Übrigens müssen geflüchtete Menschen auch ihre eigene Heimat verlassen, was die meisten wahrscheinlich nicht freiwillig tun. Sie kommen als Gestrandete oft an den Rändern Europas an.

Politische Strategie gegen rechte Politik – Fehlanzeige

Dann bleibt der Aufruf unklar und unkonkret. Differenzierung und Benennung ist nicht gefragt:

„Die politischen Debatten über Migration und Flucht werden seit Monaten von rechts befeuert und dominiert – und kaum jemand lässt es sich nehmen, auch noch mit auf den rechten Zug aufzuspringen“.

– Wer ist „kaum jemand“? Wenn sich die AutorInnen des Aufrufs dazu entschließen würden, etwas konkreter zu werden und zu benennen, wen sie damit meinen, könnte man sich damit ja auseinandersetzen.

Es führt nicht weiter, zu betonen, dass sich die AutorInnen „ausdrücklich der politischen Logik einer sich verfestigenden rechten Hegemonie“ verweigern. Wichtiger sind Fragen nach Strategien und politischem Handeln, die der gegenwärtigen Politik etwas entgegensetzen können, um einer Politik der Ausgrenzung wirksam zu begegnen. Ausgrenzung betrifft nicht nur Flüchtlinge. Aber, und dies muss betont werden, setzt die herrschende Politik darauf, auch auf dem Rücken der Flüchtlinge Stimmungen zu erzeugen, die eine rechte Politik befeuern. Verschließt man jedoch die Augen vor realen Problemen in der Gesellschaft und unterstellt zudem noch, dass Menschen, die zumindest in ihrer Heimat (Ort / Gemeinde / Kiez, etc.) versuchen, ihr Leben so zu gestalten, dass es ihnen einen gewissen Schutz vor dem Stress des Alltages bietet, unsolidarisch seien, dann zeugt dies von großer Abgehobenheit. Die können sich nur Menschen leisten, die nicht auf die teils zermürbenden Beziehungen im Arbeitsleben angewiesen sind, wie da sind: Niedriglohnsektor, befristete Arbeitsverträge, unbezahlbarer Wohnraum, Erniedrigungen durch Hierarchien, psychische Erkrankungen, Löhne und Gehälter, die sich viele der Unterzeichner des Aufrufs wohl kaum vorstellen können, etc.. Aufklärung über Zusammenhänge von politischer Funktionalisierung der MigrantInnen im Sinne rechter Politik tut Not. Was dabei aber nicht vermieden werden darf, das ist die Benennung konkreter Probleme, die im Kontext praktischer kapitalistischer Sozial- und Wirtschaftspolitik entstehen, auch dort, wo links-grün mitregiert.

Eindimensionalität im Denken bedeutet Ausschluss statt Integration

Der Aufruf zeugt von einer Eindimensionalität, die den gegenwärtigen Erfordernissen nicht gerecht wird. Die Zwischenüberschrift: „Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus“ verdeutlicht, dass die AutorInnen des Aufrufs „Solidarität statt Heimat“ auch hier wieder eine falsche Konstruktion erfinden. Natürlich ist Rassismus ein Problem. Migration ist allerdings auch ein Problem. Es sind jeweils Probleme in mehrerer Hinsicht: für die betroffenen Menschen, für die Gesellschaften, in Bezug auf Lernprozesse, etc… Die Gegenüberstellung, wie sie im Aufruf vorgenommen wird, führt nicht weiter. Wer ernsthaft behauptet, dass Millionen von Flüchtlingen weltweit auf der Suche nach einer neuen Heimat kein Problem für die damit verbundenen Herausforderungen darstellen, der ist wirklich realitätsfern.

Unappetitlich wird der Text, wenn er ausführt: „Rassismus ist wieder ganz normales Alltagsgeschäft geworden, im hohen Haus in Berlin wie beim Bäcker um die Ecke. Bei „Spitzenpolitikern“ und Normalsterblichen, bei „Liberalen“ – und selbst unter Linken“. Da auch hier auf eine Konkretisierung verzichtet wird, bleibt der Leser ratlos. Ist hier konkret Axel Troost, Leipzig (Vorstandssprecher Institut Solidarische Moderne) angesprochen ?, oder MdB Lorenz Gösta Beutin, Kiel (Linksfraktion im Bundestag) ?, oder gar Bernd Riexinger, Stuttgart (Parteivorsitzender DIE LINKE und MdB), die den Text unterschrieben haben und nun auf der Suche des Rassismus in ihrem Inneren sind? Es dürfte doch nicht so schwerfallen, zumindest beispielhaft Roß und Reiter zu benennen.

Verleumdungen und Diffamierungen lösen die Probleme nicht

Nein, was hier geschieht, erinnert an üble Methoden, die sich Menschen zu eigen machen, wenn diffamiert werden soll und ohne konkrete Benennung auf Gruppen abgezielt wird. Die VerfasserInnen des Aufrufs wissen das auch. Zumindest müssten sie es wissen. Auch dürfte klar sein, dass Diskussionen über Positionen nicht gewollt sind. Dennoch greifen sie skrupellos zu folgender Formulierung:

„Auch Teile der politischen Linken machen Zugeständnisse an rechte Rhetorik und reaktionäre Ideen und verklären die Ablehnung von Migrant*innen sogar zum widerständigen Moment, ja unterstellen ihr einen rationalen, klassenpolitischen Kern. Doch eines muss klar sein: Rassismus ist niemals ein Akt des Widerstands. Und ebenso klar ist, dass der neue Rassismus, ob von rechts oder links, ohne uns läuft.“

Es ist einfach unredlich, wie hier gearbeitet wird. Wenn keine Argumente zur Hand sind, unterstellt man imaginären Gruppen oder vielleicht auch Personen, sie würden MigrantInnen ablehnen und diese Ablehnung auch noch klassenpolitisch funktionalisieren. Unklar bleibt auch, was mit der „neue Rassismus“ gemeint ist. Wenn Bernd Riexinger (Vorsitzender Partei Die Linke) vor der Belegschaft von Amazon redet, unterstützt er dann „soziale Vorrechte und Abschottung“, weil tarifvertragliche Regelungen eingefordert werden?

Das Ausblenden der sozialen Realitäten wird nicht funktionieren“ schreiben die VerfasserInnen. Dem kann man beipflichten. Dabei wird man den Eindruck nicht los, dass sie die sozialen Realitäten nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen wollen. Sie meinen wahrscheinlich nicht sich selber, wenn es im Text heißt: „Der deutsche Pfad von Sparpolitik und einseitiger Exportorientierung schließt viele Menschen von Wohlstand aus, schafft prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen und nährt Zukunftsängste. Seine Probleme lassen sich jedoch nicht durch eine ständische oder nationalistische Wohlfahrtsstaatlichkeit lösen, die auf soziale Vorrechte und Abschottung setzt – und auf weltfremde Phantasien einer „Steuerung“ von Migration und des wohligen Privatglücks in der „Heimat“ “. Dies ist zynisch. Nach dem Motto: Was im Rahmen nationalstaatlicher Regelungen erkämpft wurde, darf keinesfalls verteidigt, geschweige denn erweitert werden. Gerne würde man wissen, wer Probleme in der o. g. Form lösen will. Was ist eigentlich mit „ständische Wohlfahrtsstaatlichkeit“ gemeint? Sind es die gut bezahlten Professoren oder die schlecht bezahlten Altenpflegerinnen? Auch wäre es schön zu erfahren, wie sich die AutorInnen eine Beseitigung des Ausschlusses vieler Menschen vom Wohlstand vorstellen. „Steuerung“ kommt ja aus Gründen „weltfremder Phantasien“ nicht in Frage.

Bei dem Schlusssatz „Unsere Solidarität ist unteilbar – denn Migration und das Begehren nach einem guten Leben sind global, grenzenlos und universell“ wurde vergessen hinzuzufügen, dass auch das Kapital grenzenlos agiert. Geteilt wird da bekanntlich nicht so gerne. Aber dies ist ja nicht wichtig.

Gegen die politische Rechte hilft nur Solidarität statt Spaltung

Es scheint darum zu gehen, dass hier ein Aufruf auf den Weg gebracht wurde, der eine richtige Perspektive beinhaltet: Der Kampf gegen Diskriminierung und gegen Rassismus. Nur scheinen hinter dem Aufruf auch Kräfte zu stehen, die die Auseinandersetzung in der Partei Die Linke dazu benutzen wollen, die Linke in der Bundesrepublik zu schwächen. Obwohl sie die Partei ist, die konsequent gegen die Verschärfungen der Asylgesetzgebung, gegen Waffenhandel und Kriegseinsätze gestimmt hat, genau so für alle Initiativen eingetreten ist, die die Rechte der abhängig Beschäftigten, der MieterInnen, etc. stärken. Man könnte auf die Idee kommen zu glauben, dass auf eine üble Art der Kampf gegen die Gefahren von rechts geschwächt werden soll.

Deshalb: Zusammenführen statt spalten.

Prof. Dr. Hans Werner Horn
Berlin, 22.06.2018

Nachbemerkung Albrecht Müller: Im letzten Absatz des Textes von Hans Werner Horn steht etwas zum möglichen Motiv und den Hintergründen des Aufrufs. Wenn NachDenkSeiten-Leserinnen und -Lesern Belege dafür begegnen, bitte wissen lassen.


[«*] Hans Werner Horn, Jahrgang 1953, hat Werkzeugmacher gelernt, Erziehungswissenschaften studiert, sozialpädagogische Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen geleistet, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Forschungsprojekt zu politischen Orientierungen von Jugendlichen mitgearbeitet, ein Forschungsprojekt zu den Zukunftsvorstellungen von Kindern und Jugendlichen geleitet und war Studienleiter an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen.

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