Die seltsamen „Bevölkerungs-Prognosen“ des Statistischen Bundesamtes.

Ein Artikel von Gerd Bosbach

Am 23.2. übermittelte das ZDF-heutejournal absolut treuherzig die neuesten Bevölkerungsprognosen des Statistischen Bundesamtes. Man gewann den Eindruck, die wissen bis hinter das Komma, wie vielen Menschen in 50 Jahren im Osten oder im Westen leben werden. Ich dachte, die Quelle dieses Abenteuers sei das ZDF. Eine Täuschung. Das Statistische Bundesamt kann es nicht lassen. Dazu ein Beitrag des NachDenkSeiten-Freundes Gerd Bosbach. Albrecht Müller

Überraschende Hintergründe zur aktuellen Bevölkerungsdiskussion

In regelmäßigen Abständen schockiert uns das Statistische Bundesamt (StaBu) mit seinem Blick in die Zukunft. Letzte Blüte sind die Vorhersagen für das Jahr 2060: „Bevölkerung im Osten wird besonders schnell zurückgehen und altern.“ (Pressemitteilung vom 23.2.2010)
Im Detail weiß das Statistische Bundesamt dann beispielsweise, dass die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt von 2,352 Millionen Einwohnern im Jahre 2009 auf 1,347 Millionen im Jahre 2060 „schrumpft“. Angaben auf Tausend Einwohner genau gaukeln dabei eine scheinbare Sicherheit vor – oder mit Walter Krämer zu sprechen „Die Illusion der Präzision“.

Über den Irrglauben irgend eine gesellschaftliche Entwicklung 50 Jahre vorher sagen zu können, habe ich schon viel geschrieben. Deshalb hier nur zwei Hinweise:
Was konnte man 1960 für heute – 50 Jahre später – prognostizieren? Außer der Jahreszahl wohl eher nichts. Und die Bevölkerungs-Modellrechnungen des StaBu selbst aus dem Jahre 2003 haben sich schon heute als falsch erwiesen.

Dass mit Bevölkerungsprognosen Politik gemacht wird, haben wir bei der Privatisierung in der Rentenversicherung und ähnlichen Ansätzen für die Pflege schon schmerzlich erfahren. Neben der Globalisierung ist die Demografie meist ein Hauptargument, wenn der Sozialstaat beschnitten wird.

Heute muss ich Ihren Blick auf ein anderes sehr wichtiges Phänomen lenken:
Selbst die veröffentlichten Bevölkerungszahlen für heute sind falsch. Und dabei geht es nicht um 10 oder 10 Tausend, sondern um Millionen! Und noch schlimmer das Statistische Bundesamt weiß davon seit spätestens 2003!!!
Um nicht sofort als Miesmacher abgestempelt zu werden, zitiere ich mal das Amt selbst:

„Bevölkerungszahl vermutlich um 1,3 Millionen zu hoch“, lautet es in einer Pressemitteilung am 22.7.2008. Aber schon 2004 wird in der Fachzeitschrift des Amtes darauf hingewiesen: „Gemessen an den Ergebnissen der Haushaltsbefragung weisen die unbereinigten Melderegister … eine Karteileichenrate von knapp 4,1% auf.“ (Wirtschaft und Statistik 8/2004 [PDF – 242 KB])
Da die veröffentlichten Bevölkerungsdaten aus den Fortschreibungen mit Hilfe der Melderegister kommen, lässt die Fehlerquote von 4,1% auf einen noch höheren, als den zugegebenen Irrtum bei den Bevölkerungsdaten schließen. Vielleicht waren die 1,3 Millionen weniger eher eine Untertreibung und der Präsident des Hessischen Statistischen Landesamts lag mit seiner Schätzung näher an der Wirklichkeit: „Die Größenordnung könne bis zu 5 Prozent betragen, das wären gut vier Millionen Menschen.“ (Zitiert nach Welt Online, 10.7.2008)

Angesichts dieser Fakten müssen Mitteilungen wie „Im ersten Quartal 2009 ist die Zahl der Einwohner im wiedervereinigten Deutschland erstmals unter die 82-Millionen-Grenze gefallen.“ (Pressemitteilung StaBu vom 4.11.2009) schon als bewusste Irreführung aufgefasst werden. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das StaBu normalerweise nur die Jahresergebnisse zum 31.12. groß in die Presse bringt. Warum dann plötzlich die (falschen) Quartalsdaten?

Aber es kommt noch toller.

Nicht nur die reine Anzahl ist falsch, sondern in der Folge auch die berechneten Lebenserwartungen! Vor der knappen Erklärung zwei bezeichnende Zitate des Rostocker Max-Planck-Instituts für demografische Forschung:
Unter der Überschrift „Weniger Hochbetagte als gedacht“ heißt es:
„Die Fortschreibung in der amtlichen Statistik überschätzt die Bevölkerung, insbesondere im Alter 90 Jahre und älter. In den alten Bundesländern liegen die offiziellen Zahlen zum Ende 2004 bei Männern um rund 40 Prozent zu hoch.“ !!! (Demografische Forschung Nr. 1/2008)
Und schon fast lustig mutet die aus den Bevölkerungsdaten ermittelte Lang­lebigkeit von Ausländern in Deutschland an: „Diese Schätzungen zeigten eine außergewöhnlich hohe Lebenserwartung der Ausländer. Sie überstieg sogar die Weltrekordwerte japanischer Frauen.“ !!! (Demografische Forschung Nr. 3/2008 [PDF – 666 KB])

Auch hierfür sind die Gründe bekannt: Melderegisterleichen sterben nicht. Ist die reale Person schon lange tot, kann der Eintrag im falschen Melderegister noch lange weiter leben!
Aber nicht nur die zu viel gezählten Ältereen ergeben die Fehler. Auch für die jüngeren Gruppen gilt: Wenn die Bevölkerungszahl überschätzt wird, wird die Sterberate zu niedrig berechnet. Denn diese ergibt sich aus dem Verhältnis reale Tote der Altersgruppe zur entsprechenden Bevölkerungszahl. Und wenn der Nenner real kleiner ist, wird die tatsächliche Sterberate höher. Das ist bei jungen Gruppen kein großer Effekt, aber es führt auch dort zu einer Überschätzung der Lebenserwartung. Insider vermuten deshalb notwendige Korrekturen an der Lebenserwartung von bis zu drei Jahren! (Die Quelle kann zum Schutz der Personen hier leider nicht benannt werden.)

Auch diese Zusammenhänge sind den Fachleuten des StaBu bekannt. Deshalb wird auch an einem neuen Zensus im Jahre 2011 gearbeitet, um dann die Statistik wieder auf solide Füße zu stellen. Das ist gut so.
Aber warum wird in der Zwischenzeit mit wissentlich falschen Daten ständig in die Öffentlichkeit gegangen? Warum werden Hochrechnungen für das Jahr 2060 wie Fakten herausgegeben, wo man doch weiß, dass die Basis der Rechnung, die heutige Bevölkerungsstruktur und die Lebenserwartung massiv falsch ist?

Leider passt das auch in das Bild der Pressekonferenz zur letzten Bevölkerungs­modellrechnung im November 2009. Dort hat der Präsident bewusst mit absoluten Daten Panik gemacht, obwohl diese überhaupt keine Aussagekraft besaßen. Und die Pressemitteilung vom Dienstag dieser Woche wiederholt diesen Fehler, angereichert mit zwei weiteren Irreführungen!

Für ausgeschlossen halte ich jetzt nichts mehr. Auch nicht, dass die häufigen Meldungen über die stark angestiegene Zahl von Fortzügen aus Deutschland ein statistischer Artefakt ist, ähnlich wie bei der angeblichen Langlebigkeit von Ausländern. Beim Versenden der Steuer-Identifikationsnummer fallen nämlich früher Fortgezogene auf und werden jetzt eventuell bequem als aktuelle Fortzüge vermeldet. Wenn diese Befürchtung stimmt, basiert die aktuelle Diskussion auf nicht zugegebenen alten Fehler in den Bevölkerungsdaten.

In diesem Artikel wurden zur besseren Lesbarkeit einige Argumente nur angedeutet. Daraus sollte von interessierter Seite aber keine Oberflächlichkeit der Beweisführung hergeleitet werden. In der hoffentlich folgenden Fachdiskussion werden die Fakten tiefer gehend vorgestellt.

Köln, den 24.2.2010

Prof. Dr. Gerd Bosbach

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