Nicht einmal drei Monate nach Eröffnung des Berliner Willy-Brandt-Flughafens macht der Betrieb die ersten Zicken: Beschäftigte an den Gepäckkontrollen bekommen reihenweise einen gewischt und schon mehrmals rückte deshalb der Krankenwagen an. Die Betreiber spielen die Vorgänge herunter und raten zum feuchten Feudeln. Dabei gibt es Hinweise, dass die Schäden schwerwiegend und großflächig sein könnten. Davon wollen die Verantwortlichen lieber nichts wissen. Von Ralf Wurzbacher.
Hochspannung herrschte am Flughafen Berlin Brandenburg „Willy Brandt“ seit dem ersten Spatenstich. Bei neun Jahren Bauverzug und sechs vermasselten Startversuchen standen Machern und Planern rund um die Uhr die Haare zu Berge. Nicht wenigen Verantwortlichen ging angesichts dieser ganz, ganz langen Leitung der Saft aus: darunter drei Flughafen- und fünf Technikchefs, dazu mit Klaus Wowereit und Matthias Platzeck (beide SPD) die politisch gewichtigsten „BER-Architekten“. Den Steuerzahler traf der Schlag während all der Zeit in unschöner Regelmäßigkeit. Was mit einem Kostenansatz von 1,12 Milliarden D-Mark losging, hat inzwischen die Sieben-Milliarden-Euro-Grenze durchbrochen. Und im Corona-Flugbetrieb auf Sparflamme wird die Rechnung jeden Tag teurer.
Als wäre die Stimmung nicht schon geladen genug, jetzt auch noch das: Wie die Gewerkschaft ver.di am 11. Januar mitteilte, steht der BER sogar buchstäblich unter Strom. Wohl nicht gleich der ganze Komplex, aber doch relevante Stellen im Betriebsablauf, nämlich die Anlagen zur Gepäckkontrolle im Terminal 1. Wer dort als Beschäftigter der Sicherheitsfirma Securitas Pech hat, bekommt einen gewischt, zum Teil mit richtig Wumms und schmerzhaften Folgen. Pech hatten bisher schon Dutzende, mittlerweile soll die Zahl der dokumentierten Fälle bei über 80 liegen. Die Betroffenen klagten über starke Schmerzen, Taubheitsgefühle und Benommenheit, heißt es in der Bekanntmachung. Mehrfach seien Geschädigte per Rettungswagen in die umliegenden Krankenhäuser transportiert worden. Mitunter hätten ihnen Ärzte längere Arbeitsunfähigkeit attestiert.
Leute haben Angst
Nach Auskunft von Benjamin Roscher, Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Landesverband Berlin-Brandenburg, gehören die Unfälle zur Tagesordnung. Allein am 6. Januar habe es elf Mitarbeiter an einem Tag getroffen. Am Donnerstag sagte er den NachDenkSeiten: „Die Leute haben Angst, zur Arbeit zu kommen.“ Inzwischen hätten sich auch schon mehrere Passagiere einen eingefangen, wobei er von einer „hohen Dunkelziffer“ ausgehe. Es werde von oben Druck auf die Beschäftigten ausgeübt, „nicht wegen jeder Kleinigkeit Meldung zu machen“. Dabei habe selbst der Arbeitgeber Securitas bestätigt, dass sich teilweise sehr starke elektrostatische Entladungen ereigneten. Für Roscher kann es deshalb nur eine Lösung geben: „Die Arbeit an den Apparaten muss unverzüglich und solange eingestellt werden, bis die technische Ursache gefunden und zweifelsfrei abgestellt ist.“
In der Chefetage der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH (FBB) ist man nicht so auf Draht. Konfrontiert mit den Vorwürfen, ließ die Betreibergesellschaft gegenüber der Hauptstadtpresse durchblicken, dass derlei Vorkommnisse der für die fraglichen Geräte zuständigen Bundespolizei schon seit dem 12. Dezember bekannt seien. Diese hätte dann auch „unverzüglich“ eigenes und Fachpersonal des Herstellers sowie der FBB eingeschaltet, um die Röntgenapparate, die das Handgepäck durchleuchten, unter die Lupe zu nehmen. Indes habe die angefertigte Expertise ergeben, dass „alle Anlagen den gültigen Normen und anerkannten Regeln der Technik“ entsprechen würden.
Heller Lichtbogen
Immerhin will man die Wurzel des Übels erkannt haben, zum Beispiel das Tragen von Sachen „mit hohem Synthetikanteil“ oder von isolierenden Schuhen auf isoliertem Boden. Und für gute Ratschläge war sich die Bundespolizei auch nicht zu schade. Um elektrostatische Aufladungen zu verhindern, sollten die Bediensteten zu Schuhwerk mit Schutzwirkung oder Antistatik-Schlüsselanhängern greifen. „Auch ist gegebenenfalls eine Veränderung der Bekleidungsmaterialien des Bedienpersonals in Erwägung zu ziehen.“ Mögliche Gegenmaßnahmen könnten ferner der Einsatz ableitfähiger Böden und Bodenunterlagen sowie regelmäßiges „feuchtes Wischen“ sein.
Geholfen hat das nur mit Abstrichen. Nach Roschers Angaben kommen schwerere Verletzungen mittlerweile zwar seltener vor. Dennoch wären weiterhin pro Tag „zwei bis drei neue Fälle“ zu verzeichnen. Passend dazu schilderte die „Berliner Woche“ die Leidensgeschichte einer Frau, die es trotz aller Vorkehrungen erwischt hat und noch eine Woche nach dem „Knall“ unter Muskelkater im Arm leide. Manche ihrer Kollegen hätten sogar Brandblasen davongetragen. Einer davon sprach gegenüber der Zeitung von einem „hellen Lichtbogen“, der bei dem Vorfall zwischen seiner Hand und dem Pult am Röntgengerät aufgeblitzt sei. Die Darstellung deckt sich nicht ganz mit dem, was eine Sprecherin der Berliner Direktion der Bundespolizei zum Besten gegeben hatte: Demnach führten die Stromstöße „in der Regel zu keinen Verletzungen, können jedoch Schreckreaktionen verursachen“.
Großflächiges Problem?
Alles also ganz harmlos? Daran darf man Zweifel haben. Sollte sich herausstellen, dass die Ursachen tiefer liegen, in der Bausubstanz, in der Verkabelung, der Erdung der Leitungen, dann hat die FBB ein Problem, dem man nicht mal eben mit dem Wischmop beikommt. Auch ver.di-Mann Roscher vermutet, die Zuständigen wollten „um jeden Preis verhindern, dass nach all den Pleiten und Pannen der Vergangenheit wieder ein neues Fass am BER aufgemacht werden muss“. Brisant erscheinen angesichts dessen die Äußerungen von Beschäftigten, dass das Phänomen auch an anderen Stellen, etwa an den Check-In-Schaltern und im Keller bei den Kofferröntgenstraßen, aufgetreten sein soll.
Erinnert sei auch daran, dass auf der Zielgeraden der BER-Fertigung, in den Wochen und Monaten vor der Eröffnung, eine noch gewaltige Mängelliste in allerhöchster Eile abzuarbeiten war. Das Nachrichtenportal „Business Insider“ schrieb im Februar 2020 unter Berufung auf vertrauliche Bauprotokolle, dass damals insbesondere bei der Verkabelung noch vieles im Argen gelegen hatte – in der Größenordnung von 5.000 Defiziten. In der Folge muss auf der Dauerbaustelle ordentlich rangeklotzt worden sein, denn schon Mitte Oktober verkündete FBB-Geschäftsführer Engelbert Lütke Daldrup nach „erfolgreichem“ Testlauf mit knapp 10.000 Komparsen: „Wir können den BER am 31. Oktober guten Gewissens in Betrieb nehmen.“ Die Tore machten in der Tat auf, ob dies wirklich gänzlich bedenkenlos geschah, erscheint zweifelhaft und könnte schon die nahe Zukunft zeigen.
Defekte Kabelage?
Der Architekt und Flughafenplaner Dieter Faulenbach da Costa, einer der profiliertesten Kritiker des Projekts, rechnet jedenfalls mit noch allerhand Ungemach in nächster Zeit. Lütke Daldrup habe es verstanden, „konsequent alle planerischen und behördlichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen“, befand er im Gespräch mit den NachDenkSeiten. „Die technischen und funktionalen Probleme hat er nicht beseitigt.“ Auch Faulenbach da Costa mutmaßt, dass etwas mit der „Kabelage“ nicht stimmt und zur Behebung einiger Aufwand betrieben werden müsste. Allerdings habe der FBB-Chef das „Glück des Tüchtigen“, in Pandemiezeiten könne er „jeden Fluggast per Handschlag begrüßen“ und den Betrieb für die Zeit möglicher Nachbesserungen in Terminal 5 oder Terminal 2 verlegen.
Die Flughafengesellschaft will davon erst einmal nichts wissen. Vor einer Woche verlautete durch Sprecher Hannes Hönemann, dass sich weitere Vorfälle „durch die Einhaltung entsprechender Verfahren und Vorkehrungen bei Durchführung der Sicherheitskontrollen in Zukunft vermeiden lassen“. Kurzum: „Die Sicherheitskontrollen sind offen und sollen das auch bleiben.“ Ob diese Einschätzung angesichts der Wiederholungsfälle weiterhin Bestand hat, wollten die NachDenkSeiten am Donnerstag wissen. Von der FBB-Pressestelle gab es keine Antwort, nur den Hinweis, sich an die Bundespolizei zu wenden. Dort verwies man zurück zur FBB: Für betriebliche Entscheidungen wie die einer Schließung des Gefahrenbereichs sei der Betreiber zuständig.
Dachschaden
Nach Erkenntnissen von Roscher planten die Verantwortlichen eine eingehende Untersuchung durch den TÜV, was man wiederum bei der Bundespolizei nicht bestätigen wollte. Trotzdem ist sich der Gewerkschafter sicher, dass in der Angelegenheit „hinter den Kulissen richtig gewirbelt wird“. Wo Feuer unterm Dach ist, tut eine Abkühlung not. Selbst dafür ist am BER gesorgt. Am Mittwoch meldete das Boulevardblatt „B. Z.“, dass es in der Nacht zum Montag aus der Decke im Verbindungsgang zwischen Fluggastkontrolle und „Marktplatz“ tropfte.
Es war dies der zweite aktenkundige Dachschaden innerhalb von zweieinhalb Monaten, der erste passierte vier Tage nach der Eröffnung. Aber Vorsicht: Kommen Wasser und Strom zusammen, kracht’s. FBB-Sprecher Jan-Peter Haack zerstreute umgehend alle Sorgen: „Sämtliche Kabel sind entsprechend wasserdicht ummantelt.“ Darauf ist gewiss Verlass.
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