Rezension: Fritz J Raddatz: Tagebücher 1982-2001

Ein Artikel von Petra Frerichs

Auf über 900 Seiten stellt Raddatz sich und sein Universum in einem Zeitrahmen von neunzehn Jahren vor: Seine Weggefährten, Mitstreiter, Berufskollegen, Freunde und Nicht-Freunde; seine Aktivitäten, Reisen, Aufenthalte; seine Recherchen, Publikationen; sein Schaffen. Dabei schälen sich bestimmte Muster heraus: immer wiederkehrende Erfahrungen, Verhaltensdispositionen und Situationen, die für sein Leben typisch zu sein scheinen. Auf diese Muster möchte ich mich beim Besprechen der Tagebücher konzentrieren. Von Petra Frerichs

Immer unterwegs und immer tätig: Der Autor lebt in einem Hamburger Nobelviertel, und hat ein Haus auf Sylt; letzteres dient ihm als Refugium und Arbeitsstätte ineins. Das Pendeln zwischen der Großstadt und der Insel gehört eher zu seinem Alltag, als dass es unter Reisen zu verbuchen wäre. Gleichwohl ist es ein erster Indikator für eine gewisse Ruhe- und Rastlosigkeit, die seinen Arbeits- und Lebensstil ausmachen. Hält er sich weder hier noch dort auf, ist er auf Reisen. Man hat den Eindruck, dass er das ständig ist. Dadurch, dass er jeden Eintrag mit einer präzisen Orts- und Hotelangabe versieht, kann man nachvollziehen, wo, wie oft und wie lange er gerade unterwegs ist: häufig in Paris, Berlin, New York, London, Sydney – in den Metropolen der Welt, kann man sagen, aber auch in der deutschen Provinz, wenn auch ungern und unfreiwillig, nur, wenn dort etwa eine Lesung seiner Schriften, vor allem seiner literarischen Werke, stattfindet. Seine Aufenthalte sind fast immer arbeits- und zweckgebunden; er ist entweder auf Vortragsreise, führt Interviews mit prominenten Kulturschaffenden, oder er recherchiert (etwa in Südamerika) Materialien für eine geplante Publikation (er schreibt stets und ständig, entweder für die ZEIT, deren Redaktionsmitglied er nach seinem Rauswurf als Feuilletonchef noch ist, oder an einem sonst wie gearteten Essay, Buch/Roman, Artikel, Script). Einmal nur ist von einer Urlaubsreise (nach Südafrika) die Rede, und prompt erfährt man, dass R. sich langweilt und unausgefüllt fühlt. Wir haben es allem Anschein nach mit einem wahren Workaholic zu tun.

Homosexualität: Der Autor lebt relativ frei und offen, wenn auch dezent seine Homosexualität aus. Er hat feste, langlebige Partnerschaften (erst mit Bernd, nach dessen Tod mit Gert), geht aber den Gelegenheiten von Zufallsliebschaften nicht aus dem Weg. Das Älterwerden fällt ihm schwer – schon mit Mitte Fünfzig beklagt er seinen vermeintlich einsetzenden körperlichen Verfall und spricht von Gedanken an Freitod. Um fit zu bleiben, geht er täglich (in erstklassigen Hotels) Schwimmen und macht Gymnastik. Er ist schwulentypisch eitel, legt höchsten Wert auf seine körperliche Fitness und lebt sehr körperbetont.

Extravaganter Lebensstil versus Kleinbürgerlichkeit: Sofern er sein Domizil in einer der bereisten Metropolen selbst wählen kann, sucht er sich stets die feinsten Hotels aus. Und umgekehrt: Wenn ihm vom Veranstalter ein Mittelklassehotel zugewiesen wird, ist er angewidert und beleidigt. Die Wahl von ersten Adressen ist kein Zufall: R. ist ein Dandy und lebt auf großem Fuß. Er fährt einen 12 Zylinder Jaguar und einen Porsche Cabriolet; besitzt eine 7-Zimmer-Eigentumswohnung im vornehmsten Viertel Hamburgs und ein Haus in Kampen/Sylt; trinkt gerne und oft erlesene Tropfen (Champagner, Rotweine etc.) und erfreut sich am Genuss von Austern, wie er überhaupt gerne vorzüglich und fein isst; so bewirtet er auch seine Gäste, wenn er ein Fest ausrichtet oder Besuch bekommt; er ist höchst kultiviert auch in Fragen der Kleidung und der Einrichtung; sammelt Kostbarkeiten (Gemälde, Vasen, Porzellan etc.) und erfreut sich daran; findet alles Rustikale und Schlichte wie auch alles Falsche, Unechte und Vorgetäuschte entsetzlich. Sein Lebensstil ist also von Extravaganz und Noblesse auf der ganzen Linie durchdrungen.

Dennoch scheint sein Habitus im Kleinbürgertum seine Wurzeln zu haben, und diese Klassen-„Verhaftung“ ist ihm auch schmerzlich bewusst. Er schreibt von latenten Geldsorgen, seinem Hang zur Pfennigfuchserei, sozialen Abstiegsängsten oder auch spät erkannten Stilbrüchen etwa in der Einrichtung des Kampener Hauses, die ihn bedenklich stimmen: „… finde ich alles überladen und peinlich-kleinbürgerlich“. Und weiter heißt es: „Peinlich-kleinbürgerlich finde ich vor allem mich selber und meine ‚Kunst’-Produktion. Da ist dann doch – selbst wenn’s wie mit den Sonetten schiefgeht – Grass ne andere Kategorie; und typischerweise ist er auch kraftvoller, weniger skrupulös sich selbst gegenüber (anderen sowieso) und von keinem Selbstzweifel geplagt.“ (501f.). R. verfügt über kein stabiles Selbstbewusstsein; er ist – ganz im Unterschied zu Grass, mit dem er befreundet ist, und mit dem er sich hier in literarischen Produktionen vergleicht – von Selbstzweifeln geplagt. So ist es nicht verwunderlich, dass er immer wieder ein recht kritisches Selbstbild zeichnet. „Entdecke mehr und mehr eine (neben VIELEN anderen) unangenehme Eigenschaft bei mir; wie aus lauter kleinen Kaleidoskop-Spiegelchen setze ich mir aus Lese-Bildern mein eigenes Porträt zurecht: Ich streiche, ob bei Cocteau oder Kleist, Stellen an, in denen ich MICH charakterisiert finde. Bei Cocteau seinen Seufzer, wie bekannt ER und wie unbekannt sein Werk ist. Bei Kleist, dass er sich nie an dem erfreuen könne, was IST, sondern nur an dem, was NICHT ist. Letzteres wirklich sehr charakteristisch für mich.“ (451)

Kultiviertheit, Bildung, Bekanntheit versus mangelnde Anerkennung: R. ist ein kulturell hochgebildeter Mann. Er ist enorm belesen und verfügt über ein solides kulturelles Wissen. Man kann ihn mit Fug und Recht einen Kenner nennen, der mit großer Sicherheit Stile und Stilrichtungen unterscheiden kann, dem die Weltliteratur vertraut ist und der über eine stattliche Bibliothek verfügt. Für den es fast zum Alltag gehört, ins Theater oder Konzert zu gehen, und der für bestimmte Aufführungen auch Flugreisen nicht scheut, sofern sie sich mit anderen Zwecken beruflicher Art verbinden lassen. Als Autor hat er über fünfzig Bücher verfasst, abgesehen von zahllosen anderen Publikationsformen. Als ehemaliger Lektor des Rowohlt-Verlages (in seiner DDR-Zeit zuvor als Betreiber und Lektor des Verlags Volk und Welt) sowie als langjähriger Feuilleton-Chef der ZEIT und danach als deren freier Kulturredakteur hat er sich einen Namen gemacht und ist nicht nur im geistig-kulturellen Milieu und nicht nur in Deutschland bekannt wie ein bunter Hund. Als intimer Kenner des Verlagswesens, als Journalist, Feuilletonist, Essayist erfährt er hinreichend Anerkennung, die er in seiner schwierigen Selbstwahrnehmung auch registriert. Hingegen als Romanschriftsteller – R. hat in den achtziger und neunziger Jahren eine Romantrilogie geschrieben – fühlt er sich verkannt, nicht anerkannt, ignoriert, missachtet. Seiner kritischen Selbsteinschätzung („Peinlich-kleinbürgerlich finde ich vor allem mich selber und meine ‚Kunst’-Produktion.“, s.o.) steht die Tragik seines Lebens und Schaffens zur Seite, speziell unter Schriftstellern als Schriftsteller nicht wahrgenommen zu werden. Es kommt ihm vor, als würde er nicht zugelassen im Club, als ignoriere man seine (schließlich bewiesene) Befähigung, auch literarisch anspruchsvoll schreiben zu können.

Die Egomanie der Schriftsteller: Im Umkehrschluss zu seiner eigenen Bekanntheit kennt R. buchstäblich Gott und die Welt. Er hat einen sehr großen Bekanntenkreis in der geistig-künstlerischen Elite, in Hamburg auch in der politischen Klasse, auch international, aber enge Freunde nur sehr wenige; dazu zählen der Maler Paul Wunderlich, die Schriftsteller Günter Grass, Peter Rühmkorf und vielleicht noch Rolf Hochhuth. Mit seinen vielen Personencharakterisierungen, Portraitierungen, Schilderungen von Begegnungen zeichnet er ein wahres Sittengemälde bundesdeutscher (und später gesamtdeutscher) Verhältnisse in Schriftsteller- und Künstlerkreisen und in der kulturell sich ausdrückenden Oberklasse. Eine Stärke seiner oft skurril anmutenden Portraits ist die szenische Darstellung: Er fängt Situationen, Begegnungen, Telefonate, Treffen etc. dadurch besonders lebendig ein, dass er die beteiligten Akteure wörtlich zitiert; es hat oft den Hauch von Vorführen, aber die Szenen sind auch, wenn es so war, wie er sie schildert, der Vorführung wert, meist wegen ihrer Lächerlichkeit oder Absurdität, oft genug aber auch wegen der Enttäuschung, die sie bei R. auslösen, und wegen der Verletzungen, die sie ihm zufügen. Führt man sich die zahllosen Portraits vor Augen, so schälen sich einige dominante Muster heraus: Jeder Schriftsteller grenzt sich von jedem anderen ab; jeder fühlt sich missverstanden, verkannt, unterbewertet; jeder redet Dritten gegenüber schlecht vom anderen, nur von Angesicht zu Angesicht wird schöngeredet und gewürdigt – man könnte vom Reden mit mindestens zwei Zungen sprechen; Egomanie scheint der Wesenszug von Schriftstellern schlechthin zu sein, Mitgefühl, Einfühlung, wirkliches Interesse am anderen, auch nur Zuhörenkönnen Fehlanzeige; alles dient der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung; Geltungssucht, intellektuelle Eitelkeit, die Sucht nach Ruhm und Lobpreisung sind an der Tagesordnung. Die wenigen Freunde, die R. hat, bilden hier eher die Ausnahme, obwohl eigentlich nur Wunderlich ganz frei ist von diesen Attitüden, Allüren und Verhaltensmustern. Man möchte vermuten, es handele sich bei der Egomanie um eine Art Schriftstellerkrankheit.

Instrumentalisierung: Wenn dem so ist, wie R. es beschreibt, dann ist es kaum verwunderlich, dass auch R. selbst ein empfindliches Anerkennungsproblem hat. Wie schon gesagt, fühlt er sich als Schriftsteller nicht (hinreichend) anerkannt, und damit nicht genug: Er fühlt sich von den allermeisten seiner Bekannten auch instrumentalisiert, ausgenutzt, benutzt – ob (früher) als Feuilletonchef oder als ZEIT-Redakteur mit weitverzweigten Beziehungen zu allen möglichen Kultureinrichtungen und namhaften Persönlichkeiten im kulturellen Feld oder als Insider in Verlagsdingen. Sein kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu) wird gerne angezapft oder beliehen, er ist für die anderen der Türöffner – doch was bekommt er zurück? Wie er schreibt, noch nicht einmal ein offenes Ohr für seine Befindlichkeiten und Probleme, geschweige denn Anerkennung als Schriftsteller oder Anerkennung seiner Leistungen, seines Einsatzes für andere. Dies scheint die Grundproblematik von R. zu sein, ein Widerspruch, ein Dilemma, aus dem er keinen Ausweg weiß: Er ist auf die anderen angewiesen, kann ihnen aber nicht trauen, da er stets und ständig egoistische Interessen walten sehen muss. Er steht nicht über den Dingen, hat ein zu geringes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, um sich von der ausbleibenden Anerkennung der anderen frei zu machen, und verfällt so von einer Enttäuschung und die andere.

Reflexionen übers Tagebuchschreiben: R. beginnt sein Buch mit einer kritischen Bewertung aus dem Jahr 1982. „Es schien mir immer eine indiskrete, voyeurhafte Angelegenheit, eine monologische auch…“ (9) Damit erklärt er seine jahrelange Distanz zum Tagebuchschreiben. Und wenn er es von da an doch wieder tut (er nennt zwei Veranlassungen, nämlich den Tod Peter Weiss’ und eine Einladung von Adolf Muschg zur Lesung aus seiner Romantrilogie), so kann man annehmen, dass er sich nach Kräften darum bemüht, nicht „indiskret“, nicht „voyeurhaft“ und auch nicht „monologisch“ zu verfahren. Vom Ende des Buchs her gesehen ist ihm besagtes Sittengemälde (s.o.) gelungen, das einen tiefen Einblick in die Kulturszene der achtziger und neunziger Jahre, in die Mechanismen der kulturellen Reproduktion unserer Gesellschaft und in ihre Protagonisten gewährt, auch wenn es nicht ganz ohne Voyeurismus und Indiskretion auskommt. Ein bisschen Klatsch muss schließlich sein. Aber es ist viel mehr als Klatsch dabei herausgekommen:
„Richtig interessant nur der ‚Rabe’ (ein früherer Geliebter von R.) mit z.B. meinen und Rühmkorfs (ganz exzellenten) Tagebuch-Exzerpten. Obwohl: Dass wir uns nun immer alle noch nächtens oder spätestens am nächsten Morgen per Tagebuch aufspießen wie Schmetterlinge und unter dem Glas-Sturz bösartig-lauernder Eitelkeit fixieren – hat ja auch was Komisches. Wie verhalten sich Leute – etwa Rühmi und ich demnächst bei Grass’ 65. – zueinander, die wissen, sie werden sich gegenseitig bannen? Ich fürchte, zum Schluß leben wir nicht mehr wirklich (jedenfalls nicht ‚normal’), sondern als Täter und Spieler einer Rolle, die wir so oder anders fixiert sehen wollen.
In gewisser Weise war meine jahrzehntelange Scheu, fast Keuschheit gegenüber diesem Voyeurismus anständiger. Schade dennoch – weil Hunderte von skurrilen Portraits ungeschrieben blieben.“
Und er erwähnt dann Namen wie Bachmann, Bernhard, Henze, Henry Miller, Genet, Johnson, Kaiser, Kuby, Koeppen, Hundertwasser – mit allen hatte er nicht nur zu tun, sondern die verrücktesten Begegnungen, alle hätte er – wie hier im Tagebuch geschehen – szenisch portraitieren können. „Hätte. Ich fand’s damals unredlich. Und wüsste auf die Frage, warum ich das jetzt und seit Jahren nicht mehr finde, keine redlich Antwort. Es sei denn die der Monologisierung unserer Welt. Jeder spricht nur noch mit seinem Spiegel. Das ist der letzte Partner geworden.“ (454f.) Ein ernüchterndes Resümee eines Mannes, der noch Skrupel hat und darüber reflektiert, was er tut. Ein Weltbürger mit kleinbürgerlichen Eigenschaften, einer, der den Luxus liebt und die Schönheit, ein Ästhet, ein Multitalent, ein Vielarbeiter, der um Anerkennung kämpft, ein Redlicher, ein Schwuler von Rang, ein Kulturschaffender mit unzähligen Bekannten und doch ein einsamer Wolf.

Fritz J. Raddatz, Tagebücher 1982 – 2001, Rowohlt Verlag, September 2010, 944 Seiten, 34,95 Euro

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