Vom Verschwinden der Tiere

Vom Verschwinden der Tiere

Vom Verschwinden der Tiere

Ein Artikel von Florian Schwinn

Wie kam es eigentlich dazu, dass uns die Tiere, die wir für unsere Ernährung nutzen, aus dem Blick gerieten? Wie verschwanden sie von der Bildfläche in die historischen oder historisierenden Abbildungen? Wie und wo begann die industrialisierte „Massentierhaltung“? Ja, diesen Begriff benutzt eine Historikerin, die uns die jüngere Geschichte unserer Tierhaltung erzählt. Es ist die Geschichte der Industrialisierung dieser Tierhaltung. „Deutsche Fleischarbeit“ heißt das Buch, das Veronika Settele aus ihrer Doktorarbeit entwickelt hat, und das sich so gar nicht wie eine trockene wissenschaftliche Abhandlung liest. Im Untertitel heißt es: „Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute“. Das als Kampfbegriff der Gegner der industrialisierten Landwirtschaft inkriminierte Wort „Massentierhaltung“ hat der Verlag C.H.Beck fett gedruckt. Von Florian Schwinn

Massentierhaltung

So, liebe Landwirte, hier nicht gleich abschalten oder wegklicken. Erstmal lesen, was eine Historikerin zur Genese dieses Begriffs zu sagen hat. Und damit das gleich klar ist: Sie ist eine mit Bezug zur Landwirtschaft, aufgewachsen auf einem Hof im Allgäu.

„Als der Begriff Massentierhaltung aufkam, Ende der 1960er Jahre und in der agrarpolitischen Diskussion der 70er Jahre, war das zunächst mal ein neutraler Begriff zur Beschreibung eines neuen Phänomens“, sagt Veronika Settele. „Er wurde erst danach zu einem Kampfbegriff, zum Synonym für die Nebenwirkungen, die der Massentierhaltung zugeschrieben werden. Woraufhin die Branche darauf verzichtete, ihn weiter zu verwenden. Aber es gibt keinen anderen bekannten Begriff, der diese Form der Tierhaltung fassen kann.“ Zumindest keinen, der allgemeinverständlich wäre. Haben Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis gefragt, was die Leute unter „intensiver Tierhaltung“ verstehen. Am ehesten assoziieren sie wohl die Nachbarn, die Hund oder Katze etwas zu intensiv beschmusen. Es geht aber um die sehr späte Ankunft der industriellen Revolution bei den sogenannten Nutztieren.

Die Landwirtschaft war ohnehin das Schlusslicht der Industrialisierung. Und das, obwohl es Hungersnöte genug gab, die effektivere Nahrungsmittelproduktion hätten befördern sollen. Aber vor allem die Tiere widersetzten sich der Anpassung ans Fließband. Es gelang einfach nicht, sie in die damaligen industriellen Produktionsprozesse zu zwängen.

Von heute aus gesehen fragen sich wohl viele, warum man das auch hätte tun sollen. Viel einfacher und effektiver wäre es doch gewesen, die Produktion von Ackerfrüchten und Gemüse effektiver zu gestalten. Aber das ist eine Fragestellung, die sich nur satte Gesellschaften leisten können. Wenn es um die Bekämpfung des Hungers geht, dann sind genau die Lebewesen gefragt, die von Dingen leben können, die Menschen nicht ernähren – von Gras zum Beispiel, also Ziegen, Schafe, Kühe, oder von Abfällen, also Schweine.

Tiere in der Stadt

Veronika Settele schlägt in ihrem Buch über die Geschichte der Massentierhaltung einen weiten Bogen. Sie beginnt nicht nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Europa die Industrialisierung der Landwirtschaft Fahrt aufnahm. Sie fragt vielmehr, wo unser heute übermäßiger Fleischkonsum seinen Anfang nahm. Um das zu verstehen, nimmt sie uns mit in die großen Städte des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

In London, New York oder auch Berlin war damals Tierhaltung Sache der Städter, und zwar der armen Städter. Die Arbeiter hielten sich vornehmlich Schweine. Die wurden tagsüber rausgelassen und fraßen den Abfall, der überall in den Straßen herumlag. Abends kamen sie selbstständig wieder nachhause in den Stall, der ein Kellerloch war, oder auch die Speisekammer der Wohnung der armen Leute. Die Schweine waren eine Art Lebensversicherung der Familien. Wenn Not war, konnte man sie schlachten und das Fleisch verkaufen. Aus den Knochen ließ sich dann immer noch Brühe kochen.

Aber die Schweine in der Stadt waren auch ein Problem – ästhetisch und hygienisch. Vor allem für das aufstrebende Bürgertum, das sich Fleisch leisten konnte, ohne selbst Schweine zu halten. 1859 beschloss die Stadt New York, die Tiere aus der Stadt zu verbannen. „Nicht zufällig im Jahr der Einrichtung des Central Parks“, schreibt Veronika Settele. Der sollte nicht von Schweinen durchwühlt werden.

Im sogenannten ‚Piggery War‘ zwischen Juli und September gelang es der Staatsgewalt, die Schweine aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, zumindest südlich der 86. Straße. Die New York Times berichtete auf der Titelseite, wie 76 bewaffnete Männer in ‚Hogtown‘ einmarschierten. Aufgeteilt in zwei Divisionen, die die Schweine von der sechsten Avenue auf der einen und der siebten auf der anderen Seite zunächst eingezingelt hatten, beschlagnahmten sie die Tiere und zerstörten die Schweineställe. Das war mit Hausdurchsuchungen verbunden, denn die Schweinehalter versteckten ihre Tiere auch unter den Betten. Es gibt dazu zeitgenössische Zeichnungen und Karikaturen. Veronika Settele nennt das eine Gentrifizierung, denn die Bürgerlichen sorgten dafür, dass den Arbeitern der Nebenerwerb und die Hungerversicherung genommen wurde.

Eine wichtige Anmerkung dazu ist auch die Feststellung der Historikerin, dass die Zeit, in der die Tiere, die uns Fleisch liefern sollten, in unseren Städten allgegenwärtig waren, eine eher fleischlose Zeit für die meisten Menschen war. Die Tiere liefen überall herum, aber Fleisch war zumindest für die Ärmeren Mangelware. Sie hielten die Tiere, aßen aber nur die Reste vom Schlachtfest.

Fleischnot

Die große Frage ist, wie sich das ins Gegenteil verkehren konnte: Damals überall Tiere und kein Fleisch, hundertfünfzig Jahre später dann Fleisch im Überfluss, aber keine Tiere mehr zu sehen.

Die Antwort ist die Industrialisierung der Tierhaltung. Die aber sehr spät einsetzte und einige Umwege nahm. Und die auch nur verständlich ist, wenn man die gesellschaftliche Konditionierung auf den Fleischkonsum in den Blick nimmt.

„Wenn man sich aus heutiger Sicht anschaut, was im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Sachen Ernährung diskutiert wurde, dann staunt man,“ sagt Veronika Settele. „Leute wie Rudolf Virchow, Sozialreformer, Arzt, Hygieniker, haben Fleisch stark mit zivilisatorischen Errungenschaften in Verbindung gebracht. Die Macht im imaginierten Kampf der Nationen im Nationalismus und Kolonialismus haben sie auch stark auf die Ernährung der jeweiligen Völker zurückgeführt und die Mär gefördert, dass nur fleischgenährte Menschen zu großen Taten in der Lage sind.“

Im Ersten Weltkrieg führte das dann dazu, dass die Soldaten mehr Fleisch bekamen als je zuvor in ihrem Leben. Und die mit dem Krieg begründete Zwangsbewirtschaftung des Landes führte zum Hunger. Im Nachhinein haben viele Wissenschaftler ausgerechnet, dass eine Ernährung mit pflanzlichen Proteinen weniger Hungertote bedeutet hätte.

Da war es aber schon zu spät: Fleisch galt als die Kraftnahrung, die das Überleben möglich macht. 1912 gab es dann in Berlin keinen Hungeraufstand, sondern einen Fleischaufstand. Es herrschte kein Hunger, sondern „Fleischnot“. Schließlich hatte die Regierung den Menschen ausreichende Versorgung garantiert und dafür den Städten erlaubt, im Ausland einzukaufen. Als sich die Berliner Schlachter dann weigerten, das aus Polen importierte Fleisch zu verkaufen, stürmten viertausend Frauen die Markthalle und nahmen sich, was sie wollten und alles andere auseinander.

Als zwei Jahrzehnte später die Nazis an die Macht strebten, wussten sie, dass Fleisch quasi systemrelevant war. Und sie passten das in ihre Ideologie ein. „Leistungstiere und nicht leistungsunfähige Fresser“ wurden verlangt. Veronika Settele nennt das ein „faschistisch animalisches Modernisierungsprojekt“, das aber in ideologischen Absichtserklärungen und wissenschaftlichen Zuchtexperimenten stecken blieb. Die sogenannte „Erzeugungsschlacht“, die Deutschland ernährungsautark machen sollte, endete in den Hungerwintern der 1940er Jahre.

Was blieb, war die gesellschaftliche Konditionierung auf Fleischkonsum. Und die wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Leitbild der „Tierproduktion“. Erst jetzt zog die Industrialisierung wirklich in die Ställe ein.

Industrietier Huhn

Eigentlich war in den Ställen fast zweihundert Jahre lang nichts passiert. Auf den Äckern arbeiteten längst Maschinen, in den Ställen aber war Handarbeit angesagt. So konnte die Landwirtschaft der neuen Marktwirtschaft nicht angepasst werden. Die Industrie brauchte Arbeitskräfte, und viele von denen krauchten in Stallgassen umher und fütterten Tiere mit der Hand oder saßen auf Melkschemeln. Zukunftsfähig erschien das nicht.

Die Historikerin Veronika Settele findet ungleichzeitige Prozesse spannend, vor allem dann, wenn sich einer plötzlich beschleunigt. So erscheint uns die Industrialisierung der Tierhaltung, wenn wir ihre in ihrem Buch geschilderte lange Vorgeschichte nicht im Blick haben. Plötzlich schließen die Schlachthöfe am Stadtrand, plötzlich verschwinden die Tiere aus der Landschaft. Plötzlich gibt es selbst auf dem Land keinen Hahn auf dem Mist mehr, weil es auch gar keinen Misthaufen mehr gibt.

Nur so plötzlich kam das alles nicht. „Die Idee einer produktiveren Tierwirtschaft war nichts Neues in den 1950er Jahren, als sie dann umgesetzt wurde“, sagt Veronika Settele, „da war das schon ein alter Hut. Agrarexperten wie Hermann Settegast, einer der ersten Landwirtschaftsprofessoren, haben das schon Ende des 19. Jahrhunderts vorgedacht und propagiert. Die hatten sich die Finger schon lange wundgeschrieben darüber, wie zum Beispiel die Rinderhaltung produktiver organisiert werden kann.“

Am Ende waren es dann die Hühnerhalter, die die Industrialisierung der Tierhaltung vorantrieben. Kein anderes Nutztier ist bis heute weitgehender industrialisiert. Selbst ohne Käfighaltung wird der Legehenne das Futter per Fließband vor den Schnabel gefahren. Und von ihrem Hintern wird das Ei ebenfalls per Förderband in die Sortieranlage transportiert.

„Die Industrialisierung der Geflügelhaltung in den 60er Jahren zeigte, dass Factory Farming wirtschaftlich funktioniert und nicht nur eine Illusion von Fortschrittsfanatikern ist“, sagt Veronika Settele. „Sie zeigte, dass man das Tier radikal kommodifizieren und einpassen kann in industrielle Abläufe.“

Das Huhn, oder genauer, die Legehenne war aber dann der Ausgangspunkt für die Kritik an dieser Entwicklung. Irgendwann kamen die Bilder von den zerrupften Hennen, später dann wurden die ersten von ihnen befreit aus den Legebatterien. „Aufgrund der enormen Geschwindigkeit der Industrialisierung der Geflügelhaltung wurde das Huhn zum Symboltier der Kritik an dieser Art der Nutztierhaltung“, konstatiert die Historikerin. „Die Kritik entzündete sich ausnahmslos an der Käfighaltung der Hühner.“

Das Ei aus der Legebatterie könnte so am Ende der Katalysator der Agrarwende gewesen sein. Wenn man denn in einigen Jahren oder Jahrzehnten zurückblickt auf diese, die dann vielleicht sogar wirklich stattgefunden haben wird. Bis dahin können wir uns mit der kurzweiligen Lektüre des Buches über die bisherige Geschichte der Massentierhaltung darauf vorbereiten.

Veronika Settele hat in Innsbruck, Princeton und Berlin studiert. Ihre Doktorarbeit „Revolution im Stall“ – über die landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland von 1945 bis 1990 – wurde als Buch mit dem Förderpreis Opus Primum für die beste wissenschaftliche Nachwuchsarbeit ausgezeichnet. Heute forscht und lehrt sie an der Universität Bremen. Sie interessieren gesellschaftliche Umbrüche und Transformationen. Für ihr neues Buch „Deutsche Fleischarbeit“ hat sie die „Geschichte der Massentierhaltung“, die einen gewaltigen Umbruch der menschlichen Ernährung darstellt, bis zu deren Anfängen im 19. Jahrhundert zurückverfolgt.

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