Von Ruth und Klärchen – Idylle, hinter der ein knallhartes libertäres Weltbild steht

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Anders als sein Vorgänger Guido Westerwelle, der sich als seine eigenen „Freiheitsstatue“ hoch jubelte, spielt Rösler den artigen Jungen, der sich um die „Lebenswirklichkeit der Menschen“ und ihre „Alltagssorgen“ kümmern will. Statt mit hohlem Pathos und Phrasen versucht Rösler mit Beispielen aus der Alltagswelt, mit Schwieger- und Großmutter und ihrem vorbildlichen Familienleben das wirtschaftsliberale Weltbild menschlicher zu zeichnen. Rösler ist zwar moderat im Ton, doch hart in der Verteidigung der gegen den Staat gerichteten marktliberalen Ideologie. Er füllte ein wenig neuen Wein in alte Schläuche und die Delegierten samt der veröffentlichten Meinung brechen in Verzückung aus. Es ist fast wie beim zur gleichen Zeit stattfindenden European Song Contest: So wenig muss man bieten, um als Star gefeiert zu werden. Wolfgang Lieb

Artig und ein bisschen verkrampft, wie ein Jahrgangsbester bei seiner Rede auf der Abitursfeier, trug der neue FDP-Vorsitzende, Philipp Rösler seine auswendig gelernte, wohl komponierte „Grundsatzrede“ auf dem Rostocker Parteitag vor.

Er lobte die Erfolge seiner Partei und alle Parteifreunde, die es bei so einer Rede zu loben gilt.

„Deutschland steht gut da“, sagte er mit für Verweis auf die aktuellen Wirtschaftsdaten. Den Menschen in Deutschland gehe es heute besser als zu Zeiten der Großen Koalition. Und er wundert sich, dass die Menschen diese Erfolge nicht mit der FDP verbinden. Dabei hätte er sich ja nur selbst fragen müssen, welche „Erfolge“ in der schwarz-gelben Regierungskoalition das sein sollten, die den Menschen im Zusammenhang mit der FDP einfallen könnten. Rösler selbst ist dazu in seiner ansonsten an praktischen Beispielen gegliederten Rede, jedenfalls kein einziges Beispiel eingefallen. Auf die Klientelpolitik mit der Hotelierssteuer oder auf seine eigene Gesundheitsreform als ehemaliger Gesundheitsminister, die höhere Beitragssätze und eine Aufkündigung des Solidarprinzips durch Zusatzbeiträge wollte er deshalb auch lieber nicht zu sprechen kommen.

Als Fehler räumt er allenfalls ein, dass die FDP „mit Rücksicht auf den Koalitionspartner notwendige und dringende Projekte zurückgestellt“ und später zu viel gestritten habe und dabei die „bürgerlichen“ Anstandsregeln nicht eingehalten worden seien. Ja, anständiger tritt er auf, der neue Vorsitzende. Die FDP müsse durch „Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Entschlossenheit“ verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.
Die Menschen wollten liberale Ergebnisse. „Ab heute wird die FDP liefern“ kündigte er großspurig an. Wenn man diese Ankündigung an Röslers bisherigen „Reformen“ misst, dann muss man das eher als Drohung ansehen.

Es gehört zum Pflichtanteil einer Rede eines FDP-Vorsitzenden für seine Partei den Freiheitsbegriff als Alleinstellungsmerkmal zu bemächtigen. Dabei kam auch Rösler nicht ohne Pathos aus, als er auf Genschers Ausreisebotschaft vom Balkon der Prager Botschaft im Jahre 1989 an die dort ausharrenden DDR-Flüchtlinge erinnerte und auf den aktuellen Freiheitskampf in der arabischen Welt anspielte – ohne allerdings darauf einzugehen, was eigentlich sein Vorgänger im Amt als verweilender Außenminister zur Erfüllung des „Wunsches und Drangs nach Freiheit“ in den arabischen Ländern beigetragen hat.

Wer erwartete, dass Rösler ausgefüllt hätte, was denn unter dem vom wiedergewählten FDP-Generalsekretär Lindner angekündigten „mitfühlenden Liberalismus“ zu verstehen wäre, sieht sich arg getäuscht. Freiheit heißt für Rösler: „Dass jeder die Möglichkeit hat seinen Lebenstraum zu verwirklichen“. Das ist in anderen Worten nichts anderes, als die abgestandene wirtschaftsliberale Parole, „jeder ist seines Glückes Schmied“. Die materiellen Bedingungen für die Möglichkeit seine Freiheit und seinen Lebenstraum zu verwirklichen, bleiben ausgeblendet, mehr Demokratie oder soziale Gerechtigkeit kommen bei ihm nicht vor.

„Die Freiheit stirbt scheibchenweise“, zitiert er den bekannten, Karl-Hermann Flach, einem Wegbereiter der sozial-liberalen Koalition zugeschriebenen Satz. Doch sein Verständnis von der Verteidigung der Bürgerrechte beschreibt Rösler mit einem völlig misslungenen Bild: Werfe man einen Frosch in heißes Wasser, so springe er weg. (Wenn er denn dazu noch eine Chance hat. WL) Setze man den Frosch in kaltes Wasser, bleibe er brav sitzen. Erhöhe man die Temperatur ganz langsam, dann registriere das Tier das erst, wenn es zu spät sei. Dass eine derart makabre Grobheit, die an die Sprüche von Medizinstudenten beim Mensaessen erinnert, einen Saal von Delegierten zum Kochen bringt, lässt einem kalte Schauer über den Rücken gehen. Dass Rösler diese Geschichte noch mit „soviel zu dem netten Herrn Rösler“ abbindet, ist nur noch peinliche Kraftprotzerei eines offenbar noch pubertierenden neuen Vorsitzenden.

Rösler sieht die Bürgerrechte nicht zuerst durch den Staat sondern vor allem durch die Grünen gefährdet. Die wollten angeblich Touristen aus dem Berliner Stadtteil Kreuzberg aussperren und Berlin wieder zu einer „geteilten Stadt“ machen, polemisiert er auf Bild-Zeitungs-Niveau gegen eine Debatte um nächtliche Ruhestörungen durch einen überbordenden Tourismus in diesem Berliner Kiez.

Noch lächerlicher wird Röslers Kampf um die Bürgerrechte, wenn er eine Kampagne für einen „Vegetarischen Tag“ in Bremen geißelt, wonach die Grünen den Menschen vorschrieben, was sie essen sollen.

Man mag gegen manchen Auswuchs grüner Gesinnungsmissionierung spotten, aber wem schon der Mut fehlt, dagegen eine eigene gesellschaftliche Gegenkampagne zu starten, bei dem kann es beim Kampfeswillen zur Verteidigung der Bürgerrechte gegen den Staat nicht weit her sein. Dementsprechend schwächlich ist auch die Abwehr gegen die von Bundesinnenminister Friedrich ursprünglich geplante pauschale Verlängerung der sog. Anti-Terror-Gesetze. Man müsse jede einzelne Maßnahme auf Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit überprüfen, setzte Rösler zaghaft dagegen. Allerdings ohne den geringsten Hinweis darauf, wo er die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gestört sieht. Ein selbstbewusster Bürgerrechts-Liberalismus sieht anders aus.

Am Erfolg der FDP in Niedersachsen eine „Sitzplatzverordnung“, die in Steh-Cafés getrennt geschlechtliche Toiletten verlangte, abgeschafft zu haben – mit einer alte Kamelle, die Rösler wortwörtlich schon vor acht (!) Jahren wortwörtlich im hannoverschen Landtag (Stenografischer Bericht S. 2094 [PDF – 1.1 MB]) gelutscht hat, will der neue Parteivorsitzende belegen, dass „all diese Themen zeigen“, dass die FDP keine Ein-Themen-Partei sei.

Polemik gegen sich in ihrer Ruhe gestörten „Bürger“ und gegen zivilgesellschaftliche Appelle für eine umweltbewusstere Ernährung oder Plattitüden wie der Abschaffung des Toilettenzwangs in Kaffeebuden, das sind also Röslers Beispiele dafür, dass Rösler das thematische Angebot der FDP verbreitern und deutlich machen will, dass „Liberale auf alle Fragen dieser Gesellschaft eine liberale Antwort haben“.

Rösler bekennt sich dazu, dass er immer ein Anhänger der Kernenergie war. Mit dem ziemlich unsinnigen Verweis, dass Fukushima das „erste Unglück aufgrund technischen Versagens sei“ (war Tschernobyl denn eine Naturkatastrophe?), erklärt er seinen Gesinnungsumschwung, dass auch er nun auch aussteigen will aus der Kernenergie. Aber natürlich dürfe es nicht zu einem „Überbietungswettbewerb“ beim Ausstieg kommen. Man müsse Ruhe bewahren und solide Bedingungen einhalten, nämlich „Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und bezahlbare Energie“. So redete auch RWE-Chef Großmann auf seiner Aktionärsversammlung und genau das waren exakt auch die Konditionen, mit denen die Bundesregierung vor wenigen Monaten noch die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke begründete. (Das Energiekonzept: Deutschlands Weg zu einer bezahlbaren, zuverlässigen und umweltschonenden Energieversorgung)

Rösler will immer wieder an Beispielen belegen, dass er sich um die Sorgen, der „ganz normalen Menschen in Deutschland“ kümmern möchte. Die Beispiele dienen allerdings eher der populistischer Rhetorik und mehr dazu das eigene politische Handeln zu verdecken.
Es gehe z.B. nicht um die Durchlässigkeit zwischen den Schulen, sondern um die Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Schulsystemen der Bundesländer. Nun mag man jeder Partei zugestehen, dass sie dazu lernt, aber welche Partei hat den Wettbewerbsgedanken bei der Durchsetzung der sog. Föderalismusreform am massivsten vertreten, wenn nicht die FDP? Wer hat also die bildungspolitische Kleinstaaterei mit dem Wettbewerbsföderalismus politisch am hartnäckigsten vorangetrieben?

Wenn Röslers Schwiegermutter Ruth Oma Klärchen pflegt, so ist das die Idylle einer „nahen Pflege“. Hinter dieser vorgegaukelten heilen Welt steht allerdings Röslers realer Plan, die Pflegeversicherung zu privatisieren und ihre solidarische Finanzierung aufzukündigen. Darüber hat er kein Wort verloren.

Traditionell darf in keiner Rede eines FDP-Vorsitzenden das hohe Lied auf den Mittelstand fehlen, so auch bei Rösler nicht. Man könne nur jedem empfehlen, bei einem mittelständischen Unternehmen zu arbeiten. Ein solcher Unternehmer käme auch nie auf die Idee, wenn es gut laufe, Menschen zu entlassen. Die „menschliche Verbindung“ sei viel größer als in großen Firmen.
Dass trotz der Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes lediglich 29% der mittelständischen Unternehmen (von 20 bis 499) Beschäftigten über einen Betriebsrat verfügen, spottet dieser Art der „menschlichen Verbindungen“ die in vielen dieser Unternehmen herrschen soll Hohn: Diese menschliche Verbindung ist vom Good-Will der Geschäftsführung abhängig. Dass überdurchschnittlich viele mittelständische Unternehmen Probleme mit den angeblich von außen ins Unternehmen hineinregierenden Gewerkschaften haben, dass gerade dort der Flächentarif und der Kündigungsschutz als hinderlich gelten, ist Beleg genug, wie weit verbreitet der „Herr im Haus“-Standpunkt dort noch ist. Wer, wenn nicht die FDP, hat denn immer verlangt, die Kosten der betrieblichen Mitbestimmung zu senken, die Zahl der Betriebsratsmitglieder zu senken, Betriebsräte erst bei Unternehmen ab 20 Beschäftigte zu ermöglichen etc.?

Für Rösler sind Forderungen nach Mitbestimmung auch in mittelständischen Betrieben nur eine Zote wert: Statt das angeblich so vorbildliche Verhalten von solchen Unternehmern zu fördern, wolle die Politik immer gleich ein Gesetz, am besten ein „Deutsches Mittelstands- Aufbau-, Durchführungs- und Qualitätssicherungsgesetz“. Das ist also das intellektuelle Niveau mit dem sich die FDP den Problemen auch der Arbeitnehmer nähern will. Und mit dieser Polemik, die sich gegen Mitbestimmung und Flächentarife wendet, will also die FDP dafür sorgen, „dass der Aufschwung bei den Menschen ankommt“. Das Angebot Röslers einer Teilhabe von Arbeitnehmern an ihrem Unternehmen kann man im Zusammenhang mit dem pflichtschuldigen Lob für die Selbständigen nur als paradox bezeichnen.

Rösler ist zwar moderat im Ton, doch hart in der Verteidigung der gegen den Staat gerichteten marktliberalen Ideologie. „Wenn man glaubt, dass der Staat der Problemlöser Nummer eins ist, dann wird das Ergebnis immer Bürokratie sein immer ein hoher öffentlicher Personalkörper und hohe Steuern und Abgaben.“ Die FDP könne niemals die „fünfte sozialdemokratische Partei sein“. Die Einordnung selbst von CDU und CSU als „sozialdemokratisch“ lässt durchblicken, wie libertär Rösler denkt und wie weit er von den Grundprinzipien des Sozialstaats entfernt ist.

Rösler räumt ein, dass die FDP an Glaubwürdigkeit verloren habe, weil man nicht erkannt habe, dass die Spielräume für Steuersenkungen nach dem Krisenjahr 2009 nicht so schnell und so umfänglich möglich gewesen seien. Die FDP habe nur nicht den richtigen Zeitpunkt für ihre Forderungen gefunden. Es bleibe aber nach wie vor das gemeinsame Versprechen „einer bürgerlichen Regierung“, die Steuern zu senken, wenn die Spielräume größer würden. Er kommt dabei nochmals auf sein Bild mit dem Frosch zurück: Man dürfe nicht einfach nur abwarten.
Es sei nicht so, dass keinerlei Möglichkeiten für Steuersenkungen bestünden. Die Sparmaßnahmen gegenüber den Ärmsten der Armen gehen die FDP ohnehin nichts an, diese größer werdende Gruppe ist Rösler kein einziges Wort wert.

Rösler legt zwar ein Bekenntnis zum „gemeinsamen Projekt und zur großen Idee eines gemeinsamen Europas“ ab und er tut besorgt, dass die Begeisterung für Europa schwinde.
Es dürfe jedoch bei der Diskussion über Europa keine Tabus geben, sonst bestünde die Gefahr, dass die Grenzen wieder hochgezogen würden, wie in Dänemark. Die Probleme in Europa seien nur entstanden, weil Rot-Grün die Stabilitätskriterien aufgeweicht hätten. Deshalb müsse man klare Sanktionsmaßnahmen gegen deren Verletzung durchsetzen, Darlehen nur unter strikten Bedingungen und nur unter Parlamentsvorbehalt gewähren. Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder allen anderen Staaten aus der Misere helfen, indem man ihnen Strafsanktionen aufbrummt und sie zwingt sich kaputt zu sparen, das ist also das Konzept mit dem man seitens der FDP „Begeisterung“ für Europa wecken will. Das ist der Sachverstand mit dem der künftige Wirtschaftsminister sein Amt führen will?

In Anspielung auf seine Herkunft plädiert Rösler für eine stärkere Zuwanderung. Aus „kulturellen und ökonomischen Gründen“ sollen andere Menschen bei uns ihre „Heimat“ finden. Aber nach dem Verständnis der FDP dürfen das nur Menschen sein, die nach einem Punktesystem gesteuert, bei uns gebraucht werden. Der Drang und der Wille zur Freiheit, über die Rösler an anderer Stelle schwelgt, findet also seine Grenzen an der Verwertbarkeit der zu uns Kommenden.

Und dann hat Rösler noch ein „neues Thema“ entdeckt: die digitale Welt. Es werde in Zukunft im Rahmen der Bürgerrechte kein anderes Thema mehr geben, als Datenschutz, Datensicherheit und informationelle Selbstbestimmung. Bei den Vorschlägen, wie er die Schwachen vor den Mächtigen im Staat oder in globalen Konzernen schützen möchte, bleibt er jedoch so vage, wie in seiner ganzen Rede.

“Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheit. Ich will kein ausgehaltener Bürger sein, gedemütigt und abgestumpft, weil der Staat für mich sorgt. Ich lehne es ab, mir den eigenen Antrieb mit einem Trinkgeld abkaufen zu lassen. Lieber will ich den Schwierigkeiten des Lebens entgegentreten. Ich will weder meine Freiheit gegen Wohltaten hergeben, noch meine Menschenwürde gegen milde Gaben. Ich habe gelernt, selbst für mich zu denken und zu handeln, der Welt gerade ins Gesicht zu sehen.”

Mit diesem Auszug aus dem Gedicht „Ein freier Mensch“ des Urwalddoktors und Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer beendet Rösler seine Rede. Ein leider schon ziemlich abgedroschenes Zitat, das schon seit längerer Zeit in vielen Ortsverbänden der FDP als Leitspruch gilt und mit dem inzwischen leider auch schon Finanzoptimierer werben.

Dass Rösler gerade dieses Zitat von Schweitzer wählt und nicht den Kern seines philosophischen Anliegens, nämlich dass sich die Menschen beim Nachdenken über sich selbst und ihre Grenzen wechselseitig als Brüder erkennen und sich solidarisch verhalten, ist ein abschließender Beweis dafür, wie sehr Rösler nur neuen Wein in alte Schläuche füllt. Die Strophe in diesem Gedicht „Ich habe gelernt selbst für mich zu denken und zu handeln“ hat Rösler wohlweislich ausgelassen, sonst wäre ihm aufgestoßen, dass gerade dieses eigenständige Denken seiner völlig Rede fehlte.

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