Das Wichtigste ist die Leidenschaft

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Angesichts der Debatte um die Jugendlichen an der Berliner Rütli-Schule erinnert ein Nutzer der NachDenkSeiten an andere Erziehungsmittel als Strafe und Zwang, nämlich sich leidenschaftlich für eine Sache einsetzen zu können, für Musik, für die Förderung von Kreativität durch handwerkliche Tätigkeit, für die Pflege der Umwelt.

„Sir Simon Rattle hat seine Karriere in Birmingham begonnen. Zusammen mit dem Choreographen Royston Maldoom hatte er in Berlin nach 3 Monaten Proben das Sacre du Printemps von Igor Strawinsky mit 250 Kinder aus Brennpunkten Berlins aufgeführt. Diese Arbeit wurde in dem Dokumentarfilm “Rhythm is it” aufgezeichnet.

Das Wichtigste ist die Leidenschaft

Royston Maldoom hat in diesem Interview sehr eindrucksvoll seinen Werdegang, seine Motive und seine Erfahrungen mit Jugendlichen von der Strasse beschrieben.

Das Sacre ist eines der gar nicht so seltenen Werke der klassischen Musik, das für solche Projekte hervorragend geeignet ist. Ein anderes Stück, das Royston Maldoom ebenfalls bereits verwendet, ausgerechnet in Äthiopien, ist natürlich die Carmina Burana von Carl Orff.

Es ist nicht etwa schwer, sondern relativ einfach, wenn auch nicht von Anfang an, extreme Charaktere von ihrem in die Leistungsunwilligkeit, im Extremfall in die Kriminalität führenden Lebensweg abzubringen. Dem gemeinsamen Tanzen, dem gemeinsamen Singen kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Auch die Artistik, auch die künstlerische Gestaltung von Materialien kann eine aggressive Energie in kreativ gestaltende Energie wandeln.

Ich kann natürlich verstehen, warum der Zipfelmützenbürger, der immer schön angepasst und duckmäuserisch sein Leben gestaltet, dies nicht wahrhaben will, genau diese Wandlung der extremen Charaktere nicht erleben will.

Dann müssten diese Menschen sich ja selbst eingestehen, dass es mit ihrer Zugehörigkeit zur abendländischen Kulturgemeinschaft nicht so sonderlich weit her ist, denn Heranwachsende, die nur über diesen Weg für die klassische Musik gewonnen werden, haben ihnen etwas voraus, was sie selbst nur sehr ungenügend besitzen. LEIDENSCHAFT. Damit erschließen sie sich klassische Musik ganz anders, sind experimentier- und entdeckerfreudig, entdecken den Kosmos der klassische Musik, ihre ganze Fülle, während der Bildungsbürger nur das kennt, von dem ihm andere gesagt haben, das gehört zum Bildungskanon.

Sich leidenschaftlich für eine Aufgabe einsetzen können, setzt Energie frei, über die sie selbst nicht verfügen. Weil die Zipfelmützenbürger eben nicht leidenschaftlich, sondern zutiefst langweilig und damit wenig kreativ sind. Die Heranwachsenden lernen in diesen Projekten Disziplin und Arbeit im Team. Das würde sie dem Zipfelmützenbürger überlegen machen, denn zumindest Disziplin, selten Teamarbeit ist ihre Stärke.

Deshalb, genau deshalb darf das nicht sein, dass auf extreme Charaktere anders als mit Strafen, Strafen, Strafen, mit Zucht und Ordnung reagiert wird. Langweilige Menschen sind eben nicht kreativ, sondern einschläfernd.

Außer mit klassischer Musik und üblichen künstlerischen Handwerken kann man auch mit praktischen Arbeiten extreme Charaktere gewinnen. Anfang der Siebziger hat meine frühere Frau Farbe en masse besorgt und mit aggressiven schwer erziehbaren Fürsorgezöglingen das Heim, Schloss Wilhelmstahl bei Eisenach renoviert. Freiwillig, nicht unter Zwang, weil sie sie begeistert hat. Belohnt wurde Sie mit der Treue der Erinnerung und dem bei vielen bis heute anhaltenden Kontakt.

Eine Lehrerin, mit der ich gestern Abend sprach, erreicht Vergleichbares mit aktiver Gestaltung der Umwelt, der Pflege von Gärten und Parks. Gerade bei den schwer zugänglichen Heranwachsenden. Anfangs unzugängliche abwehrende Heranwachsende kann man sehr gut mit Tieren “aufschließen”. Ein Tier übt kein Zwang auf die Jugendlichen aus, es gibt das ihm zurück, was es freiwillig von ihnen erhält. Zuneigung und Fürsorge. Auch Pflanzen und ihre Pflege sind dafür gut geeignet.

Warum will das keiner wissen? Angst vor dem möglichen Erfolg? Angst davor, sein Weltbild, seine Erklärungen über das Verhaltens anderer aufrechterhalten zu können?

Es muss eine sehr große Angst sein und das hat unübersehbare Züge von Erbärmlichkeit, mit der man kein Erbarmen haben sollte.“

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