Griechenland: Die Krise, die wir nicht sehen

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Über die Diskrepanz zwischen den „Erfolgsgeschichten“ von Regierungschef Samaras und der erlebten Realität, über dessen geopolitischen Größenwahn bei einer strategischen Partnerschaft mit China, über Mogelpackungen bei „Verbesserungen“ für die Bevölkerung, über den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und dem drohenden Bankrott der Rentenkassen und darüber, warum die schwere Krise an der Oberfläche der Gesellschaft weniger dramatisch in Erscheinung tritt, als sie es tatsächlich ist, berichtet Niels Kadritzke – eine Lagebeschreibung über die Stimmung in Griechenland zu Beginn dieses Sommers und über das Glaubwürdigkeits-Problem der politischen Klasse.

Gefährliche Visionen

Auf den NachDenkSeiten habe ich schon mehrfach auf die Neigung zu wahnhaften Prophezeiungen hingewiesen, der Griechenlands Regierungschef regelmäßig erliegt. Dass die Beschwörung einer goldenen Zukunft dem Volk als Opium angedient wird, damit die eiserne Gegenwart erträglicher erscheint, ist in allen politischen Systemen eine bekannte Taktik der herrschenden Klasse. Gefährlich wird es für eine Gesellschaft, wenn ihre Politiker selbst an Zukunftsvisionen glauben, die mit der Realität nichts zu tun haben.

Diesem gefährlichen Punkt ist Antonis Samaras bei seinem Treffen mit dem chinesischen Staatspräsidenten auf Rhodos bedenklich nahe gekommen. Am 14. Juli machte Xi Jinping auf der Dodekanes-Insel zwar nur eine technische Zwischenlandung auf seinem Flug zum BRICS-Gipfel in Brasilien, aber die Griechen inszenierten den Stopp als eine Art Staatsbesuch, sodass selbst der greise Staatspräsident Papoulias nach Rhodos fliegen musste. Denn China wird in Athen als der große „strategischen Partner“ Griechenlands gesehen, der maßgeblich dazu beitragen soll, das Land aus der Krise heraus zu ziehen. Xi Jinping ließ sich nicht lumpen und versprach auf dem Flugplatz von Rhodos, die „umfassende strategische Partnerschaft“ noch weiter auszubauen.

Diese Partnerschaft ist keine Fiktion. Spätestens seit 2010 ist offensichtlich, dass Griechenland den Wirtschaftsplanern in Peking tatsächlich als idealer Umschlagplatz für den chinesischen Handel in Richtung Mittel- und Osteuropa ins Auge sticht. Das belegen die Investitionen der staatlichen Reederei Cosco in den Container-Hafen von Piräus (siehe dazu NachDenkSeiten vom 30. Mai 2011 und vom 16. Juli 2013) und das erklärte Interesse der Chinesen an der Übernahme des gesamten Hafens sowie am Einstieg in das (zu privatisierende) griechische Eisenbahnsystem (die Vor- und Nachteil des chinesischen Engagements in Griechenland werde ich in einem späteren Beitrag untersuchen). Angesichts dieses Interesses kann man durchaus verstehen, wenn Samaras die chinesischen Investitionen „in griechische Häfen, Eisenbahnlinien und Flughäfen“ würdigt und sein Land dem strategischen Partner als „Eingangstor zum EU-Markt“ andient.

Geopolitischer Größenwahn

Aber der visionäre griechische Regierungschef ging in Rhodos deutlich weiter. Griechenland wolle auch die „ maritime Kooperation“ mit China stärken, erklärte er dem verblüfften Gast. Sein Land könne etwa „als ein regionales Zentrum“ für die Unterstützung und Wartung chinesischer Schiffe im Mittelmeer dienen, einschließlich der chinesischen Kriegsmarine, meinte Samaras und verwies konkret auf das Potential von Kreta. Diese Insel verfüge über „die vollständige erforderliche Infrastruktur, um die Kriegsflotte Ihres Landes mit Treibstoff zu versorgen, zu warten und zu reparieren“. Von seiner Phantasie beflügelt, schwärmte Samaras auch noch von „gemeinsamen Patrouillen von Kriegsschiffen“, womit er offenbar eine dauerhafte Präsenz der chinesischen Marine im östlichen Mittelmeer antizipiert. Was erstaunlich ist, weil von chinesischer Seite entsprechende Absichten noch nie geäußert wurden, wofür man in Peking sicher gute Gründe hat. Aber das stört den Geopolitiker Samaras nicht, er wittert eine weitere „success story“. Fehlt nur noch das Angebot, der aufstrebenden Großmacht China in Kreta eine Flottenbasis zu verpachten, womöglich gleich neben der existierenden Nato-Flottenbasis in der Souda-Bucht.

Der geopolitische Größenwahn war unterlegt mit dem besitzerstolzen Hinweis auf die historischen Hochkulturen der „strategischen Partner“ Griechenland und China, die Samaras als „Ecksteine“ für „die Kultur der ganzen Menschheit“ bezeichnete, garniert mit der kühnen Hypothese: „Vielleicht hätten wir die globalen Probleme von heute nicht, wenn sich die Prinzipien und Werte unserer beiden Kulturen durchgesetzt hätten: Gerechtigkeit und das richtige Maß, Harmonie und Altruismus“.

Jenseits der Frage, ob diese „Werte“ tatsächlich die „Ecksteine“ der beiden Hochkulturen waren, können die heutigen Griechen die genannten Prinzipien in ihrem Alltag nicht entdecken, und erst recht nicht in der Politik ihrer Regierung. Mit tollkühnen Reden wie in Rhodos bestätigt Samaras bei seinen Landsleuten nur den Eindruck, dass er nicht auf derselben Welt lebt wie der Großteil der Bevölkerung.

Diskrepanz zwischen „Erfolgsgeschichten“ und erlebte Realität

An der Diskrepanz zwischen fiktiven „Erfolgsgeschichten“ und der erlebten Realität der Bevölkerung, die ich wiederholt beschrieben habe (zuletzt in meinen Analysen vom 6. und 17. Januar 2014), hat sich also seit den Gemeinde- und Europawahlen im Mai dieses Jahres wenig geändert. Deshalb steht am Anfang meines Berichts über die Stimmung in Griechenland zu Beginn dieses Sommers und über das Glaubwürdigkeits-Problem der politischen Klasse (einschließlich der Opposition) eine Karikatur, die am 18. Juni in der konservativen Tageszeitung Kathimerini erschienen ist.

Der Karikaturist Ilias Makris zeichnet ein marodes Schiff, dessen Kapitän den Passagieren, die großenteils im Wasser treiben, durch ein Megaphon zuruft:

„Liebe Mitbürger, mit großer Freude geben wir die Senkung unserer Fahrpreise bekannt.“

Hintergrund der Bilderstory ist die jüngste „volksfreundliche“ Maßnahme der Regierung Samaras. Am 16. Juni verkündete Verkehrsminister Chrysochoidis (Pasok) eine Preissenkung für die Kunden der OASA, Träger des öffentlichen Nahverkehrs in Athen. Ab 1. September 2014 wird nicht nur das Einzelticket billiger (1, 20 Euro statt 1, 40); auch die Monatskarte für das gesamte Verkehrsnetz (Busse, Trolleybuss, Straßenbahn und Metro) wird dann statt 45 nur noch 30 Euro kosten, eine Ersparnis um immerhin ein Drittel.

Wie verbilligte Tickets das Busfahren teurer machen

Was eindrucksvoll klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Mogelpackung: als „Karikatur“ einer Preissenkung. Es handelt sich dabei um einen doppelten Bluff:

  1. Für das Einzelticket reduziert sich die Nutzungsdauer von 90 auf 70 Minuten. Das bedeutet, wie die Gewerkschaft der OASA-Angestellten erläutert, dass Fahrgäste, die die ganze Stadt durchqueren müssen, zwei Tickets brauchen werden (Efimerida ton Syntaktion vom 18. Juni 2014). Das gilt vor allem in der Athener rush hour, wenn die Busse nicht vom Fleck kommen (in den meist engen Straßen gibt es nur wenig Busspuren). Zudem ist künftig mit noch längeren Fahrzeiten zu rechnen, weil einige Buslinien abgeschafft und die Fahrpläne ausgedünnt werden.
  2. Ein dreister Bluff ist die „Preissenkung“ der Monatskarten auf 30 Euro. Eine Ersparnis bringt sie nämlich nur den Nutzern des vollen Verkehrsnetzes (inklusive Metro), die bislang monatlich 45 Euro zahlen mussten. Das sind aber nur etwa 30 Prozent aller Monatskartenhalter. Die meisten Berufstätigen haben eine Monatskarte, die nur für Busse, Trolleybusse und Tram gilt, und bisher 20 Euro kostete. Diese Karte wird aus dem Angebot gestrichen. Folglich müssen 70 Prozent der OASA-Abonnenten ab 1. September die 30-Euro-Monatskarte kaufen, also eine Preissteigerung um 50 Prozent hinnehmen.

Die Verkehrsexperten der Syriza bezeichnen die angekündigte „Verbesserung“ des OASA-Angebots zu Recht als „Irreführung der Öffentlichkeit“ (Avgi vom 17. Juni). Aus Sicht der Opposition ist dies nur ein weiteres Beispiel dafür, dass die von der Regierung verkündeten „success stories“ entweder schlecht erfunden sind, oder aber für die Masse der Bevölkerung nichts bringen.(siehe dazu meine Bericht vom 6. und vom 17. Januar 2014).

Die Krise, die wir nicht sehen

An dieser Stelle möchte ich eine Analyse weitergeben, die mein geschätzter Kollege Nick Malkoutzis Ende Juni bei einem Journalistentreffen in Athen vorgetragen hat. Die Teilnehmer aus der Türkei wunderten sich darüber, wie wenig man von der Krise im Athener Straßenbild sieht (was nicht weiter verwundert, weil etwa in Istanbul die sichtbare Armut weit krasser ist, was nur die extreme Spreizung der Einkommensverhältnisse in der Türkei widerspiegelt).

Malkoutzis beantwortete diese Fragen mit einer Darstellung der „Krise, die wir nicht sehen“. Hier seine zentralen Aussagen (von mir übersetzt).

  1. Seit die Rezession in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 eingesetzt hat, ist die griechische Volkswirtschaft in einem Maße geschrumpft wie nie zuvor seit der Okkupation durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg. Diese Rezession hat die Gesellschaft so stark gebeutelt, dass immer mehr Griechen in den Zustand der „sozialen Exklusion“ absinken. Nach den neuesten Zahlen der griechischen Statistik-Behörde ELSTAT waren 2012 mehr als ein Drittel (34,6 Prozent) der Bevölkerung von Armut und sozialer Exklusion bedroht. Das ist der höchste Prozentsatz innerhalb der EU. In der ersten Phase der Krise (2010) lag dieser Anteil noch bei 27,7 Prozent.
  2. Nach ELSTAT sind heute 19,5 Prozent der Griechen als sozial stark benachteiligt („severely materially deprived“) einzustufen. Das ist der weitaus höchste Anteil innerhalb der Eurozone, der deutlicher höher liegt als in den Krisenländern Portugal und Spanien (8,6 bzw. 5,8 Prozent). Zum Vergleich: in den Niederlanden liegt der Anteil bei 2,3 Prozent.
  3. Das verfügbare Einkommen der griechischen Haushalte hat sich seit Beginn der Krise im Durchschnitt um mehr als 30 Prozent vermindert; der Durchschnittslohn ist seit seinem Höchststand von 2010 um 25 Prozent zurück gegangen. In keinem OECD-Land sind die Haushaltseinkommen stärker geschrumpft als in Griechenland; die Einbuße um über 30 Prozent beträgt mehr als das Vierfache des Durchschnitts in der Eurozone.
  4. Nach einem OECD-Report haben knapp 20 Prozent der Bevölkerung nicht das nötige Geld für eine regelmäßige Ernährung. Das ist ein höherer Prozentsatz als in einigen Schwellenländern mit weitaus niedrigerem Durchschnittseinkommen, wie etwa China und Brasilien.
  5. Aus einer Umfrage des Instituts für Kleinunternehmen (IME) beim Griechischen Verband der Freiberufler, Handwerker und Kaufleute (GSEVEE) geht hervor, dass mehr als ein Drittel aller griechischen Haushalte (34, 8 Prozent) mit finanziellen Verpflichtungen – gegenüber dem Staat, den Banken, den Sozialkassen oder öffentlichen Einrichtungen – im Verzug sind, weil ihnen schlicht das Geld fehlt.
  6. Rund 30 Prozent der Geschäfte und Betriebe in Attika (in dieser Region, die auch Athen umfasst, konzentriert sich die Hälfte der ökonomischen Aktivitäten des Landes) haben im Lauf der Krise dicht gemacht.
  7. Der drastische Rückgang der Wirtschaftstätigkeit treibt nicht nur die Arbeitslosenrate in die Höhe; auch die Situation derer, die noch Arbeit haben, wird immer prekärer: Der Gewerkschaftsverband GSEE schätzt, dass etwa ein Viertel der Beschäftigten (das sind 1,2 Millionen Menschen) ihre Löhne und Gehälter mit drei bis 12 Monaten Verspätung ausgezahlt bekommen.
  8. Das größte Problem ist und bleibt die Arbeitslosigkeit. Seit Krisenbeginn hat sich die Arbeitslosenrate vervierfacht: Sie stieg von 7,3 Prozent im 3. Quartal 2008 auf die Rekordhöhe von 27,8 Prozent im 1. Quartal 2014. Das bedeutet, dass die verbliebenen 3,5 Millionen Beschäftigten über 4,7 Millionen arbeitslose oder „inaktive“ Menschen ernähren müssen.
  9. 71 Prozent aller Arbeitslosen, etwa eine Million Menschen, sind Langzeitarbeitslose, haben also seit mindestens 12 Monaten keinen Job mehr. Weil es in Griechenland kein allgemeines System der Sozialfürsorge gibt, stehen diese Leute praktisch ohne Einkommen da. Das (pauschale) Arbeitslosengeld von 360 Euro wird maximal für zwölf Monate gezahlt. Die Folge ist, dass heute nur 15 (fünfzehn!) Prozent der fast 1,4 Millionen Arbeitslosen überhaupt eine finanzielle Unterstützung vom Staat beziehen.
  10. Mehr als 20 Prozent aller volljährigen Griechen und Griechinnen leben in Haushalten ohne jedes Arbeitseinkommen. Keine Volkswirtschaft oder arbeitende Bevölkerung der Welt kann einen solchen Zustand über längere Zeit aushalten, jedenfalls nicht ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel zu setzen.
  11. Vor diesem Hintergrund ist die dramatische Kürzung der Staatsausgaben besonders verhängnisvoll. Griechenland hat in den letzten Jahren einen Sparkurs praktiziert, wie ihn die Welt seit langem nicht erlebt hat: Von 2009 bis 2013 wurde ein Haushaltsdefizit von 15,6 Prozent abgebaut und sogar ein kleiner Überschuss des Primärhaushalts „erwirtschaftet“. Das Sparprogramm hat zwar auch etliche überflüssige und ineffiziente Ausgabenposten gekappt, aber es hat zugleich und fatalerweise die Mittel für lebenswichtige öffentliche Dienstleistungen gekürzt– und zwar vornehmlich für solche, die angesichts der schwierigen Situation für viele Familien unentbehrlicher sind als je zuvor.
  12. Nach einer Analyse der OECD, hat Griechenland vor der Krise nahezu 30 Prozent seiner Budgetmittel für soziale Transferleistungen ausgegeben, aber dieses Geld landete häufig bei Haushalten, die schon relativ wohlhabend waren. Anders ist es bei den jetzigen Etatkürzungen: Sie treffen die ärmeren Schichten am härtesten. So sind seit dem Haushaltsjahr 2007/2008 die realen Ausgaben für Sozial- und Gesundheitsleistungen um insgesamt 18 Prozent zurückgegangen; zum Vergleich: im selben Zeitraum sind diese Ausgaben im Durchschnitt aller OECD-Länder um 14 Prozent gestiegen.
  13. Seit 2008 ist die Anzahl der HIV-Erkrankungen erheblich angestiegen, auch die Fälle von Tuberkulose (und die Zahl der Fehlgeburten) haben stark zugenommen. Bei den psychiatrischen Diensten der Krankenhäuser ist die Zahl der Patienten um 100 Prozent gestiegen. Eine Studie der Universität Athen hat ermittelt, dass sich der Prozentsatz der Menschen, die unter klinischer Depression leiden, seit 2008 nahezu vervierfacht hat (von 3,3 Prozent auf 12,3 Prozent der Bevölkerung).
  14. Besonders defizitär ist die Krankenversorgung für die arbeitslosen Griechen. Für sie entfällt, nach heutigem Stand, nach spätestens zwei Jahren der Anspruch auf freie oder subventionierte Gesundheitsleistungen. In einem Bericht, den Forscher der Universitäten Oxford und Cambridge in der bekannten Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht haben, wurden die Athener Regierung und die Troika beschuldigt, sie würden die Auswirkungen ihrer Sparpolitik auf das griechische Gesundheitswesen schlicht verdrängen.
  15. Die hohe Arbeitslosigkeit und die starke Kürzung der Sozialleistungen bedeuten, dass für in Griechenland die Familie vollends zum wichtigsten „Sicherheitsnetz“ geworden ist. Nach der oben zitierten IME-GSEVEE-Studie geben 48, 6 Prozent der befragten Familien als ihre wichtigste Einnahmenquelle Pensionen bzw. Renten an. Dazu muss man wissen, dass die durchschnittliche Grundrente in Griechenland heute auf unter 700 Euro pro Monat gesunken ist. Das bedeutet eine Reduzierung um 25 Prozent seit 2010, und weitere Kürzungen sind bereits absehbar.

Am Schluss seiner Darstellung verwies Malkoutzis auf die wichtige Rolle, die die Familien bei der Bewältigung der Krise spielen. Dieses private „soziale Netz“ und die zahllosen karitativen Aktivitäten im ganzen Land – von bestehenden Institutionen wie der Orthodoxen Kirche bis zu neuen Initiativen wie den Netzwerk von „Volkskliniken“ für die steigende Zahl nicht versicherter Bürger – erklären zu einem Großteil, warum die schwere Krise an der Oberfläche der Gesellschaft weniger dramatisch in Erscheinung tritt als sie es tatsächlich ist. So ermutigend diese bewundernswerten Initiativen sind, so dürfen sie doch nicht darüber hinweg täuschen, dass die soziale Landschaft weitaus düsterer ist, als es für ein entwickeltes europäisches Land hinnehmbar sein sollte.

Zusammenfassend verglich Nick Malkoutzis die griechische Gesellschaft mit dem Kanarienvogel, der den Bergleuten in den Tiefen ihrer Kohlenschächte als „Gaswarner“ dient: Wenn der Vogel nicht mehr singt, könnte dies ein Indiz für ein drohendes Schlagwetter sein. In Griechenland hat man schon lange keinen Gesang mehr gehört. Aber was das bedeutet, und wie die Gesellschaft die ökonomischen Schläge mittel- und langfristig verkraften wird, könne heute niemand seriös voraus sagen, meint Malkoutzis. Aber er selbst ist skeptisch: „Wird zum Beispiel die prognostizierte ökonomische Erholung die Probleme vermindern und die Wunden verheilen lassen? Das wird sehr stark vom Tempo des Erholungsprozesses abhängen. Nach der Kalkulation des griechische Gewerkschaftsverbands GSEE benötigt die griechische Wirtschaft 20 Jahre lang ein Wachstum von jährlich 3 bis 4 Prozent, um die Zahl der Arbeitsplätze zu schaffen, die im Zuge der Krise verloren gegangen sind.“

Der Systemzusammenhang von Arbeitslosigkeit und Rentenkrise

Diesen erhellenden Blick auf ein düsteres Bild will ich mit vier aktualisierenden Bemerkungen ergänzen.

  1. Die neueste Arbeitslosenrate, für den April 2014, beträgt noch immer 27,3 Prozent, wie schon in den beiden Vormonaten. Die Zahl liegt zwar um 0,5 Prozent niedriger als der absolute Höchststand (vom September 2013), aber der Abwärtstrend bleibt enttäuschend schwach – obwohl mit dem Ostermonat April die touristische Saison begonnen hat, die sich offenbar (noch) nicht auf die Beschäftigung ausgewirkt hat. Die Arbeitslosenrate der Altersgruppe unter 25 Jahren ist leicht gesunken, liegt aber immer noch bei 56,3 Prozent. Ebenso besteht weiterhin eine beträchtliche Differenz zwischen der Arbeitslosigkeit der Frauen (30, 7 Prozent) und der Männer (24,6 Prozent), wobei die Rate bei den Männern sogar noch leicht angestiegen ist.
  2. Am 7. Juli hat die staatliche Agentur für Beschäftigung (OAED) neue Zahlen über die Bezieher von Arbeitslosengeld veröffentlicht. Demnach beziehen nur knapp über 102 000, also nur 8 Prozent aller registrierten Arbeitslosen die maximal 12 Monate ausgezahlte Summe von 360 Euro. Ohne Unterstützung bleiben also nicht nur generell die 71 Prozent der Langzeitarbeitslosen (wie von Malkoutzis hervorgehoben), sondern auch alle Arbeitslosen, die kein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben, weil sie nicht lang genug einen legalen, also versicherten Arbeitsplatz hatten, oder weil ihre Arbeitgeber – wie es häufig der Fall ist – ihre Beiträge an die Kassen nicht oder nur unregelmäßig abgeführt haben.
  3. Der Arbeitswissenschaftler Prof. Savas Robolis (der hier schon häufig zitiert wurde) hat kürzlich auf die besondere Lage der älteren Arbeitslosen (Altersgruppe 45-64 Jahre) hingewiesen, die mit 360 000 Menschen doppelt so groß wie die Altersgruppe von 15-24 Jahren (Bericht in Kathimerini vom 10. Juli). Diese älteren Arbeitslosen haben es in dreifacher Hinsicht besonders schwer:
    • Ihre Chance, irgendwann wieder einen Job zu finden, ist schon aus Altersgründen noch geringer als bei den Jüngeren. Das spiegelt sich im Prozentsatz der Langzeitarbeitslosen, der bei dieser Altersgruppe mit 77,6 Prozent noch höher liegt als bei der Gesamtheit der Arbeitslosen.
    • Diese Jahrgänge sind im Durchschnitt deutlich weniger qualifiziert als die jüngeren Generation, aber dieses soziale Handicap wird nicht einmal ansatzweise durch Fortbildungsangebote kompensiert (wie in anderen EU-Ländern).
    • Diese Gruppe steht vor dem akuten Problem, wie sie sich eine notdürftige Alterssicherung verschaffen kann. Da nur maximal 200 Tage Arbeitslosigkeit auf ihre Rentenansprüche angerechnet werden, sehen sich viele ältere Langzeitarbeitslose gezwungen, ihre Ersparnisse aufzulösen, um weiter in die Rentenkasse einzuzahlen und sich damit minimale Altersbezüge zu sichern.
  4. Wenn die Aussichtslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt die (stark gekappte) Rente zur letzten Hoffnung macht, ist das nicht nur eine persönliche Tragödie. Damit ist zugleich die nächste soziale Katastrophe vorprogrammiert: die totale Überlastung und letztlich der Zusammenbruch der Rentenkassen. Der Trend zur Frühverrentung, der sich seit Beginn der Krise verstärkt hat, wird zu einer Lawine. Obwohl inzwischen auch in Griechenland eine frühe Rente mit den üblichen Einbußen verbunden ist – obligatorischen Abschläge von 6 Prozent pro Jahr wurden erst im Zuge der Sparprogramme eingeführt -, erscheint sie vielen als letzter Rettungsanker, da sie als Langzeitarbeitslose mit null Einkommen dastehen würden.

    Eine Renten-Ratgeberin empfiehlt deshalb in der Wirtschaftszeitung Imerisia (vom 12. Juli): „Jeder Versicherte, der seine Arbeit verliert, sollte prüfen, inwieweit eine Verrentung ihm finanziell mehr bringt als die Suche nach einer anderen Arbeit.“ Für viele wird diese „Prüfung“ eindeutig ausfallen: Die Rente, und sei sie noch so gering, ist sicher, die Chance, einen versicherten Job zu finden, vergleichsweise gering. Geringer jedenfalls als die Chance, als Frührentner eine Schwarzarbeit zu finden. Für die Gesellschaft bedeutet dies jedoch eine zusätzliche Belastung der Rentenkassen: Zum einen durch die steigende Anzahl der Frührentner, zum anderen durch die weitere Zunahme der Schwarzarbeit.

Mit dem Drang von Langzeitarbeitslosen des privaten Sektors in die Frührente kommt auf das griechische Rentensystem bereits die zweite Welle von Ansprüchen zu. Die erste Welle war der rasante Anstieg der Frühpensionierungen von Staatsbediensteten, der in ersten Krisenjahren (bis 2012) die Pensionskassen des öffentlichen Dienstes überrollt hat. Beide Wellen akkumulieren sich zu Defiziten, die eigentlich eine Umstellung auf eine steuerfinanzierte Alterssicherung unumgänglich machen. Aber das erscheint natürlich ausgeschlossen in einem Land, dessen Regierung auf Jahre hinaus einen Überschuss im Primärhaushalt zum höchsten Staatsziel erklärt hat.

Die Kluft zwischen den rapide steigenden Rentenansprüchen und dem drastischen Rückgang der Beitragszahlungen wird also weiter anwachsen. Der Verband der Rentenversicherten (POKOPK) hat für die drei größten Rentenkassen (IKA für den Privatsektor, OGA für den öffentlichen Dienst, OAEE für die Freiberufler) einen Beitragsrückstand in Höhe von 15,5 Milliarden Euro errechnet. Allein bei der IKA ist die Beitragslücke von Ende 2010 bis Ende 2013 von 4,8 Milliarden auf 8,1 Milliarden Euro angewachsen, also um fast 70 Prozent. Bei der OAEE zahlt inzwischen die Hälfte der versicherten Freiberufler keine Beiträge mehr, was das Beitragsloch von 5,9 Milliarden Euro erklärt, das bis Jahresende 2014 noch anwachsen wird (Angaben nach der Wirtschaftszeitung „Navtemporiki“ vom 30. Juni).

Für das griechische Rentensystem insgesamt haben die POKOPK-Experten ausgerechnet, dass sich das Finanzierungsloch in den Krisenjahren – wohlgemerkt nach den Verlusten durch den Schuldenschnitt (PSI) vom März 2011, bei dem die Rentenkassen 12 Milliarden Euro einbüssten – um weitere 20 Milliarden Euro vergrößert hat (Kathimerini vom 15. Juni). Dieses Loch resultiert vor allem aus drei Effekten:

  • Wegen der exorbitanten Arbeitslosigkeit fielen Beiträge in Höhe von rund 7 Milliarden Euro aus;
  • die drastische Beschneidung der Lohneinkommen minderte die Einnahmen um weitere 3 Milliarden Euro;
  • durch die Schwarzarbeit und die Beitragshinterziehung bzw. die schwindende Beitragsdisziplin (oder – fähigkeit) der Arbeitgeber und der Freiberufler entgegen den Kassen 8,5 Milliarden Euro.

Am stärksten bedroht ist die Kasse der Freiberufler, die ab September keine Renten mehr auszahlen kann, wenn die Regierung nicht 400 Millionen Euro zuschießt. Für alle drei Kassen beziffert sich der akute Deckungsbedarf bis zum Jahresende auf mindestens zwei Milliarden Euro. Diese Summe erhöht sich auf 5,1 Milliarden Euro, wenn man die 3,1 Milliarden einbezieht, mit denen die Kassen bei ihren Auszahlungen gegenüber Versicherten im Rückstand sind.

In der Verwaltung der Kassen und im Arbeitsministerium ist man verzweifelt am Rechnen, wie diese „alptraumhafte Entwicklung“ (Kathimerini vom 29. Juni 2014) abgewendet werden kann. Aber das favorisierte Konzept, die Beitragsmoral der Arbeitgeber durch großzügigere Ratenregelungen für die geschuldeten Beiträge (im Gespräch sind statt der 12 Raten wie bisher 24 oder sogar 48), wird die Einnahmen nicht wesentlich aufbessern. Am Ende wird der vollständige Bankrott der Kassen nur durch „alternativlose“ Rentenkürzungen abzuwenden sein. Deshalb sieht Nick Malkoutzis – wie andere realistische Ökonomen – für die kommenden Jahre nochmals eine Halbierung des durchschnittlichen Rentenniveaus voraus. Man kann sich ausmalen, was dies angesichts der Tatsache bedeutet, dass schon heute die Rentenbezüge für nahezu die Hälfte der griechischen Bevölkerung die Haupteinnahmequelle darstellen (siehe oben Pkt. 15).

Es sind diese aktuellen und sich weiter zuspitzenden Probleme, die den Alltag der Bevölkerung prägen und den demonstrativen Optimismus und die Erfolgsgeschichten der Regierung Lügen strafen. Dieser „Grundwiderspruch“ zwischen der offiziellen Proklamation des „Krisenendes“ durch Ministerpräsident Samaras und der alltäglichen Realität ist auch der wichtigste Erklärungsfaktor dafür, dass das griechische Wählervolk die beiden Regierungsparteien und insbesondere die Nea Dimokratia von Regierungschef Samaras bei den Europa-Wahlen vom 25. Mai abgestraft hat.

Die übliche Regierungsumbildung

Die Art und Weise, wie Samaras auf den Verlust an Wählerstimmen (gegenüber den Parlamentswahlen vom Juni 2012) reagiert hat, ist ein weiterer Beleg dafür, dass bei dieser Regierung, die sich gegenüber den EU-Partnern als die große und einzig mögliche „Reformkraft“ anpreist, nur eines richtig funktioniert: die altbekannten klientelistischen Reflexe.

Nicht nur in Griechenland pflegt eine amtierende Regierung auf den ersichtlichen Vertrauensverlust bei den Wählern mit einer Umbildung der Regierung zu reagieren. Das hat auch Samaras getan, indem er zum Beispiel den unbeliebten Gesundheitsminister Georgadis auswechselte, der sich auf extrem unflätige Art mit allen Gruppen des öffentlichen Gesundheitssektors angelegt hatte (ersetzt wurde Georgadis durch den ND-Fraktionschef Voridis, der wie sein Vorgänger seine politische Karriere in der rassistischen und antisemitische Laos-Partei begonnen hat). Auch die Ablösung von Finanzminister Stournaras, der seit Sommer 2012 den Präzeptor einer strengen, von der Troika diktierten Sparpolitik gegeben hat, könnte man als symbolisches Opfer eines unbeliebten Ministers sehen, aber das ist eine optische Täuschung. Seit Monaten war bekannt, dass sich Stournaras, nachdem er einen Großteil der „Drecksarbeit“ erledigt hatte, an die Spitze der Zentralbank treten wollte, die mit Ablauf der Amtszeit seines Vorgängers Provopoulos frei wurde.Tatsächlich wurde Stournaras am 27. Juni als neuer Präsident der „Bank von Griechenland“ vereidigt. Sein Nachfolger als Finanzminister wurde der akademische Volkswirtschaftler Gikas Chardouvelis, den die griechischen Medien übereinstimmend entweder als „alter ego“ oder als „Azubi“ von Stournaras bezeichnen. Wobei Letzterer in seiner neuen Rolle mindestens ebenso viel Einfluss auf die Staatsfinanzen ausübt wie zuvor.

Schon im Vorfeld der Regierungsumbildung fiel allerdings eine Personalentscheidung, die im Ausland kaum registriert wurde, obwohl sie viel interessanter und wichtiger ist als alle neuen Ministernamen. Gemeint ist der Wechsel an der Spitze des „Generalsekretariats für die Steuereinnahmen“, abgekürzt GGDE (Genikí Grammateía Dimosíon Eisódon), deren Leiter Charis Theocharis am 5. Juni, noch vor der Regierungsumbildung, zurückgetreten ist – angeblich „aus persönlichen Gründen“.

Welche Bedeutung dieser Rücktritt hat und was er über die Fähigkeit der Regierung zur Sanierung der Steuereinnahmen besagt, soll im zweiten Teil dieser Analyse dargestellt werden.

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