Krankheitssystem: Viele Pillen, hohe Profite, kaum Prävention und Kosten ohne Ende

Krankheitssystem: Viele Pillen, hohe Profite, kaum Prävention und Kosten ohne Ende

Krankheitssystem: Viele Pillen, hohe Profite, kaum Prävention und Kosten ohne Ende

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Das deutsche Gesundheitswesen ist europaweit mit Abstand das teuerste und qualitativ eines der schlechtesten. Die Therapie: Weiter steigende Kassenbeiträge und neuerliche Leistungskürzungen. Wie wäre es damit, Herr Bundeskanzler, den überbordenden Kommerz im System auszumerzen und endlich die Pharmalobby an die Kandare zu nehmen? Nicht doch: Die Bundesregierung will die Branche zur „Leitindustrie“ machen. Leider kein Witz. Von Ralf Wurzbacher.

Das deutsche Gesundheitssystem ist ein Mysterium: Die Krankheitslast der Bevölkerung wird stetig größer und die Kosten steigen ohne Ende. Oberflächlich betrachtet erscheint das wie ein Widerspruch. Wird mehr Geld für Gesundheit mobilisiert, müssten die Menschen im Land doch auch gesünder sein. Falsch gedacht! Ein Blick ins europäische Ausland öffnet die Augen. Der vor acht Tagen vom AOK-Bundesverband und dem Deutschen Krebsforschungszentrum veröffentlichte Public-Health-Index (PHI) verzeichnet für Spanien die EU-weit höchste Lebenserwartung. Die dort im Jahr 2023 geborenen Kinder werden absehbar im Schnitt 84 Jahre alt werden. Bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf rangierte das Land 2022 dagegen auf Platz 16 und mit 2.822 Euro 711 Euro unter dem EU-Mittel (3.533 Euro).

Und die BRD? Bei der Lebenserwartung landet sie mit 81,1 Jahren auf Platz 17 und damit unter dem EU-Schnitt von 81,4 Jahren. Bei den Ausgaben allerdings „überragt“ sie die übrigen 26 Staaten mit großem Abstand. Mit 5.317 Euro pro Kopf hängen die Deutschen die zweitplatzierten Österreicher um 572 Euro ab und toppen den EU-Durchschnitt um satte 1.784 Euro. Wie es anders geht, beweist auch Italien: Zweiter bei den Lebensjahren, aber Zwölfter bei den Kosten. Wo liegt das Geheimnis? Bekommen wir zu wenig Sonne ab? Oder müssen wir einfach mehr Pizza und Paella futtern? Wohl kaum. Denn tatsächlich ging es uns auch schon mal besser, in Zeiten, als wir noch nicht so viel Geld in unsere Gesundheit gesteckt haben. Richtig übel wurde es mit Corona, wobei Lockdowns und Impfungen hier nicht das Thema sein sollen. Es geht um die Gesamttendenz, und die muss zu denken geben.

Kassenbeiträge im Höhenflug

Zum Beispiel liefert die unter der Woche vom Robert Koch-Institut (RKI) vorgelegte Erhebung „Gesundheit in Deutschland“ Bedrückendes. Demnach schätzten im Vorjahr nur noch 64,2 Prozent der Erwachsenen ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ ein. Das sind über drei Prozentpunkte weniger als im Jahr 2023. Knapp 22 Prozent der Befragten gaben eine depressive Symptomatik an. Mehr als die Hälfte, 53,7 Prozent, berichteten von einer chronischen Erkrankung. Dabei sind sozial Benachteiligte und Menschen mit geringerem Bildungsniveau häufiger von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen als solche aus einkommensstärkeren Schichten. Womit sich einmal mehr zeigt, was ohnehin auf der Hand liegt: Armut macht krank.

Das Problem: Die Armut im Land nimmt weiter zu, unter anderem getrieben durch steigende Aufwendungen zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Der gesetzlich festgelegte individuelle Zusatzbeitrag der Krankenkassen wird sich 2026 um 0,4 Punkte auf dann 2,9 Prozent erhöhen, wobei das nur eine Orientierungsmarke darstellt. Beispielsweise liegt die Barmer schon jetzt bei 3,29 Prozent und die Knappschaft bei 4,4 Prozent. Der Focus prognostiziert für das kommende Jahr über alle Kassen hinweg eine Erhöhung von 0,9 Prozent auf im Schnitt 3,25 Prozent, die auf den allgemeinen Satz von 14,6 Prozent obendrauf kommen.

Noch ein Sparpaket

In dem Stil könnte es weitergehen. In der Vorwoche wurden Szenarien publik, wonach die Gesamtbeiträge von aktuell im Mittel 17,5 Prozent auf 19,1 Prozent im Jahr 2030 hochschnellen werden, 2040 wären es sogar bis zu 22,7 Prozent. So steht es in einer Stellungnahme des GKV-Spitzenverbands für die von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) eingesetzte „Finanzkommission Gesundheit“. Diese will bis März 2026 Vorschläge zur „Stabilisierung“ des Systems erarbeiten. Die GKV-Funktionäre wollen sich mit einem „Sparpaket“ im Umfang von 50 Milliarden Euro einbringen, das an allen Stellschrauben ansetzen soll, bei Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten, Heil- und Hilfsmitteln, nicht zuletzt bei der Pharmaindustrie. Beispielsweise sollen die Pflegeausgaben in den Kliniken gedeckelt oder die Budgets für Haus- und Kinderärzte wiederbelebt werden. Manche der Rezepte laufen auf neuerliche Leistungskürzungen hinaus, andere erscheinen durchaus sinnvoll.

Vielversprechend klingt im Speziellen der Ansatz, zu einer „einnahmenorientierten Ausgabenpolitik“ zurückzukehren. Demnach dürfe die Politik nur mehr für Kostensteigerungen grünes Licht geben, die von der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen auch gedeckt sind.

Das wäre tatsächlich eine kleine Revolution. Heute ist es üblich, dass praktisch jede medizinische „Neuerung“ sofort ins System eingepreist wird, ganz egal, wie teuer sie ist und wie sehr sie das Solidarsystem belastet beziehungsweise überfordert. Anders ausgedrückt: Die Kosten des Gesundheitssystems laufen vor allem deshalb so aus dem Ruder, weil es so viele gibt, die daran mitverdienen. Hierin besteht auch der große Unterschied etwa zur staatlichen Altersvorsorge. Deren Ertrag landet als ein Betrag X auf dem Konto von Senioren, die letztlich die alleinigen Profiteure des Systems sind. Anders bei der Privatrente: Hier kassieren andere mit – Versicherungen, Makler, Banken, Spekulanten – und zwar mitunter so kräftig, dass für die Versicherten kaum bis gar nichts hängen bleibt. Bestes Beispiel ist die Riester-Rente.

Rauchen, saufen, fressen

Was folgt daraus? Da, wo viele Interessen, im Besonderen Gewinninteressen mitmischen, gerät das System außer Kontrolle. Folglich ist auch das Gesundheitswesen zu einer riesigen Blackbox missraten, bei der längst nicht mehr klar ist, was bei dem vielen Geld, das vorne reingestopft wird, hinten rauskommt. Auf alle Fälle ist für Deutschland festzustellen: Eine bessere Volksgesundheit ist es nicht. Wenn man so will, ist genau das gewollt. Gesunde Menschen müssen nicht zum Arzt, nicht ins Krankenhaus, brauchen keine Pillen oder Titanhüften. Sie versprechen einfach keinen Profit. Kranke Menschen umso mehr, weil sich ihnen Medikamente, alle möglichen Therapien und die „Wunder“ der modernen Gerätemedizin verkaufen lassen. Nicht zufällig ist Deutschland international Vorreiter beim Implantieren von Hüft- und Kniegelenken sowie bei Herzkatheteruntersuchungen, Kniegelenksspiegelungen und Wirbelsäulen-OPs. „Da sind wir tatsächlich mehrfache Weltmeister“, befand der Gefäßchirurg und Buchautor Thomas Strohschneider vor drei Jahren im Gespräch mit den NachDenkSeiten. „Viele Eingriffe und Untersuchungen sind überflüssig und in manchen Bereichen besteht definitiv eine Übertherapie, die unnötige Kosten verursacht.“

Es gibt Alternativen. Erkrankungen lassen sich vermeiden, durch Vorbeugung: gute Ernährung, Sport, frische Luft, ein gedeihliches Lebensumfeld mit Hobbys, Freundschaften und Abwechslung vom Alltag. Aber was leisten wir uns in Sachen Prävention? Einmal mehr: miserable Platzierungen im internationalen Vergleich. Bei besagtem Public-Health-Index findet sich Deutschland bei drei von vier Handlungsfeldern ganz weit unten im Ranking von 18 Staaten. Tabakpolitik: Rang 17. Alkoholpolitik: Zweitletzter gemeinsam mit Österreich. Ernährungspolitik: rote Laterne zusammen mit Luxemburg, Österreich und der Schweiz. Nur bei der Bewegungsförderung reicht es zum zehnten Rang, in der Gesamtsicht nur zum zweitletzten Platz. Die Spitzenreiter Großbritannien, Finnland und Irland setzten gezielt auf Maßnahmen zur Förderung gesunder Lebensweisen, etwa Mindeststandards für Schulessen, eine gesundheitsorientierte Besteuerung sowie umfassenden Kinderschutz durch Einschränkungen von Werbung und Verfügbarkeit krankmachender Konsumgüter, heißt es in der Studie. Deutschland dagegen lasse „zentrale Instrumente ungenutzt“ und offenbare „mangelnden politischen Willen zum Umsteuern“.

Leit(d)industrie

Stattdessen soll die Pharmawirtschaft zur „Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft“ werden, die „für die Gesundheitsversorgung und den Wirtschaftsstandort von großer Bedeutung“ sei, schreibt die Bundesregierung in einem Strategiepapier. Wo das hinführt, zeigt der am Dienstag publizierte „Arzneimittel-Kompass 2025“ der AOK. Demnach türmten sich die Ausgaben der GKV für Arzneien aller Art 2024 auf 59,3 Milliarden Euro, was einem Anstieg von über neun Prozent gegenüber 2023 entspricht. Für das laufende Jahr rechnet das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) mit einem Kostenaufwuchs von mehr als fünf Prozent und angesichts „fehlender gesetzlicher Maßnahmen“ ebenso für 2026.

Eigentlich hätte das schon seit 2011 geltende Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) die Preisrallye bei den „innovativen“ Medikamenten bremsen sollen. Damit sind patentgeschützte Präparate gemeint, die bei nicht selten zweifelhafter Wirksamkeit zu Mondpreisen über den Ladentisch gehen. Ihr Anteil an den Gesamtkosten lag laut AOK-Report 2024 bei 54 Prozent, wogegen sie nur sieben Prozent aller verordneten Tagesdosen ausmachten. Seit der vermeintlichen Regulierung vor 14 Jahren haben die Ausgaben für alle Arzneien um 125 Prozent zugelegt. „Die Marktanalysen zeigen, dass die Steuerungswirkung einer frühen Nutzenbewertung und nachgelagerten Preisverhandlung nach dem AMNOG-Verfahren durch Umgehungsstrategien der pharmazeutischen Unternehmen ausgehöhlt wird“, äußerte WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder in einer Pressemitteilung.

Mehr Geld für weniger Versorgung

Eines der Schlupflöcher ist die sogenannte Orphanisierung. Dabei konzentrieren sich die Hersteller auf Arzneimittel für seltene Erkrankungen, weil bei diesen bis zu einer Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro kein Nutzennachweis erfolgen muss. Für die Branche ist das eine Geldspritze in eigener Sache. Die Durchschnittspreise pro Packung im Patentmarkt kletterten zwischen 2015 und 2024 von 4.100 Euro auf 7.700 Euro. Im Vorjahr gab es 42 Neueinführungen, darunter 24 Orphan-Medikamente. Sie brachten es auf einen Versorgungsanteil von weniger als einem Promille, aber verursachten 14 Prozent der Gesamtausgaben. Auch dies führe dazu, dass „immer mehr Geld für immer weniger Versorgung ausgegeben wird“, so Schröder.

Die AOK stellt diverse Forderungen: Medikamente mit unsicherer Evidenz und hohem medizinischen Bedarf sollten nur noch in qualifizierten Zentren eingesetzt werden. Auf den Prüfstand müsse ferner die Möglichkeit der Pharmafirmen, den Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel in den ersten sechs Monaten frei wählen zu dürfen. Außerdem brauche es Transparenz bei der Forschungs- und Entwicklungsfinanzierung (F&E). Unternehmen profitieren heutzutage oft von einer doppelten Förderung, einerseits über Steuern sowie zweitens über die Arzneimittelpreise, die sie praktisch freihändig festlegen können. Die Pharmaindustrie mache sich das Fehlen einer „standardisierten Berichterstattung über öffentliche F&E-Ausgaben zunutze, um den Mythos aufrechtzuerhalten, ganz allein Unsummen dafür auszugeben“, heißt es dazu in der AOK-Studie.

Toxische Lobby

Es darf bezweifelt werden, dass die Bundesregierung entsprechende Schritte in die Wege leitet. Wie mächtig und einflussreich die Pharmalobby in Deutschland und Europa ist, ließ sich während der Pandemie bestaunen, als die Politik der Branche Milliardenprofite für Impfstoffe genehmigte, die womöglich mehr Schaden anrichteten als sie Nutzen brachten. Das zu klären, wäre ein mithin lebenswichtiger Forschungsauftrag.

2007 hatte der inzwischen verstorbene John Virapen im Buch „Nebenwirkung Tod“ als Ex-Topmanager des US-Konzerns Eli Lilly über die Machenschaften seines früheren Arbeitgebers ausgepackt. Dazu gehörten die Vermarktung hochgefährlicher bis tödlicher Medikamente ebenso wie das Aufpeppen schon existenter Wirkstoffe durch Veränderung nur eines Moleküls und ohne jeden Zusatznutzen. Das sei laut Virapen das gängige Geschäftsmodell eines Wirtschaftszweigs, der Gewinne einstreiche, nicht um Menschen gesund, sondern sie krank zu machen und zu erhalten.

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Titelbild: elmar gubisch/shutterstock.com

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