Schrödingers Fachkräftemangel

Schrödingers Fachkräftemangel

Schrödingers Fachkräftemangel

Lutz Hausstein
Ein Artikel von Lutz Hausstein

Entsprechend ihrer politischen Stationen müsste Andrea Nahles eigentlich den Inbegriff der Fachexpertin für Arbeitsmarktthemen darstellen. Ihre parteiinternen Posten bis hin zur SPD-Vorsitzenden, die eine häufige Auseinandersetzung mit der Mutter aller Arbeitsmarktreformen, der Agenda 2010, mit sich brachten, später ihre Tätigkeiten als Ministerin für Arbeit und Soziales und nun gar als Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit sind mehr als Beleg dafür. Doch nun hat Nahles ausgerechnet auf dem Arbeitsmarkt ein Paradoxon entdeckt, welches sie nicht so recht aufzuklären vermag. Eine Glosse von Lutz Hausstein.

Während Andrea Nahles einerseits zu viele Arbeitslose konstatierte, beklagte sich die Chefin der Bundesagentur für Arbeit über den Mangel an Arbeitskräften. Was die Einen als eine bipolare Störung interpretieren mögen, weckt in mir eher die Erinnerung an Schrödingers Katze. Schaut man nicht in die Blackbox hinein, weiß man auch nicht mit Gewissheit, ob die Katze lebt, …, äh, … ob es wirklich keine Fachkräfte gibt.

Der vielbeschworene Fachkräftemangel ist ein Mythos, der uns schon seit mehr als zwei Jahrzehnten begleitet. Er existiert bis heute in verschiedenen Erscheinungsformen: mal als Mangel an Informatikern, mal als Mangel an MINT-Fachleuten allgemein, dann wieder fehlten Ingenieure oder Ärzte. Später war der Fachkräftemangel sogar schon bei LKW-Fahrern und Friseuren angekommen. Stets wurde von den Unternehmen „händeringend“ gesucht. Beispiele aus der Praxis, bei denen ausgerechnet Fachleute der jeweils gesuchten Sparte ihrerseits seit Längerem – gern ebenfalls händeringend – eine Arbeit suchten, wurden entweder komplett ignoriert oder als Einzelfälle abgetan. Der Mythos hatte Bestand: In Deutschland ist einfach kein geeignetes Personal aufzutreiben.

Nun ist das aber so eine Sache mit dem fachlich geeigneten Personal. Wer entscheidet eigentlich, was eine Fachkraft ist, und nach welchen Kriterien? Die JobCenter, die der Bundesagentur für Arbeit zugehören, also dem Kompetenzbereich von Andrea Nahles, haben da eine recht einfache Einordnung: Wer länger als ein Jahr keine sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle mehr hatte, verliert formal seine sämtlichen Qualifikationen.

Es ist also für die JobCenter-Mitarbeiter völlig egal, ob der betreffende Arbeitslose eine Fachausbildung, ein abgeschlossenes Studium oder gar einen Doktortitel hat: Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit wird derjenige auf den Status eines Ungelernten herabgestuft. So werden mit einem Federstrich aus gut und sogar ausgezeichnet ausgebildeten Fachkräften per Deklaration Hilfsarbeiter und man kann einen Fachkräftemangel postulieren.

All das könnte Andrea Nahles wissen. Würde sie die Blackbox „Fachkräftemangel“ öffnen und nur ein klein wenig genauer auf die Details schauen, würde sie verstehen, dass der proklamierte Fachkräftemangel in dieser Form nicht existiert. Damit wäre auch das vermeintliche Paradoxon vom Tisch und Erwin Schrödinger könnte sich wieder um die Existenz oder Nichtexistenz seiner bedauernswerten Katze kümmern.

Titelbild: Foto-berlin.net/shutterstock.com

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