Vom Kampf um die Ukraine zum Wirtschaftskrieg gegen Russland

Vom Kampf um die Ukraine zum Wirtschaftskrieg gegen Russland

Vom Kampf um die Ukraine zum Wirtschaftskrieg gegen Russland

Hannes Hofbauer
Ein Artikel von Hannes Hofbauer

Schützengräben voller Blut, zerbombte Häuserzeilen mit zivilen Opfern, Drohnenattacken auf Infrastruktureinrichtungen weit hinter den Frontlinien und das langsame Vorrücken russischer Soldaten im Osten der Ukraine. Zwischen solchen oder ähnlichen Überschriften mäandert die Kriegsberichterstattung der Staats- und Konzernmedien. Dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann, ergänzen Ex-Generäle des Nordatlantikpaktes auf alternativen Portalen. Das Gros der Debatte widmet sich der militärischen Betrachtungsweise des russisch-ukrainischen Konfliktes. Es ist an der Zeit, auch die historischen und ökonomischen Aspekte dieses größten und heftigsten Krieges seit 1945 auf europäischem Boden in den Blick zu nehmen. Von Hannes Hofbauer.

Wir wollen mit dem Kampf um die Ukraine beginnen, dem – wie schon der Name sagt – Grenzland zwischen Ost und West. Er weist eine lange Geschichte auf. Die erste große Konfrontation spaltete die orthodoxe Bevölkerung von Polen-Litauen, die im 16. Jahrhundert vom heutigen Weißrussland im Westen bis zur Dnjepr-Insel Chortyzija bei Saporischschja im Osten lebte. Von Rom entsandte Jesuiten predigten gegen die „Ungläubigen“ des Moskauer Patriarchats und bauten jenen Druck auf, der mithilfe des polnischen Adels im Jahr 1596 zur „Union von Brest“ führte. Mit diesem Vertrag unterwarfen sich orthodoxe Priester mitsamt den ihnen anvertrauten Seelen und Kirchenhäusern dem Recht der katholischen Kirche. Die orthodoxe Liturgie durfte beibehalten werden, der Papst in Rom bestimmte aber fürderhin über Priesterschaft und Kirchengüter. Griechisch-katholisch bzw. uniert nannte man in den folgenden Jahrhunderten die Christen im Westen der späteren Ukraine. Volksaufstände gegen die polnische Herrschaft und die aufoktroyierte Kirchenunion gipfelten im Kosaken-Hetmanat des Bogdan Chmelnizkij in der Mitte des 17. Jahrhunderts.

Bis zur ersten modernen ukrainischen Staatlichkeit sollten noch 250 Jahre vergehen. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges überstürzten sich die Ereignisse. Die Februar-Revolution von 1917 fegte die zaristische Herrschaft hinweg, die im Westen bis an die habsburgischen Kronländer Galizien und Bukowina reichte. In Kiew bildete sich sogleich eine Zentralna Rada (Zentralrat), die am 12. Januar 1918 die „Ukrainische Volksrepublik“ als unabhängigen Staat ausrief. Einen Monat zuvor, am 12. Dezember 1917, wurde in der Arbeiterhochburg Charkow/Charkiw die Gründungsurkunde der „Ukrainischen Sowjetrepublik“ unterzeichnet. Damit standen einander Volksrepublik und Sowjetrepublik gegenüber. Beide beanspruchten eine territorial umfassende Staatlichkeit für sich. In Kiew war man bäuerlich-bürgerlich, in Charkow proletarisch-revolutionär orientiert. Dazu kam noch die bakunistisch-anarchistische Machnowschtschina, benannt nach ihrem Führer Nestor Machno, der zwischen 1917 und 1921 einen freien Rajon in der Größe von 80.000 Quadratkilometern mit sieben Millionen Einwohnern im Süden und Osten der späteren Ukraine verwaltete.

Parallel zu den von Leo Trotzki als Vertreter der Sowjets geführten Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk schlossen die bereits arg in Bedrängnis geratenen Monarchien der Hohenzollern und der Habsburger am 27. Januar 1918 einen Separatfrieden mit der Kiewer Rada, den sogenannten Brotfrieden. Für die Anerkennung der bürgerlichen „Ukrainischen Volksrepublik“ verlangten Berlin und Wien Getreidelieferungen, um damit die Hungernden zu Hause ernähren zu können. Zur militärischen Absicherung dieses gegen die Sowjetrepubliken in Charkow und Donezk-Kriwoj-Rog gerichteten Separatabkommens marschierte die österreichisch-ungarische Armee bis Odessa, während die Preußen ihre Interessen von Kiew aus kontrollierten. Das Ende der deutsch bzw. österreichisch geführten Ukraine näherte sich im Juni 1920 mit dem Vormarsch der Bolschewiken. Die „Ukrainische Sowjetrepublik“ beließ vorerst ihre Hauptstadt in Charkow, erst 1934 verlieh man Kiew diesen Status.

Der nächste deutsche Vorstoß kam am 22. Juni 1941. Drei Millionen Wehrmachtssoldaten überrannten die Ukraine und hinterließen verbrannte Städte und fünf Millionen Tote. Das hastig eingerichtete „Reichkommissariat Ukraine“ plante die Vernichtung großer Teile der slawischen und jüdischen Bevölkerung und deren Ersetzung durch die Ansiedlung von 20 Millionen Deutschen. Der fruchtbarste Boden Europas, die ukrainische Schwarzerde, sollte in Zukunft den deutschen „Herrenmenschen“ ernähren. Dazu wurden an vielen Stellen des Reiches Bauern zu Verwaltern von landwirtschaftlichen Gütern im Osten ausgebildet. Der Autor dieser Zeilen war mit einem solchen präsumtiven Verwalter befreundet, der als junger Bauer auf waggonweise herbeigeschaffter Schwarzerde im damals ostmärkischen Waldviertel den Anbau von Getreidesorten übte. Vier Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion endete der deutsch-nationale Traum von einem „Raum ohne Volk“ im bislang schrecklichsten Albtraum. Die Spitzen der Wehrmacht-freundlichen „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN) wie Stepan Bandera und sein Stellvertreter Jaroslaw Stezko zogen mit den deutschen Truppen ab und fanden in München politisches Asyl.

Unmittelbar nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991, die vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion ohne Volksbefragung erfolgte, begann die nächste Runde im Kampf um die Ukraine. Auch diesmal ging es, wie 400 Jahre zuvor, anfangs um die religiös-kulturelle Orientierung und die dazugehörige Hardware, die Kirchenhäuser. Die in der Sowjetunion verbotenen und in den Untergrund getriebenen griechisch-katholischen Kleriker kehrten mit Unterstützung der Benediktiner des Wiener Schottenstiftes auf das Feld Gottes zurück – und kämpften im Westen der Ukraine um materielle Pfründe und menschliche Seelen. Anlässlich des 89. Ökumenischen Symposiums der Kirchenstiftung Pro Oriente, die sich vor allem um die Heimholung östlicher, orthodoxer Gläubiger ins römische Papstreich kümmert, fand eine denkwürdige Konfrontation zwischen Moskauer und römischen Kirchenfürsten statt. Die Veranstaltung, an der im Juni 1998 Hunderte Honoratioren und politisch einflussreiche Persönlichkeiten in den Räumen der Wiener Akademie der Wissenschaften teilnahmen, stand unter dem Titel „Orthodoxe und Griechisch-Katholische in der Westukraine“. Zwei Stunden lang warfen Bischof Avhustin vom Moskauer Patriarchat aus Lwiw/Lwow und der griechisch-katholische Auxiliar Lubomir Husar einander gegenseitigen Mord und Totschlag vor. Die Wiedervereinnahmung der Kirchenhäuser in den römisch-westlichen Orbit forderte ihre Opfer. 20 Jahre später, während der orangenen Revolution am Kiewer Maidan im Herbst 2004, brüstete sich die rechtsradikale Partei Swoboda auf ihrer Homepage damit, schon beim Kirchenkampf der 1990er-Jahre gegen die „Moskowiter“ aktiv gewesen zu sein.

Im Winter 2004/2005 wurde der west-östliche Kampf um die Ukraine rund um die Präsidentenwahlen ausgetragen. In der Stichwahl zwischen Wiktor Janukowitsch und Wiktor Juschtschenko obsiegte Ersterer mit 49,4 Prozent gegenüber 46,7 Prozent. Verlierer Juschtschenko galt als Mann des Westens, während Janukowitsch auf die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland setzte. Straßenproteste mit Zigtausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern forderten die Wiederholung der Stichwahl, weil Nachwahlbefragungen ein anderes Resultat ergeben hatten und Manipulationen während des Wahlvorgangs vermutet wurden. Vom Westen ausgebildete und über die Konrad-Adenauer-Stiftung und die von George Soros gegründete Open Society Foundation finanzierte NGOs radikalisierten den Protest, damals angeführt von den gewaltbereiten Nationalisten der Gruppe „Pora!“ („Es ist Zeit!“). Tatsächlich kam es am 26. Dezember 2004 zu einer Wiederholung der Stichwahl, die nun Juschtschenko mit 54 Prozent gegen 46 Prozent für sich entschied. Brüssel und Washington konnten sich am Sieg ihres Kandidaten indes nicht lange erfreuen. Im Machtkampf um die Führung zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Timoschenko zerrieb sich das westliche Lager.

Jedem Beobachter, der in den Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung die Ukraine bereiste und sich nicht nur in den westlichen, ehemals habsburgischen Oblasten aufhielt, musste die extreme Spaltung des Landes aufgefallen sein. Die Ukraine war (und ist) ein vielfach geteiltes Land: wirtschaftlich in einen agrarischen Westen und einen industriellen Osten sowie kulturell und historisch in einen griechisch-katholischen Westen und einen orthodoxen Osten und Süden. Politisch zeigt sich diese Zerrissenheit bei den Wahlen. Die von Janukowitsch letztlich gewonnenen Präsidentschaftswahlen 2010, die letzten vor den seit 2014 anhaltenden militärischen Konfrontationen, geben ein Zeugnis dieser Teilung ab. Während im Westen in den Bezirken Lwiw und Iwano-Frankiwsk die europäisch orientierte Timoschenko auf 86 bis 88 Prozent der Stimmen kam, siegte Janukowitsch auf der Krim und im Donbass mit 89 bzw. 90 Prozent. Kein Land der Welt kann eine solche politische Zerrissenheit langfristig überleben.

Brüssels Vormarsch

Die vielfach unterschätzte, wenn nicht sogar ignorierte Rolle der Europäischen Union bei der Einkreisung Russlands begann spätestens im Jahr 2008. Nur ein Jahr nach dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien trafen sich die europäischen Außenminister am 28. Mai 2008 und setzten den vom Schweden Carl Bildt und dem Polen Radosław Sikorski ausgeheckten Plan zur fortgesetzten Osterweitung auf Schiene. Mit der sogenannten „Östlichen Partnerschaft“ sollten sechs ex-sowjetische Republiken ökonomisch und militärisch an die Brüsseler Union angebunden werden, ohne ihnen eine direkte Mitgliedschaft anzubieten. Dafür auserkoren waren Georgien, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan, Belarus und die Ukraine. De facto war dies ein militärisch abzusicherndes Freihandelsangebot, um die sechs Staaten aus dem russischen Einfluss herauszulösen und sie für westeuropäisches Kapital zu öffnen. Die entsprechenden Schlagworte lauteten: institution building, energy security und economic integration. Auf verständlicheres Deutsch wären diese Programmpunkte mit Schaffung einer EU-kompatiblen Administration, Abnabelung von russischer Energie und Marktöffnung für EU-Konzerne zu übersetzen. Belarus und Aserbaidschan sahen sich aus innenpolitischen Gründen bald in der zweiten Reihe, für die übrigen vier Staaten sollte im November 2013 ein sogenanntes Assoziierungsabkommen am EU-Gipfel von Vilnius unterzeichnet werden.

Der Kreml war allerdings in der Zwischenzeit nicht säumig gewesen. Seine Emissäre, allen voran der Ökonom Sergej Glasjew, zogen mit Zuckerbrot und Peitsche durch die von Brüssel ins Visier genommenen Republiken. Armenien und die Ukraine konnten im letzten Moment – nicht zuletzt über den Energiepreis – überzeugt werden, das EU-Angebot abzulehnen. Nur Georgien und Moldawien unterschrieben die Vereinbarung. Der Gipfel von Vilnius endete somit in einem Debakel; einzig jene zwei Republiken, deren Regierungen nicht über ihr gesamtes Staatsterritorium herrschten (Abchasien, Südossetien und Transnistrien standen und stehen bis heute nicht unter der Kontrolle von Tiflis bzw. Chișinău), unterschrieben die Abkommen.

Insbesondere das Njet des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch schmerzte Brüssel. Kommissionspräsident José Barroso akzeptierte das ukrainische Nein nicht und setzte auf die Straße, wo anfänglicher Studentenprotest rasch von rechtsradikalen Kräften unterwandert wurde. Gemeinsam mit EU-Außenministern wie Guido Westerwelle gingen die Maidan-Kräfte im Dezember 2013 daran, die unter den Bürgern verbreitete Unzufriedenheit zu instrumentalisieren. Die Folgen sind bekannt: Janukowitsch wurde verfassungswidrig aus dem Amt vertrieben, die Ukraine zerfiel als Staat. Die Krim schloss sich der Russländischen Föderation an, die Anti-Maidan-Kräfte im Donbass gründeten die Donezker und Luhansker Volksrepubliken, und die neue, mit bedeutsamer westlicher Hilfe an die Macht gespülte Regierung in Kiew begann einen Bürgerkrieg gegen die Sezessionisten im Osten. Slowjansk war die erste Stadt im Donbass, die am 2. Mai 2014 aus der Luft von Kiewer Militäreinheiten angegriffen wurde.

Mit dem Regimewechsel vom Februar 2014 war es den USA – unter der Federführung der Sondergesandten Viktoria Nuland – gelungen, Brüssel als Drahtzieher für das weitere Schicksal der (Rest-)Ukraine abzulösen. Gemeinsam entwickelten Washington und Brüssel im März 2014 die Grundlagen für eine seit damals immer umfassender werdende Sanktionspolitik gegen Russland, die in der Geschichte beispiellos ist. Längst ist sie zu einem veritablen Wirtschaftskrieg ausgewachsen.

Wirtschaftskrieg gegen Russland

Dass es von Anfang an auf dem Kiewer Maidan nicht um Demokratie, sondern gegen Russland ging, darauf machte der alte US-Haudegen, Vietnamkriegsveteran und republikanische US-Senator John McCain aufmerksam. Anlässlich eines Besuchs in Kiew während der Maidan-Proteste im Dezember 2013 meinte er: „Es gibt keinen Zweifel, dass die Ukraine von vitalem Interesse für Putin ist. Ich denke, es war Kissinger – bin aber nicht sicher –, der sagte, Russland ohne Ukraine ist eine östliche Macht, mit der Ukraine eine westliche Macht. Hier beginnt Russland, genau hier in Kiew.“ McCain hätte auch den langjährigen Präsidentenberater Zbigniew Brzeziński zitieren können, der schon im Jahr 1994 meinte: „Ohne die Ukraine wird Russland nie wieder eine Weltmacht werden.“ Um die Zurückdrängung Russlands ging es. Deshalb standen in der Protestbewegung Rechtsliberale und Faschisten aus der Ukraine Seite an Seite mit den höchsten Diplomaten aus Deutschland, Polen, Schweden und den USA im Kiewer Kampfgeschehen. McCain war nicht der Einzige, der wusste, was er tat, als er den Kämpfern vom Maidan Mut zusprach.

Mit dem 6. März 2014 begann, transatlantisch abgesprochen, das Sanktionsregime gegen russische Personen und – kurz darauf – gegen russische Unternehmen und ganze Branchen. Anfangs landeten Menschen, denen Washington und Brüssel vorwarfen, gegen Maidan-ukrainische Interessen zu handeln oder für die Abspaltung der Krim verantwortlich zu sein, auf schwarzen Listen. Sergej Glasjew war einer der ersten, die der Bannstrahl traf. Ihn hatte der Kreml ausgesandt, um ex-sowjetische Republiken bei der russischen Stange zu halten. Auch weniger politisch exponierte Figuren wie beispielsweise der bekannte russische Sänger Iossif Kobson wurden sanktioniert. Er hatte im Oktober 2014 in Donezk, seiner Heimat, ein Konzert gegeben. Brüssel setzte ihn deswegen auf die schwarze Liste. Sanktioniert zu sein, bedeutete Einreiseverbot und Vermögensentzug in der gesamten EU. Mittlerweile verloren Hunderte Oligarchen auf diese Weise den Zugriff auf ihre Unternehmen, Immobilien, Jachten und einer sogar seinen britischen Fußballklub „Chelsea“. EU-Konzerne profitierten davon, konnten sie sich doch mithilfe der Sanktionen lästige Konkurrenz vom Hals schaffen.

Die ersten russischen Unternehmen, denen Brüssel und Washington die Märkte sperrten, waren Dual-Use-Güter-Produzenten und einzelne Banken, denen eine Nähe zum Kreml vorgeworfen wurde. Bald darauf waren es ganze Branchen, die mit Sanktionen belegt wurden. Dass sich diese Politik nicht nur auf Russland, sondern auch auf die Volkswirtschaften sanktionierender Länder auswirkte, zeigt ein Blick in die Außenhandelsstatistik des Jahres 2013, dem letzten Jahr, bevor die Sanktionsmaschine angeworfen wurde. Damals nahmen die EU-Staaten 51 Prozent der russischen Exporte ab und waren für 36 Prozent der russischen Importe zuständig. Die Vergleichszahlen für die USA lauteten: 2,5 Prozent bzw. 4,8 Prozent. In anderen Worten: Die mit der Sanktionspolitik angestrebte Schädigung Russlands hatte dies- und jenseits des Atlantiks total unterschiedliche Auswirkungen. Während die US-Wirtschaft davon fast unberührt blieb, schnitt sich die Europäische Union damit tief ins eigene Fleisch. Man könnte sich auch mit der Interpretation anfreunden, dass die von den USA betriebenen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen Russland willentlich europäischen Volkswirtschaften Schaden zufügen sollten. Augenfällig ist dies spätestens am 26. September 2022 geworden, als die energetische Nabelschnur zwischen Russland und Deutschland, die Nord-Stream-Pipeline, gesprengt wurde.

Während anfangs vor allem Russland und eine Reihe von Staaten der EU unter den Sanktionen litten, profitierten die USA … und China. Dies verschärfte sich noch durch russische Gegensanktionen, die Moskau ab August 2014 gegen „unfreundliche Staaten“ und deren Unternehmen in Gang setzte. Begonnen haben diese mit Importverboten von Agrargütern, womit polnische Äpfel, französischer Käse, holländische Milch und italienische Orangen vom russischen Markt ferngehalten wurden. An ihrer Stelle profitierten russische und türkische Bauern, Schweizer und belarussische Molkereien sowie marokkanische Exporteure.

Der große Paukenschlag kam am 26. Februar 2022, zwei Tage nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Mit dem Einfrieren von 300 Milliarden russischer Zentralbankgelder im gesamten Dollar- und Euro-Raum war eine neue Qualität im Sanktionsreigen geschaffen. Der Ausbruch des bislang in der Weltgeschichte heftigsten Wirtschaftskrieges kann mit diesem Tag datiert werden. Zeitgleich wurden russische Banken vom SWIFT-System und damit vom Dollar-kontrollierten internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen. Auch bei den Zahlungsmitteln ist, wie im Außenhandel, die unterschiedliche Betroffenheit von USA und EU durch die Sanktionspolitik beachtenswert. Während die Europäische Union 191 Milliarden US-Dollar an russischen Werten sperrte, sind es in den USA vergleichsweise läppische sechs Milliarden US-Dollar. Washington tut sich also um ein Vielfaches leichter bei der Debatte, wie weiter mit den eingefrorenen Geldern verfahren werden soll.

In EU-Europa wurde bereits damit begonnen, sich das Vermögen der russischen Zentralbank – mithin russisches Volksvermögen – anzueignen. Im Mai 2024 gab die EU-Kommission grünes Licht, die Zinsen der russischen Einlagen – 30 Milliarden US-Dollar – zu kassieren und die ersten Tranchen davon an die Ukraine, genauer: über den Umweg Kiews an Rheinmetall zu überweisen. Im Rechtsstaat würde man diesen Vorgang, sich Zinsen der Geldeinlagen des jeweiligen Besitzers anzueignen, Diebstahl nennen. Brüssel hat – ohne hörbaren Widerstand aus den EU-Mitgliedsstaaten – genau dies getan.

Um das gesamte Kapital der in der EU festgesetzten russischen Zentralbankgelder zu beschlagnahmen, wird seit mehr als einem Jahr heftig gestritten. Der bislang letzte, abenteuerlich anmutende Vorschlag der EU-Kommission, den auch Deutschlands Kanzler unterstützt, will die 191 Milliarden US-Dollar als Sicherheit für einen Kredit vergeben, der auf dem Kapitalmarkt aufgenommen wird, um selbigen an Kiew weiterzuleiten. Dieser Trick hat etwas Infantiles an sich. Denn um in Zukunft nicht für den Ausfall des Kredites haftbar gemacht werden zu können, stellt sich Ursula von der Leyen vor, Russland nach der herbeigesehnten Niederlage zu zwingen, auf die 191 Milliarden Zentralbankgelder im Rahmen von Entschädigungszahlungen zu verzichten. Sollte Russland dem nicht zustimmen oder gar den Krieg gewinnen, dann wären die EU sowie ihre Mitgliedsstaaten – allen voran Belgien, weil dort die russischen Zentralbankgelder liegen – haftbar.

Ein stümperhafter Versuch von der Leyens, die Europäische Zentralbank in die Haftung miteinzubeziehen, scheiterte kläglich. Dort will sich niemand damit die Finger verbrennen, gestohlene Vermögenswerte zu besichern. Dies schon deshalb, weil eine Beschlagnahmung von Staatsvermögen durch fremde Gerichte verboten ist. Bereits im Mai 1972 regelte das „Europäische Übereinkommen über Staatenimmunität“ den Schutz von Vermögen ausländischer Staaten. Es heißt dort unmissverständlich:

„Die Staatenimmunität entzieht den Staat der Strafverfolgung durch die Gerichte anderer Saaten und schützt ihn vor der Zwangsvollstreckung seiner Guthaben und Vermögenswerte.“

Im Ausland befindliches Staatseigentum ist also vor dem Zugriff von Gerichten geschützt. Dazu kommt noch der immense internationale Vertrauensverlust in die Euro-Zone, der durch den Diebstahl russischen Vermögens per politischem EU-Beschluss stattfinden würde.

Im Dezember 2025 hält die Europäische Union beim 19. Sanktionspaket gegen Russland und russische Unternehmen. Tatsächlich ist der wirtschaftliche – sowie der politische, sportliche, mediale, gesellschaftliche und kulturelle – Austausch mit dem großen Nachbarn im Osten auf nahezu null gesunken. Mit Stichtag 15. Dezember 2025 stehen über 2.700 Personen und Organisationen auf den schwarzen Listen Brüssels.

Eine von unabhängiger Stelle veröffentlichte Quantifizierung der wirtschaftlichen Verluste Europas durch die EU-Sanktionen existiert nicht. Brüssel und Berlin halten sich diesbezüglich bedeckt. Das ist weiter nicht verwunderlich, würden doch die blanken Zahlen für jeden und jede ersichtlich machen, was er oder sie Woche für Woche an den steigenden Energiekosten und der Inflation zu spüren bekommt. Das russische Außenministerium veröffentlichte Anfang Dezember 2025 anlässlich einer UN-Sitzung die Zahl von 1,6 Billionen Euro – in Ziffern: 1.600.000.000.000 –, die den europäischen Unternehmen und Haushalten zwischen 2022 und 2025 durch die eigene Sanktionspolitik entzogen wurden. Die Zahl ist mit Vorsicht zu genießen. Angesichts der Tatsache, dass – laut Berechnungen von „Eurostat“ – allein die Erhöhung der Gaspreise seit 2022 mit 200 Milliarden Euro zu Buche schlägt, scheint die Berechnung des russischen Außenministeriums jedoch nicht ganz unrealistisch zu sein.

Jedes der mittlerweile 19 Pakete beinhaltet neuen Sprengstoff im Kampf gegen Moskau. So erließ Brüssel im 9. Paket vom Dezember 2022 ein allgemeines Verbreitungsverbot für russisch finanzierte Medien, mithin eine EU-weite Zensurmaßnahme gegen russische Narrative die Weltlage betreffend. Nur drei Staaten in Europa beteiligen sich nicht daran: Serbien, die Schweiz und Belarus. Das 11. Sanktionspaket vom Juni 2023 barg eine neue Eskalationsstufe. Was bis dahin von EU-europäischen und deutschen Politikern heftig an US-Sanktionen kritisiert worden war, nämlich die sogenannte extraterritoriale Sanktion, wird seither auch von Brüssel betrieben. Damit landen chinesische, türkische oder kasachische Unternehmen auf schwarzen Listen, wenn sie im Verdacht stehen, EU-Sanktionen gegen Russland zu umgehen. Extraterritoriale Sanktionen stehen nicht zu Unrecht im Geruch, mit kolonialer Attitüde eigene Gesetze auf Drittstaaten und dortige Unternehmen überzustülpen. Der chinesische Geschäftsmann Lin Zhongheng mit seiner Shenzhen Biguang Trading Co. Ltd. ist nur einer von vielen nicht-russischen Opfern EU-europäischer wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen.

Die Sanktionspakete 15 und 17 vom Dezember 2024 bzw. vom Mai 2025 widmeten sich der sogenannten russischen Schattenflotte. Diese geschätzten 800 Tanker, die unter verschiedensten Flaggen die Weltmeere durchpflügen, transportieren russisches Erdöl. Weil Brüssel sich anmaßt, den Energie-Weltmarkt kontrollieren und seine Sanktionspolitik allen Erdölhändlern und Importeuren auf der Welt aufzwingen zu wollen, nahm sie die Tanker ins Visier. Bislang landeten ca. 350 von ihnen auf der Sanktionsliste, was immer wieder dazu führt, dass sich baltische Staaten oder auch Frankreich dazu ermutigt fühlen, die Öl-Kolosse auf offener See aufzubringen und in ihre Häfen zu verschleppen. So war beispielsweise Anfang Oktober 2025 der Tanker „Boracay“ vor einer bretonischen Insel von der französischen Marine gestoppt worden. Er stand auf der EU-Sanktionsliste und war gerade dabei, russisches Erdöl nach Indien zu transportieren. Der Verdacht, die Mannschaft würde Drohnen-Attacken gegen Frankreich und Dänemark durchführen, konnte nicht erhärtet werden. Der Kapitän wurde festgenommen. Erst nach Wochen konnte die „Boracay“ ihre Fahrt fortsetzen.

Mitte Mai 2025 kam es aus ähnlichem Grund vor der Küste Estlands zu einem Zwischenfall, bei dem auch russische Kampfjets beteiligt waren. Sie begleiteten den Tanker „Jaguar“ auf seinem Weg in den russischen Ostseehafen Ust-Luga. Als die estnische Marine den Tanker zwecks Inspektion kapern wollte, griff die russische Luftwaffe – ohne zu schießen – ein und verhinderte dies. Gerade in der Ostsee, wo der Streit um Seemeilengrenzen von Hoheitsgewässern zwischen Estland und Russland tobt, könnte der Wirtschaftskrieg leicht zu einem Schießkrieg zwischen NATO und Russland eskalieren.

EU-Bürger auf EU-Sanktionslisten

Im Wirtschaftskrieg gegen Russland beschränkten sich EU-Rat und -Kommission die längste Zeit auf russische Unternehmen und Personen, fallweise landeten auch missliebige ukrainische Oligarchen auf der schwarzen Liste. Das mag für die Betroffenen hart und verlustreich sein, betrifft aber in so gut wie allen Fällen nicht den Lebensmittelpunkt des einzelnen Menschen oder die Firmenzentrale der Kapitalgesellschaft, die sich überwiegend in Russland befinden. Mit dem 21. Juli 2022 änderte sich das. An diesem Tag veröffentlichte Brüssel das 7. Sanktionspaket, in dem u.a. der Handel mit russischem Gold unter Strafe gestellt wurde. Bedeutsamer war jedoch, dass mit diesem 7. Paket das erste Mal ein EU-europäischer Staatsbürger auf der EU-Sanktionsliste erschien. Der Mann heißt Jozef Hambálek, ist Slowake und war Europa-Präsident des russischen Motorrad-Klubs „Nachtwölfe“. Weil Brüssel die „Nachtwölfe“ verdächtigte, Ausbildung für Soldaten im Krieg gegen die Ukraine zu betreiben, sanktionierte es seine führenden Exponenten. Für Hambálek bedeutete dies die vollkommende Entrechtung. Die slowakischen Behörden erklärten seinen Pass für ungültig, sein Konto wurde gesperrt, die Vermögenswerte eingezogen. All dies geschah ohne eine gerichtliche Vorladung, ja ohne formelle Anklage, freilich auch ohne Verteidigung oder Schuldspruch … und erinnert ein wenig an die Praxis der mittelalterlichen Ächtung.

Nach dem Wahlsieg von „Smer“ im Dezember 2023 setzte sich der neue slowakische Ministerpräsent Robert Fico für Hambálek ein, betonte bei jedem Treffen mit von der Leyen oder Olaf Scholz, dass er nicht verstünde, warum der slowakische Bürger auf einer EU-Sanktionsliste auftaucht, nur „weil er Motorrad fahre“ – so der Originalton –, und erreichte tatsächlich am 13. März 2024, dass Hambálek von der Sanktionsliste gestrichen wurde.

Anders als Fico reagierte dann drei Jahre später Friedrich Merz auf die Tatsache, dass mit dem 17. Sanktionspaket vom 20. Mai 2025 drei deutsche Staatsbürger EU-europäisch gelistet wurden. Alina Lipp, Thomas Röper und Hüseyin Doğru waren damit von einem Tag auf den anderen all ihrer Bürgerrechte beraubt; und dies mit der fadenscheinigen Begründung, sie hätten mit ihrer journalistischen Arbeit „Handlungen der Regierung der Russischen Föderation (unterstützt), die die Stabilität und Sicherheit in der Union und in einem oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten untergraben und bedrohen“, wie es im Beschluss des Rates wörtlich heißt. Merz – konträr zu Fico – kümmert sich nicht um seine Staatsbürger, eher noch besteht der Verdacht, dass die Listung der drei Deutschen auf Zuruf Berlins erfolgte.

Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: „Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland.“ (Promedia Verlag, Wien)

Titelbild: OSORIOartist / Shutterstock

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