Einmal im Jahr stellt das renommierte „Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche“ (WIIW) seine Prognose im Rahmen einer Pressekonferenz vor. Am 22. Oktober war es wieder so weit. Das Fazit: Osteuropa wächst langsamer als vorhergesagt, aber schneller als die Euro-Zone; die Massenmigration nach Westen bedingt Lohnsteigerungen im Osten; Russland kann den Krieg noch lange finanzieren; und den einzigen – freilich fragwürdigen – Lichtblick sehen die Forscher in der Rüstungsindustrie. Von Hannes Hofbauer.
Schon der Blick auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in den untersuchten osteuropäischen Ländern ist aufschlussreich. Demnach führt Polen mit einem prognostizierten BIP-Wachstum von 3,5 Prozent (für 2025 gegenüber 2024) die Liste an. Die Schlusslichter bilden Ungarn und Slowenien mit jeweils 0,5 Prozent. Im Vergleich der EU mit Russland nähern sich die Zahlen einander an. Wuchs Russlands BIP im Jahr 2024 noch um 4,3 Prozent gegenüber der EU-27 mit 1,0 Prozent, so werden für 2025 nur noch 1,2 Prozent für Russland und 1,1 Prozent für die EU vorausgesagt. Deutschland allein – so das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ – stagniert bei 0,2 Prozent (für 2025).
„Je stärker die Länder im Osten mit der deutschen Automobilindustrie verbunden sind, desto schwieriger ist die Lage“, meint WIIW-Direktor Mario Holzer; und fügt interessanterweise für die Balkanländer hinzu: „Je weniger sie in industrielle Lieferketten verstrickt sind, desto besser läuft es.“ Die Schwäche Deutschlands und hohe Budgetdefizite z.B. in Ungarn und Rumänien verlangsamen den seit über 30 Jahren stattfindenden Aufholprozess des europäischen Ostens gegenüber den westlichen Zentrumsländern.
Bei den Arbeitslosenstatistiken zeigen sich extreme Unterschiede zwischen den Ländern. Einer De-Facto-Vollbeschäftigung in Tschechien und Russland (mit 2,7 bzw. 2,3 Prozent) stehen in Bosnien, Kosovo und der Ukraine zweistellige Arbeitslosenzahlen gegenüber. Österreich und Deutschland bewegen sich diesbezüglich mit 5,6 bzw. 6,3 Prozent im Mittelfeld.
Mit „demografischem Schock“ umschreiben die Wirtschaftsforscher des WIIW die massenhafte Abwanderung von jungen Menschen aus Ost- nach Westeuropa. Diese hält freilich schon Jahrzehnte an und hat in Ländern wie Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Serbien und Moldawien zum Verlust von Millionen Menschen (Arbeitskräften) geführt. Daraus ergeben sich aus ökonomischer Sicht zwei Folgen: einerseits ein „beeindruckendes Lohnwachstum“, das z.B. in Tschechien im Jahr 2025 inflationsbereinigt bei 5,3 Prozent und in Polen sogar leicht darüber liegt. Auf der anderen Seite führt diese schleichende Angleichung der Lohnkosten an Westniveaus zu einem Strategiewechsel bei Investoren. Lange Jahre war es die billige Arbeitskraft, die westliches Kapital anzog, um im Osten Profite zu machen. Nun gehen Investoren dazu über, in Automatisierung zu investieren. Robotik und Künstliche Intelligenz stehen ganz oben auf den Expansionsplänen der großen Konzerne. Das bringt, so WIIW-Direktor Holzer, einen „Aufstieg in der Wertschöpfungskette“ mit sich.
Das große Sorgenkind bleibt Deutschland. Dort will der Wirtschaftsmotor einfach nicht anspringen. Das „positive Element in der ganzen Tragödie, zumindest was das BIP betrifft, ist die Verteidigungsindustrie“. Brüssel und Berlin wollen (und werden) dreistellige Milliardenbeträge in Rüstungsunternehmen pumpen. Mit der dadurch erzeugten (Staats)Nachfrage, so hoffen Ursula von der Leyen und Friedrich Merz, soll die Wirtschaft wieder anspringen. Man kann diese Strategie auch Militärkeynesianismus nennen, mit dem die Menschheit allerdings – nicht nur in der Vorbereitung zum Zweiten Weltkrieg – tödliche Erfahrungen machen musste.
Ausblick für Russland
Der Russland-Experte des WIIW Vasily Astrov zeichnet ein realistisches Bild des größten Landes der Welt. Er konstatiert einen signifikanten Wachstumseinbruch, den er der „restriktiven Geldpolitik der russischen Zentralbank“ zuschreibt. „Sie hat zwar die Inflation dadurch deutlich gesenkt, aber gleichzeitig die Wirtschaft abgewürgt, weil damit Kredite unerschwinglich wurden.“ Der aktuelle Leitzinssatz von 17 Prozent schreckt tatsächlich Investoren ab.
Einen baldigen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft, wie er durch die EU- und US-Sanktionen herbeigeführt werden soll, sieht Astrov dennoch nicht. Die Staatsverschuldung ist extrem niedrig, sie liegt bei 16 Prozent des BIP, „und den nationalen Wohlfahrtsfonds gibt es immer noch“, setzt Astrov hinzu. Die finanziellen Reserven daraus sind zwar geschrumpft, aber noch vorhanden. Vergleicht man die Verschuldungswerte Russlands mit EU-Ländern, so wird der Unterschied augenfällig. Deutschlands Schuldenberg beträgt 64 Prozent des BIP, jener Österreichs 82 Prozent, und bei Frankreich liegt er zurzeit bei 112 Prozent.
Russland braucht sich auch im Außenhandel keine großen Sorgen machen. Es war (und ist), so Astrov, Gläubiger und nicht Schuldner in der Welt. Die Westsanktionen haben daran nichts geändert, die Leistungsbilanzüberschüsse bestehen weiterhin. „Russland kann den Krieg, wenn es sein muss, noch lange finanzieren“, bilanziert Wirtschaftsforscher Astrov.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: „Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland“ (Promedia Verlag).
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