Während in Israel selbst hunderte kritische Stimmen gegen die Regierung Netanjahu protestieren und während internationale Gerichte über mutmaßliche Kriegsverbrechen verhandeln, wächst in Deutschland ein innenpolitischer Konsens, der jede grundsätzliche Kritik an der israelischen Politik unter Antisemitismusverdacht stellt. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die seit 2017 in Bund, Ländern und Kommunen als faktische Grundlage staatlicher Antisemitismuspolitik gilt. Von Detlef Koch.
Teil I: Das neue Dogma
Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die politische Landschaft dramatisch verändert. Der Angriff der Hamas auf Israel und die darauffolgenden, bis heute andauernden Vergeltungsaktionen in Gaza markieren nicht nur eine neue Eskalationsstufe im zionistisch motivierten und religiös verbrämten Besatzungsterror– sie haben auch in Deutschland eine bemerkenswerte Verengung des Diskursraums zur Folge.
Zur Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA): Was ursprünglich als Schutzinstrument gegen Judenhass gedacht war, ist inzwischen zu einem normierenden Werkzeug der politischen Disziplinierung geworden – mit weitreichenden Folgen für jüdische Identitätsdebatten und die Meinungsfreiheit in Deutschland. Denn die IHRA-Definition verknüpft Antisemitismus explizit mit der „Wahrnehmung von Israel als jüdisches Kollektiv“ und macht damit Kritik an Israels Politik angreifbar. Diese semantische Verschiebung hat es ermöglicht, dass nicht nur palästinensische, muslimische oder linke Gruppen ins Visier geraten, sondern vermehrt auch jüdische Menschen selbst – sofern sie sich antizionistisch positionieren oder der israelischen Staatsräson skeptisch gegenüberstehen. Wer sich in Deutschland als Jude oder Jüdin gegen die Gleichsetzung von Zionismus und Judentum wendet, läuft Gefahr, als illoyal, selbsthassend oder sogar antisemitisch gebrandmarkt zu werden.
Dabei ist die Annahme, Zionismus sei integraler Bestandteil jüdischer Identität, historisch falsch und politisch gefährlich. Von Martin Buber über Hannah Arendt bis Judith Butler oder Ilan Pappé haben jüdische Intellektuelle immer wieder betont, dass der Zionismus eine politische Bewegung sei – nicht das Judentum selbst. Auch die rabbinische Tradition kennt zahlreiche theologische Positionen, die die Idee eines säkularen jüdischen Staates ablehnen. Dennoch hat sich in Deutschland eine Situation entwickelt, in der staatliche Stellen, Antisemitismusbeauftragte und große Medien die Deutungshoheit über das „richtige Jüdischsein“ beanspruchen – und zwar in Übereinstimmung mit einem zionistischen Paradigma.
Was hier entsteht, ist eine neue Art von Staatsdogma: Die IHRA-Definition wirkt nicht mehr nur beschreibend, sondern sogar vorschreibend. Sie definiert nicht nur, was Antisemitismus sei, sondern implizit auch, was ein „guter Jude“ zu denken und zu vertreten habe. Damit greift sie tief in die innerjüdische Pluralität ein – und normiert die politische Identität einer Minderheit durch staatliche Rahmung. Der vorliegende Artikel untersucht die historischen, juristischen und politischen Dimensionen dieser Entwicklung. Er stellt die jüdische Kritik an der IHRA-Definition vor, beleuchtet verdrängte Traditionen nicht-zionistischen Judentums und analysiert die gesellschaftlichen Folgen einer Politik, die Antisemitismusbekämpfung und Israel-Solidarität untrennbar verknüpft.
Teil II: Theorie und Kritik – Was sagt die IHRA, und was kritisieren Mann & Yona?
Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus wurde 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance verabschiedet und 2017 von der deutschen Bundesregierung zur Grundlage ihrer Antisemitismuspolitik erklärt. In ihrem Kern definiert sie Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“ – eine bewusst vage Formulierung, die durch elf erläuternde Beispiele konkretisiert wird. Sieben dieser Beispiele beziehen sich direkt auf den Staat Israel und seine Kritik. Dazu gehört etwa die Aussage, antisemitisch sei es, dem Staat Israel „sein Existenzrecht abzusprechen“, ihn „mit den Nazis gleichzusetzen“ oder „doppelte Standards“ anzuwenden, die von „keinem anderen demokratischen Staat erwartet werden“.[1]
Diese Formulierungen entfalten insbesondere dann Wirkkraft, wenn sie in staatliche oder institutionelle Entscheidungsprozesse übernommen werden – etwa bei Förderverträgen, Raumvergaben oder öffentlichen Äußerungen über zivilgesellschaftliche Gruppen. Juristisch ist die IHRA-Definition unverbindlich. Doch ihre politische Relevanz liegt gerade in dieser Grauzone: Sie wird von Behörden, Stiftungen, Universitäten und Kulturbetrieben als normativer Maßstab behandelt, ohne demokratisch legitimiert oder rechtlich einklagbar zu sein. Dadurch entsteht ein Instrument mit enormer Reichweite – ein faktisches Zensurpotenzial, das sich besonders gegen israelkritische Positionen richtet.
Diesen Mechanismus beschreiben Itamar Mann und Lihi Yona in ihrem grundlegenden Essay „Defending Jews from the Definition of Antisemitism“, erschienen 2024 in der UCLA Law Review.[2] Die beiden Rechtswissenschaftler analysieren die Anwendung der IHRA-Definition in den USA und zeigen, wie sie dort nicht nur die palästinensische Freiheitsbewegung, sondern auch jüdische Identitätsvielfalt bedroht. Ihre Kernthese: Die IHRA-Definition verengt das Jüdische auf eine zionistische Norm. Wer als Jude Israels Politik ablehnt, wird zunehmend als abweichend oder illoyal markiert. Die Folge ist ein juristisch gestützter Ausschluss kritischer jüdischer Stimmen[3] – eine staatlich sanktionierte Identitätsdisziplinierung.
Besonders alarmierend sei, so Mann und Yona, dass diese Entwicklung nicht nur gesellschaftlich, sondern rechtlich codiert werde: etwa durch Trumps Executive Order von 2019[4] , die Hochschulen dazu verpflichtete, antisemitische Diskriminierung auf Grundlage der IHRA-Definition zu sanktionieren. Antizionistische Positionen jüdischer Studierender wurden so zur potenziellen Rechtsverletzung umgedeutet. Die beiden Autoren zeigen, wie durch diese Verschiebung ein Schutzrahmen entsteht – aber nur für bestimmte Juden: für jene, die sich mit Israel identifizieren. Wer hingegen eine andere Vorstellung von jüdischer Zugehörigkeit hat, fällt aus dem Schutz heraus. Der Staat legt damit fest, welche Form jüdischer Identität als legitim gilt – ein Eingriff in das individuelle wie kollektive Selbstverständnis.
Im angelsächsischen Rechtsdiskurs argumentieren Mann und Yona zudem mit einem originellen rechtstheoretischen Konzept: dem der „jurispathischen“ Rechtsanwendung, angelehnt an Robert Cover.[5] Gemeint ist ein Recht, das Pluralität nicht schützt, sondern vernichtet – indem es komplexe kulturelle Narrative (wie etwa die Vielzahl jüdischer Identitätsformen) auf einen einzigen Standard reduziert. Dieses Recht wird nicht ausgehandelt, sondern gesetzt. Genau das geschehe, wenn Zionismus zum Maßstab jüdischer Zugehörigkeit erhoben werde. Das Resultat: Jüdische Israelkritiker verlieren nicht nur Räume und Rechte, sondern auch ihre institutionelle Existenz als Juden.
Die Autoren schlagen rechtliche Gegenmodelle vor: So könnten jüdische Antizionisten in den USA unter dem Schutz der Religionsfreiheit (First Amendment, Establishment Clause) gegen staatlich favorisierte jüdisch-zionistische Narrative klagen. In Deutschland wäre dafür das Neutralitätsgebot und das Grundrecht auf Weltanschauungsfreiheit (Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz) einschlägig. Ein anderer Vorschlag: Antizionistische Juden, die wegen ihrer Haltung benachteiligt werden – etwa beim Zugang zu Kulturförderung oder öffentlichen Räumen – könnten rechtlich als Opfer mittelbarer Diskriminierung gelten. Denn der Ausschluss basiert letztlich nicht auf dem Was (eine israelkritische Meinung), sondern auf dem Wer: dem jüdischen Selbstverständnis, das der Staat nicht anerkennt.
Die Kritik von Mann und Yona richtet sich daher weniger gegen die Idee, Antisemitismus zu bekämpfen, sondern gegen den Versuch, Antisemitismus so zu definieren, dass nur noch eine Form jüdischer Zugehörigkeit sichtbar bleibt. Diese Sichtweise findet in Deutschland bisher wenig Resonanz – und ist doch unverzichtbar, wenn man die Dynamik verstehen will, die derzeit jüdische Dissidenten, jüdische Friedensinitiativen und jüdische Intellektuelle gleichermaßen trifft. Der Kampf gegen Antisemitismus darf nicht zur Auslöschung jüdischer Pluralität führen.
Teil III: Historischer Rückblick – Das Judentum war nie monolithisch
Die Vorstellung, es habe in der Geschichte des Judentums stets einen einheitlichen Konsens zugunsten des Zionismus gegeben, ist ein politischer Mythos. Sie lässt sich historisch weder belegen noch theologisch rechtfertigen. Vielmehr war das Verhältnis zwischen Judentum, Zionismus und Staatlichkeit seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein umkämpftes Terrain – durchzogen von tiefen religiösen, kulturellen und politischen Gegensätzen. Die heutigen antizionistischen Positionen jüdischer Intellektueller und Organisationen stehen daher in einer langen Traditionslinie, die von orthodoxen Rabbinern über säkulare Philosophen bis hin zu Shoah-Überlebenden reicht.
Der Religionsphilosoph Martin Buber etwa setzte sich in den 1920er-Jahren mit der Bewegung Brith Schalom für einen binationalen jüdisch-arabischen Staat in Palästina ein. Martin Buber trat zeitlebens für ein demokratisches Gemeinwesen ein, das nicht exklusiv jüdisch, sondern binational verfasst sein sollte.[6] Auch Hannah Arendt, eine der einflussreichsten jüdischen politischen Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts, gehörte zu den entschiedensten Kritikerinnen des politischen Zionismus. Sie sah in der Staatsgründung Israels einen historischen Irrweg – nicht wegen des Sicherheitsbedürfnisses der Juden, sondern wegen des ethnonationalen Paradigmas, auf dem der Staat beruhte. Arendt favorisierte zunächst eine föderative Lösung für Palästina, später eine binational-demokratische Ordnung. Im Dezember 1948, kurz nach der Staatsgründung, warnte sie in einem Offenen Brief an die New York Times, den sie gemeinsam mit Albert Einstein und anderen unterzeichnete, vor der sich abzeichnenden politischen Entwicklung in Israel. Die neue „Freiheitspartei“ (Herut), so Arendt, gleiche in ihrer Struktur und Ideologie den faschistischen Bewegungen Europas.[7]
Ein anderer zentraler Vertreter der jüdischen Anti-Zionismus-Geschichte ist Judah Magnes, erster Rektor der Hebräischen Universität Jerusalem und Mitbegründer der Ihud-Bewegung. Magnes vertrat einen pazifistisch motivierten Binationalismus und lehnte jede Form jüdischer Dominanz ab. In einem Aufruf an die UNO 1947 erklärte er, seiner Ansicht nach sollte ein Staat in Eretz Israel entweder „anständig“ oder gar nicht errichtet werden. – gemeint war: nicht gegen den Willen der arabischen Bevölkerung.[8]
Aus gänzlich anderer Richtung, aber in der Konsequenz ebenso dezidiert antizionistisch argumentierte Rabbi Joel Teitelbaum, geistliches Oberhaupt der chassidischen Satmar-Bewegung. In seinem Hauptwerk Vayoel Moshe (1959) erklärte er den Zionismus zur Ketzerei: Die Rückkehr ins Heilige Land dürfe nur durch das Eingreifen des Messias erfolgen – nicht durch eine säkulare nationale Bewegung. Der Staat Israel sei daher ein sündhafter Verstoß gegen göttliche Gebote.[9]
In der säkularen Diaspora war es insbesondere der Bund, der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, der dem Zionismus eine sozialistische Vision jüdischen Lebens in der Diaspora entgegensetzte. Der polnisch-jüdische Widerstandskämpfer Marek Edelman, einer der letzten Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstands, blieb zeitlebens ein Vertreter dieser Idee. In einem Offenen Brief an palästinensische Freiheitskämpfer schrieb Edelman 2002: „Wir kämpften im Ghetto nicht für ein Territorium, sondern für das Leben.“[10]
Diese Tradition wird auch in der Gegenwart fortgeführt. Judith Butler etwa kritisiert in ihrem Buch Parting Ways die Vereinnahmung jüdischer Ethik durch den Zionismus und plädiert für eine Rückbesinnung auf universalistische Prinzipien jüdischer Gerechtigkeit.[11] Ilan Pappé, israelischer Historiker und Exilant, versteht den Zionismus als Kolonialbewegung, die zur systematischen Vertreibung der Palästinenser geführt habe.[12] Und Shlomo Sand, Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, bezeichnet den Zionismus als „Erfindung einer Nation“ – ein Projekt, das auf der Konstruktion eines historischen Mythos beruhe.[13]
Gemeinsam ist diesen Stimmen ihre Ablehnung eines homogenen, ethnisch definierten Judentums. Sie verteidigen jüdische Identität gegen politische Monopolisierung – und zeigen, dass das Judentum stets mehr war als ein Nationalprojekt. Wer heute jüdischen Antizionismus als Verrat oder gar als antisemitisch diffamiert, ignoriert diese vielstimmige Geschichte – und reproduziert genau jene Vorstellung von „dem Juden“, die der Antisemitismus zu fixieren sucht.
Teil IV: Rechtliche und gesellschaftliche Folgen
Die politische und institutionelle Verankerung der IHRA-Definition in Deutschland hat konkrete, oftmals drastische Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben, auf die Kulturförderung, den Hochschulbetrieb – und auf jüdische Bürgerinnen und Bürger selbst. Insbesondere antizionistische oder israelkritische Jüdinnen und Juden sind seit 2017 zunehmend von Ausschlüssen, Rufschädigung oder dem Entzug öffentlicher Unterstützung betroffen. Dies wirft nicht nur gesellschaftspolitische, sondern auch verfassungsrechtliche Fragen auf.
Ein paradigmatischer Fall ist die Organisation „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Sie vereint jüdische Intellektuelle und Aktivisten aus mehreren Generationen, die sich für Menschenrechte und eine gleichberechtigte Friedenslösung im israelisch-palästinensischen Konflikt einsetzen. Wegen ihrer Unterstützung der BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, Sanctions) geriet sie jedoch wiederholt ins Visier politischer Interventionen. Im Jahr 2019 rief der damalige Präsident des Zentralrats der Juden öffentlich dazu auf, der Gruppe das Bankkonto zu kündigen. Die Bank für Sozialwirtschaft folgte diesem Appell. Ein Berliner Gericht stellte 2024 jedoch fest, dass diese Kündigung rechtswidrig war – ein bemerkenswerter Sieg für die Organisation, aber auch ein Indiz für die politischen Druckverhältnisse, unter denen sie stand.[14]
Darüber hinaus wurde der „Jüdischen Stimme“ im Oktober 2022 die Gemeinnützigkeit entzogen. Diese Maßnahme beruhte offenkundig nicht auf formalen Kriterien der Steuerprüfung, sondern auf einer politischen Bewertung ihrer Aktivitäten – ein Schritt, der in der Folge zu einem signifikanten Rückgang öffentlicher Mittel führte und die Existenz der Organisation massiv gefährdete. Auch geplante Auszeichnungen wurden verhindert: Als die Gruppe 2019 mit dem Göttinger Friedenspreis geehrt werden sollte, protestierte der Zentralrat der Juden so vehement, dass die Verleihung abgesagt wurde und in der Galerie Alte Feuerwache in Göttingen stattfand.
Solche Maßnahmen stehen im Widerspruch zur grundgesetzlich garantierten Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. Schon 2020 kam der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags zu dem Schluss, dass der Bundestagsbeschluss gegen BDS von Mai 2019 – auf dem viele der politischen und administrativen Eingriffe basieren – verfassungswidrig wäre, falls er gesetzlich bindend würde. Denn weder lasse sich der BDS-Aufruf als Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung einstufen, noch bestehe eine konkrete Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Auch das Bundesverwaltungsgericht erklärte im Januar 2022, dass Städte wie München keine pauschalen Raumverbote für BDS-nahe Veranstaltungen erlassen dürfen: Ein solcher Ausschluss sei unverhältnismäßig und verletze Artikel 5 des Grundgesetzes.[15]
Noch prekärer wird die Lage, wenn man die Betroffenheit jüdischer Antizionistinnen und Antizionisten betrachtet. Denn hier wirkt die Diskriminierung doppelt: Zum einen als politische Maßregelung, zum anderen als implizite Identitätsverweigerung. Der Staat entscheidet in solchen Fällen, welches jüdische Selbstverständnis als legitim gilt – und welches nicht. Damit gerät nicht nur das Prinzip religiöser und weltanschaulicher Neutralität in Gefahr (Artikel 4 Absatz 1 GG), sondern auch das Diskriminierungsverbot nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Wenn jüdische Personen systematisch sanktioniert werden, weil sie sich politisch nicht mit dem Staat Israel identifizieren, dann liegt zumindest der Verdacht mittelbarer Diskriminierung vor. Bislang ist dieser Weg juristisch noch nicht beschritten worden, doch das European Legal Support Center (ELSC) dokumentierte 2023 allein in Deutschland über 30 Fälle, in denen solche Benachteiligungen vorkamen – meist gegen jüdische oder palästinensische Menschenrechtsverteidiger.[16]
Die gesellschaftliche Folge ist ein Klima der Selbstzensur. Universitäten laden bestimmte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht mehr ein, Kultureinrichtungen fürchten um ihre Zuschüsse, wenn sie israelkritischen Gruppen Raum geben. Besonders auffällig ist, dass die meisten Absagen nicht gegenüber rechtsextremen Akteuren erfolgen, sondern gegenüber Jüdinnen und Juden, die eine alternative Auffassung von jüdischer Ethik vertreten – etwa eine, die sich an Gerechtigkeit für Palästinenser orientiert. Es entsteht ein doppelter Ausschluss: aus dem Diskurs über Antisemitismus – und aus dem Diskurs über das Judentum selbst.
Dieser Ausschluss wird auch symbolisch sichtbar. In Medien und Politik hat sich eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Juden etabliert. Wer loyal zur israelischen Regierung steht, wird gefeiert; wer Kritik äußert, gilt als „selbsthassend“ oder als „Alibi-Jude“. Diese Kategorien, ursprünglich aus dem rechten Diskurs, haben Eingang in den Mainstream gefunden – nicht zuletzt durch ihre Kompatibilität mit der IHRA-Logik: Nur wer sich in die zionistische Erzählung fügt, wird geschützt. Der Rest wird delegitimiert – als Jude wie als Bürger.
Teil V: Diskursive Kontrolle – Wer definiert das Jüdische in Deutschland?
Die gesellschaftlichen und juristischen Verwerfungen, die sich aus der politischen Anwendung der IHRA-Definition ergeben, wären nicht denkbar ohne ein institutionelles Machtgefüge, das eine bestimmte Deutung jüdischer Identität privilegiert – und andere ausschließt. In Deutschland wird dieses Gefüge maßgeblich durch zwei Akteursgruppen getragen: den Zentralrat der Juden in Deutschland und die staatlichen Antisemitismusbeauftragten auf Bundes- und Länderebene. Sie bilden ein diskursives Machtkartell, das nicht nur in politischen Gremien, sondern zunehmend auch im Kulturbereich und der medialen Öffentlichkeit festlegt, wer als „repräsentativ jüdisch“ gelten darf – und wer nicht.
Der Zentralrat der Juden agiert dabei in einer doppelten Rolle: formal als Vertretung der jüdischen Religionsgemeinschaft, de facto jedoch als politischer Kooperationspartner der Bundesregierung in Fragen der Israel-Solidarität. Diese Nähe ist historisch erklärbar, aber demokratisch problematisch – insbesondere, wenn sie zur exklusiven Definitionsmacht über das Judentum führt. Der Zentralrat hat sich wiederholt als Verteidiger des israelischen Staatskurses profiliert. Öffentliche Angriffe auf jüdische Organisationen wie die „Jüdische Stimme“ oder auf Einzelpersonen wie Nirit Sommerfeld, Rolf Verleger oder Shir Hever zeigen, wie schnell Dissens als Illoyalität gewertet wird.
Besonders wirkmächtig sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen und Interventionen des Bundesbeauftragten für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus. Seit seiner Einführung im Jahr 2018 ist das Amt politisch eng an das Bundesinnenministerium gebunden. Der erste Amtsinhaber Felix Klein interpretierte seine Rolle ausdrücklich als Wächter der „roten Linien“ im öffentlichen Diskurs. Immer wieder intervenierte er – etwa gegen die Teilnahme von Judith Butler an Veranstaltungen, gegen Auszeichnungen für die „Jüdische Stimme“ oder gegen wissenschaftliche Vorträge, die sich kritisch mit dem Zionismus auseinandersetzten.
Diese Einmischung hat eine verengende Wirkung auf die Diskurse in Wissenschaft, Kunst und Bildung. Die documenta 15, die Ruhrtriennale 2020 und die Absage des Vortrags von Achille Mbembe markieren exemplarisch jene „Lackmustests“, die inzwischen Alltag geworden sind: Wer nicht in das zionistische Konsensraster passt, wird ausgeladen, delegitimiert oder öffentlich angegriffen – nicht selten unter dem Vorwand des Antisemitismus.[17] Besonders perfide wird diese Praxis, wenn sie sich gegen Jüdinnen und Juden richtet. Denn dann wird nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch die Integrität jüdischer Selbstdefinition in Frage gestellt.
Was dabei entsteht, ist eine neue Form von Definitionsmacht über das „richtige Judentum“. Diese Definitionsmacht liegt nicht mehr bei der jüdischen Gemeinschaft als pluralem Kollektiv, sondern bei staatlich anerkannten Autoritäten, die sich auf eine bestimmte Auslegung der IHRA-Definition stützen. Wer von dieser Linie abweicht, wird symbolisch exkommuniziert – als „nicht repräsentativ“, „selbsthassend“ oder „politisch instrumentalisiert“. Solche Begriffe fungieren als diskursive Ausschlussmechanismen, die an die Stelle innerjüdischer Auseinandersetzung staatliche Legitimation setzen.
In der deutschen Öffentlichkeit hat sich diese Logik tief verankert. Große Medien übernehmen regelmäßig die Kategorisierungen der offiziellen Stellen. Antizionistische Juden werden als „problematisch“ gerahmt, oft ohne ihre Positionen im Detail zu prüfen. Stattdessen dominiert ein homogenisierendes Bild des Judentums, das mit Loyalität gegenüber Israel gleichgesetzt wird. Die jüdische Diaspora wird als politisch einheitlich dargestellt – obwohl sie es historisch und aktuell nie war.
Ein besonders irritierendes Beispiel war die Reaktion auf die israelische Historikerin Amira Hass, deren Vortrag an einer deutschen Universität im Februar 2025 kurzfristig abgesagt wurde. Die offizielle Begründung lautete, ihre Aussagen zur israelischen Militärpolitik könnten als antisemitisch verstanden werden. Dass Hass nicht nur jüdisch ist, sondern aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden stammt und für die israelische Zeitung Haaretz schreibt, spielte in der öffentlichen Bewertung keine Rolle. Ihre jüdische Identität wurde diskursiv entwertet – weil sie nicht der politischen Erwartung entsprach.
Solche Fälle zeigen, dass es bei der Anwendung der IHRA-Definition längst nicht mehr nur um den Schutz vor Antisemitismus geht. Vielmehr geht es um die Kontrolle darüber, wer im Namen des Judentums sprechen darf – und wer nicht. Der Effekt ist eine schleichende Entmündigung jüdischer Selbstrepräsentation. Was als Schutz gemeint war, wird zum Instrument staatlich regulierter Identitätspolitik. Die Grenze zwischen Antisemitismusbekämpfung und politischer Normierung jüdischen Lebens ist damit nicht nur unscharf – sie ist längst überschritten.
Teil VI: Fazit – Für eine offene jüdische Identität
Die politische Instrumentalisierung der IHRA-Definition hat in den vergangenen Jahren einen tiefen Wandel im öffentlichen Umgang mit Antisemitismus und jüdischer Identität bewirkt – nicht nur in Deutschland, sondern international. Während der Schutz jüdischen Lebens stets eine notwendige Aufgabe demokratischer Gesellschaften bleibt, darf dieser Schutz nicht zum Einfallstor für die Disziplinierung jüdischer Pluralität werden. Doch genau dies geschieht derzeit: Mit dem Verweis auf den Kampf gegen Antisemitismus werden nicht nur palästinensische und solidarische Stimmen unterdrückt – auch innerjüdische Dissidenz wird delegitimiert.
Was dabei auf dem Spiel steht, ist nicht allein das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Es ist auch das Recht auf selbstbestimmte jüdische Identität. Wenn Antizionismus als antisemitisch, Zionismuskritik als illoyal und alternative religiöse oder politische Traditionen als „nicht repräsentativ“ gelten, dann wird jüdische Zugehörigkeit nicht mehr durch Vielfalt, sondern durch Gehorsam definiert. Der Staat – in Kooperation mit bestimmten Institutionen – erhebt Anspruch auf das Jüdische. Damit wird eine Minderheit nicht geschützt, sondern normiert.
Dagegen regt sich Widerstand. Der Erste jüdisch-antizionistische Kongress in Wien am 13. Juni 2025 steht exemplarisch für eine neue Generation jüdischer Aktivistinnen und Denker, die sich nicht länger vorschreiben lassen wollen, wie sie sich zu definieren haben – weder von jüdischen Gremien noch von deutschen Regierungsstellen. In der „Wiener Erklärung“ heißt es: „Wir, die Unterzeichnenden, verstehen das Judentum als Religion und als Kultur mit reichen Formen. Den Zionismus lehnen wir als eine Form von Ethno-Nationalismus, Rassismus und Kolonialismus ab.“[18]
Diese Unterscheidung ist nicht nur ein Akt der Selbstbehauptung, sondern eine intellektuelle und moralische Notwendigkeit. Denn nur durch die Anerkennung jüdischer Pluralität lässt sich auch der Antisemitismus wirkungsvoll bekämpfen. Wer das Jüdische auf Loyalität gegenüber Israel reduziert, reproduziert im Kern ein antisemitisches Denkmuster: jenes, das alle Juden als Kollektiv mit einem fremden Staat identifiziert. Gerade die staatliche Übernahme solcher Kategorien läuft daher Gefahr, das Gegenteil dessen zu bewirken, was sie intendiert: Sie vertieft antisemitische Denkformen, anstatt sie zu überwinden.
Es braucht deshalb einen doppelten Perspektivwechsel: erstens eine Rückkehr zu einem begrifflich präzisen, rechtsstaatlich fundierten Antisemitismusbegriff – und zweitens eine politische Kultur, die jüdische Stimmen nicht danach beurteilt, ob sie dem zionistischen Konsens entsprechen, sondern danach, ob sie zur demokratischen, pluralen Gesellschaft beitragen. Dazu gehören säkulare Menschen mit jüdischem Kulturhintergrund ebenso wie orthodoxe Antizionisten, linke Diasporavertreter ebenso wie dissidente Israelis.
Denn Judentum war nie monolithisch. Es war – und ist – ein vielstimmiges Gewebe aus Erinnerungen, Identitäten, Widerständen und Hoffnungen. Wer das anerkennt, muss das Recht auf Dissens schützen – auch und gerade im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus. Die Lehre aus der Geschichte darf nicht „Nie wieder Kritik“ lauten. Sondern: „Nie wieder Gleichschaltung“.
Titelbild: Andy.LIU/shutterstock.com
[«1] IHRA, Working Definition of Antisemitism, 2016.
[«2] Itamar Mann und Lihi Yona, Defending Jews from the Definition of Antisemitism, in: „UCLA Law Review“, Juli 2024.
[«3] Ebd., S. 19 ff.
[«4] Donald Trump, Executive Order on Combating Anti-Semitism, 11.12. 2019.
[«5] Robert Cover, Nomos and Narrative, in: „Harvard Law Review“, 97/1983, S. 4–68.
[«6] Buber, Martin. A Land of Two Peoples, University of Chicago Press, 2005, hrsg. Paul R. Mendes-Flohr.
[«7] Hannah Arendt, Brief an die New York Times, 4.12.1948
[«8] Dr. J. L. Magnes, Address to the United Nations Special Committee on Palestine (UNSCOP), 1947.
[«9] Joel Teitelbaum, Vayoel Moshe, New York 1959.
[«10] Marek Edelman, Offener Brief an die palästinensischen Partisanen, in: „Gazeta Wyborcza“, 2002.
[«11] Judith Butler, Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism, New York 2012.
[«12] Ilan Pappé, Die ethnische Säuberung Palästinas, München 2007
[«13] Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes, München 2009.
[«14] Court Victory against corporate complicity in Germany’s authoritarianism
[«15] Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20.01.2022 – BVerwG 8 C 35.20
[«16] European Legal Support Center, The Impact of the IHRA Working Definition on Human Rights Defenders in Europe, Amsterdam 2023.
[«17] Aleida Assmann u.a., Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, Erklärung vom 11.12.2020.
[«18] Wiener Jüdisch-Antizionistischer Kongress, Wiener Erklärung, veröffentlicht am 13.6.2025, juedisch-antizionistisch.at