Die neuen Sozialliberalen?

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Wer gehofft hatte, Sloterdijks Provokation gegen den Sozialstaat und eine solidarische Gesellschaft in der wirtschaftsliberalen FAZ würde als das Krähen eines in die Jahre gekommenen eitlen Gockels abgetan, das allenfalls im Feuilleton ein Echo auslösen würde, hat sich getäuscht. Der Hahn krähte offenbar auf einem großen Misthaufen, auf dem sich die selbsternannten Zeitgeistinterpreten wonnig suhlen und den Gestank derJauche als Hauch einer neuen Epoche verkünden wollen. Da sind nicht nur die derben Zyniker von Sarrazin bis Buschkowsky, sondern von der „Welt“ über die Sendung von Anne Will bis hin in die Frankfurter Rundschau verteilt sich jetzt der reaktionäre Mief der Verächter einer solidarischen Gesellschaft über die Medien. Wolfgang Lieb

Nun mischt sich auch der in die Vorstandsetage des Zeitungsverlags DuMont aufgerückte ehemalige Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers, Franz Sommerfeld, in der hauseigenen FR in die von Sloterdijk angestoßene Kampagne ein:

17 Prozent der unter Dreißigjährigen hätten bei der Bundestagswahl liberal gewählt. Ein genauerer Blick in die Untersuchungen zur Wahl zeige, dass hier keine Generation kaltherziger Neoliberaler heranwachse, sondern junge, durchaus sozial eingestellte Pragmatiker, wenig ideologisch gesteuert und natürlich ökologisch verantwortungsbewusst. Als „neue Sozialliberale“ werden sie charakterisiert, als ein „Milieu von Intellektuellen und Kreativen, die einst grün gewählt haben und heute für die FDP votieren.“ Sie betrieben schnell entstehende und vergehende Unternehmen und müssten sich vierteljährlich der Abrechnung ihrer Umsatzsteuervoranmeldung beim Finanzamt widmen. Für sie habe der Begriff der “Transferleistung” eine andere Anschaulichkeit als für den, der monatlich seinen Gehaltszettel abhefte…“Wer unter schwierigen Verhältnissen auf seine Leistung stolz ist, hinterfragt den Sinn seiner Abgaben an den Staat naturgemäß eher“, schreibt Sommerfeld.

Die These vom „steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus“ (Sloterdijk) scheint die Stimmungslage der dem Staat wie einem unersättlichen Moloch gegenüber feindlich gesinnten Sozialstaatsgegner offenbar getroffen zu haben. Nun findet geradezu ein Hahnschrei-Wettkampf statt.

Aus dem banalen Umfrageresultat, dass dreiviertel aller Befragten für Steuersenkungen sind, leitet Franz Sommerfeld gleich einen „grundlegender Umschwung des geistigen Klimas im Lande“ ab. Wer wäre eigentlich nicht etwa auch für eine Senkung des Bierpreises oder gar für Freibier für alle? Könnte man daraus den Umschwung Deutschlands zu einem Volk von Säufern ableiten?

Dass hier eine neue Ideologie oder zumindest eine Oberklassenweltanschauung gepredigt wird, lässt sich schon damit belegen, dass diejenigen, die den Staat nur noch als (bettelnden und lästigen) Almosenempfänger betrachten möchten, die Fakten schlicht leugnen.
Da wird von einem „steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus“ geschwafelt und ignoriert, dass die Staatsquote in Deutschland seit 1996 von 49,3% auf 43,5 % im Jahr 2008 zurückgegangen ist. In der Eurozone haben nur noch Irland, Spanien und Luxemburg niedrigere Quoten. Da schreibt Sommerfeld vom „ausufernden Steuerstaat“ und leugnet die Tatsache, dass nach offiziellen Angaben des Bundesfinanzministers in der Summe die Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Mittelstand in den letzten Jahren um fast 60 Milliarden € entlastet worden sind und unser Land mit rund 22 % eine der niedrigsten Steuerquoten unter allen Industrienationen hat.

Wer behauptet, dass die Ausgaben von Bund und Ländern in den letzten zehn Jahren zu stark ausgeweitet worden seien, muss sich fragen lassen, ob eine Volkswirtschaft wie Deutschland mit einer noch niedrigeren Staatsquote in der Lage sein kann, eine ausreichende Versorgung mit öffentlichen Gütern, insbesondere im Bereich der Bildung und der Infrastruktur zu gewährleisten. Schon heute liegt Deutschland bei diesen zentralen Zukunftsinvestitionen weit unter dem Durchschnitt vergleichbarer Länder.

Dass 17% der unter Dreißigjährigen FDP gewählt haben, hat mit ziemlicher Sicherheit weniger damit zu tun, dass diese Gruppe als junge Unternehmer tätig ist, sondern viel eher damit, dass sie als „Beruf Sohn“ oder als „Beruf Tochter“ sind und nicht danach fragen müssen, was etwas kostet, sondern ob die Familie bzw. der Vater bezahlt. Die meisten dürften nämlich an „Vaters Tropf“ hängend noch einem Studium nachgehen. Es spricht darüber hinaus für ein ziemlich großbürgerliches Denken, wenn man so tut, als unterlägen diejenigen, denen die Steuern vorab vom Lohn abgezogen wird, einer quasi-sozialistischen Dressur, während der vierteljährliche Vorsteuerabzug den Stolz auf die persönliche Leistung verletze. Dürfen Lohnabhängig auf ihre Leistung etwa nicht stolz sein?

Am gleichen Tag an dem das Statistische Bundesamt mitteilt, dass im Jahr 2008 768.000 Personen (darunter 410.000 bedürftige Rentner) (das sind 4,8% mehr als im Vorjahr) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Anspruch nehmen müssen, um ihre Existenz zu sichern, reden die Claqueure Sloterdijks über den „Bruch mit der staatlichen Mangelpflege“. In Zeiten, in denen gegenüber immer mehr Hartz IV-Beziehende Sanktionen verhängt werden (2008 waren geschah dies 780.000 Mal) wird über das angebliche sozialpolitische Motto „Zuschauen und Zahlen“ gespottet.

Da wird nicht eine seit Jahren verfehlte Finanz- und Wirtschaftspolitik kritisiert, die die Arbeitslosigkeit wieder drastisch ansteigen lässt, sondern der Frage nachgegangen, „inwieweit die bisherige Sozialpolitik zur Bildung und Verfestigung“ der Unterschicht beigetragen habe. Eine derartige Verkehrung von Ursache und Wirkung wird noch unter dem Deckmantel der „Philosophie“ verkauft. In Wirklichkeit ist es blanke Ideologie, die eine Abkehr vom Sozialstaat hin zum karitativen Barmherzigkeitsstaat des Mittelalters propagiert.
„Sozial-liberal“ heißt in diesem Weltbild, dass die Vermögenden frei sind, den Armen eine soziale Wohltat zukommen zu lassen.

Weil diese unsägliche Debatte ja um sich greift, soll anlässlich des Kommentars von Franz Sommerfeld in der FR nochmals an die Sendung von Anne Will vom 1.November erinnert werden. Dazu schrieb uns unser Leser Wieland Hempel:

„Anne Will vom letzten Sonntag verdient doch noch eine Nachlese

  • wegen Norbert Bolz, der den Sloterdijk gab,
  • wegen des Beifalls, den er für seine aggressive Rhetorik bekam und
  • wegen der vornehmen Zurückhaltung von Hannelore Kraft.

 
Die beiden letzteren Punkte gehören zusammen. Die sachliche Entgegnung auf Bolz, er verbreite Ideologie, kann nur bei Menschen ankommen, die diese Meinung dank eigenen Urteilsvermögens ohnehin schon haben. Warum sollte  man der wichtigsten Kandidatin des Jahres 2010 nicht raten, diese neoliberalen Lautsprecher offensiv zu attackieren? Oder macht sie sich noch Illusionen über den geistigen Bodensatz im Lande, mit dem die Sloterdijks erfolgreich spielen? Was “Ideologie” ist, müsste plastisch vorgeführt werden, z.B. dass der unterstellte Naturzustand privilegierter Existenz (“Der einzige und sein Eigentum”) verkennt, dass der Millionär als einzelner verhungern müsste, weil er weder Getreide anbauen noch Brötchen backen kann, sondern von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung lebt; die Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums ist deshalb eine gesellschaftliche Frage und die von Rechts ins Lächerliche gezogene Belastung der “starken Schultern” eine legitime Forderung, zumal in einer Demokratie. Auch das Bundesverfassungsgericht mit seiner Erläuterung des Menschenbildes des Grundgesetzes müsste nicht dezent beschwiegen werden.“

Siehe dazu noch einmal: Wieland Hempel „Die schleichende Revolution“.

Anmerkung: Der Fairness halber soll darauf hingewiesen, dass die FR in dieser Debatte schon etliche kritische Beiträge geliefert hat, auf die wir schon hingewiesen haben.

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