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Erosion der Demokratie

Jeder Fünfte würde Sarrazin wählen

So oder so ähnlich lauten heute hunderte von Zeitungsüberschriften. Angestoßen wurde dieser „Sarrazin-Alarm“ von Bild am Sonntag. Dahinter steckt ein perfides Doppelspiel der Springer-Presse: Es ist der Versuch einen Rechtsschwenk in der deutschen Politik herbeizuführen, indem man die Parteien vor einer Gefahr von Rechts warnt, wenn Union und SPD als sog. Volksparteien sich nicht der von der Bild-Zeitung selbst mit angefachten Stimmungslage der Bevölkerung anpassen sollten. Und die meisten Medien fallen auf diesen billigen Trick rechtskonservativer politischer Meinungsmache herein. Wolfgang Lieb

Der Verfassungsschutz dient dem Machterhalt der herrschenden Kreise. So ist es. So war es von Anfang an.

Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden. Die Partei Die Linke und auch Bodo Ramelow dürfen vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Lächerlich. Aber diese antidemokratische Lächerlichkeit hat Tradition in dieser FdGO. In einem Beitrag vom 21. Mai hatte ich schon darauf hingewiesen, wie wir als Schüler Anfang der Fünfzigerjahre ungeschützt von irgend einem Verfassungsschutz den verbliebenen Nazi-Lehrern und ihrer Verherrlichung des Militärs ausgesetzt waren. Später habe ich dann als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt mit SPD-Parteibuch erlebt, wie der Verfassungsschutz offen Jagd auf Sozialdemokraten gemacht hat. Diese sollten sich nicht zu früh freuen über das Urteil von Leipzig. Ihre Option zur politischen Führung und zu einer politischen Alternative zu Schwarz-Gelb ist in Leipzig neben der Demokratie auch noch zu Grabe getragen worden, wie die taz in diesem Beitrag zu Recht feststellt. Albrecht Müller

Die Meta-Politik-Show

Bei mir lief neben dem Schreibtisch gestern über 10 Stunden der Fernseher. Meine Beobachtungen sind also medial vermittelt. Es ging um die Wahl des Staatsoberhaupts. Eigentlich ein höchst politische Angelegenheit. Doch es ging den ganzen Tag nicht um Politik. Es ging eher um eine Casting-Show. Es ging um Mehrheiten und es ging darum, ob die politischen Lager geschlossen abstimmen und ob die Linke Joachim Gauck unterstützen würde. Über Politik haben eigentlich nur die Vertreter der Linken gesprochen, wenn sie von den Reportern gefragt wurden, warum sie Gauck nicht wählten. Dass Christian Wulff im dritten Wahlgang die absolute Mehrheit bekommen hat, verhindert wenigstens neue Legendenbildungen. Wolfgang Lieb

Enthalten Sie sich der Stimme!

Heute finden sich im Reichstag die Mitglieder der Bundesversammlung zusammen , um ohne Aussprache den „Bundespräsidenten“ zu wählen.(Art. 54 Abs. 1 GG). Für die Mitglieder aus dem Bundestag und für die gewählten Vertreter aus den Ländern, gibt es viele Zweifel an den von den Parteispitzen vorgeschlagenen Kandidaten. Selten war bei der Nominierung der Kandidaten für das Staatsoberhaupt so viel Parteitaktik im Spiel und selten mussten die Wahlfrauen und Wahlmänner so sehr ihre eigenen Überzeugungen hinter die Parteiräson zurückstellen.
Es wäre ein Akt demokratischer Kultur, wenn die Mitglieder der Bundesversammlung sich nicht als „Stimmvieh“ missbrauchen ließen und ihre Stimme bei einer Wahl verweigern würden, die eigentlich keine mehr ist. Deshalb appelliere ich an die Wahlfrauen und Wahlmänner: Enthalten Sie sich der Stimme! Ein schwaches Wahlergebnis wäre ein bedeutendes Signal für eine lebendige Demokratie. Wolfgang Lieb

Sie sind alle gleichgeschaltet – ZDF, ARD, Spiegel Online usw.

Kaum war mein Beitrag über die verwirrende Debatte ums Sparen im Netz, erhielt ich folgende interessante Mail:

„Sie haben am 24.6. wohl die Tagesthemen nicht gesehen, sonst hätten Sie es wohl erwähnt. Dort sagt Tom Buhrow tatsächlich: ‚Und da geht es um die Gretchenfrage: Sparen oder Prassen?’ (Siehe Tagesthemen 11:56 min).“

Ob heute journal oder Tagesthemen, Spiegel Online, FAZ oder ZEIT – sie übernehmen blind den gängigen Jargon. – Und da schwärmt dieser ahnungslose Bundespräsidentenkandidat Gauck von „Freiheit“. Dass die Pressefreiheit und die reale Meinungsfreiheit von den sich gleichschaltenden Medien jeden Tag neu zu Grabe getragen wird, ist an diesem Formaldemokraten schlicht vorbei gegangen. Armes Deutschland. Albrecht Müller

Das Amt des Bundespräsidenten als Ehrenvorsitz für die CDU?

„Die CSU und die FDP warten auf einen geeigneten Vorschlag der CDU“, „Westerwelle und Seehofer wollen auf einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten verzichten“. „Union und FDP verfügen über eine komfortable Mehrheit in der Bundesversammlung“. Das sind die Eckdaten in der Debatte bei der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit für das Staatsoberhaupt. Es muss der Eindruck entstehen, als wäre die Bundesversammlung nur dazu da, quasi eine/n Ehrenvorsitzende/n der CDU zu wählen.
Schon Horst Köhler wurde sozusagen in der Wohnküche von Westerwelle ausgekungelt. Auch bei der Suche nach einem Nachfolger wahrt man nicht einmal den Anschein als ginge es darum, eine Persönlichkeit zu finden, die die gesamte Bevölkerung repräsentieren könnte. Das Auswahlverfahren hinterlässt den fatalen Beigeschmack, als ginge es darum, das Amt einem passenden Parteigänger der CDU zuzuschanzen. Wolfgang Lieb

NachDenkTreff

ver.di lädt zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung ein:
Die Rolle der Bertelsmann Stiftung beim Abbau des Sozialstaates und der Demokratie oder: Wenn ein Konzern Politik stiftet – zum gemeinen Nutzen?
Ref.: Dr. Wolfgang Lieb / Köln Dienstag, den 13. April 2010, 19.00 Uhr ver.di-Haus Dortmund, Königswall 36 (2.Etage – Sitzungsraum A/B)
Quelle: ver.di [PDF – 100 KB]

Die Finanzkrise offenbart eine Krise des Strafrechts – Too big to fail, too big for justice

Die Straftatbestände der Untreue, des Betrugs, der Hehlerei und der Erpressung sind in vielfältiger Weise erfüllt, doch der „hölzerne Handschuh“ (Heribert Prantl) des Strafrechts packt auf die Akteure der Finanzkrise nicht zu. Die wenigen bisherigen Strafverfahren gegen Verantwortliche lassen nicht erwarten, dass je ein Bankvorstand oder je ein Politiker für eingetretene Verluste haften müsste.
Die Justiz wäscht ihre Hände in Unschuld und zieht sich auf den Standpunkt zurück zieht, das Strafrecht könne nicht sanktionieren, was das Aktien-, Handels- Bilanz- oder Kapitalmarktrecht erlaubt. Wolfgang Lieb

Das Existenz–Minimum der HabendHerrschenden – Hartz IV, das Bundesverfassungsgericht und die etablierte bundesdeutsche Politik

Der 1. Senat hat mit seinem Urteil vom 9.2.2010 nicht eine überfällige Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit angestoßen und selbst eröffnet, allen Grund- und Menschenrechten und jeder Form der Demokratie abträglicher als alle anderen Gegebenheiten. Er hat die feinen und groben Unterschiede würdig abgesegnet. Nicht die Grund- und Menschenrechte als normae normantes, als täglich dirigierende politische Normen sind von ihm mit neuem Leben versehen worden. Nein: die normative Kraft des Faktischen. Das, wie es mit katastrophischen Unterschieden und schlimmen Effekten nach innen und außen ist, wie es ist, wird gelobt, dass es so ist. Von Wolf-Dieter Narr

Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: Verfassungsrechtlicher Opportunismus

Ein Pyrrhus-Sieg: Aus diesem Sieg vor dem Bundesverfassungsgericht gehen die 35.000 Kläger auf Dauer eher geschwächt hervor. Das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung hat zwar die innerdeutsche Regelung für nichtig erklärt, dennoch ist eine Speicherungspflicht in dem im Telekommunikationsgesetz vorgesehenen Umfang mit Art. 10 Grundgesetz „nicht schlechthin unvereinbar“. Vor allem aber ist die EU-Richtlinie 2006/24/EG, die durch die verfassungswidrig erklärten innerstaatlichen Gesetze nur umgesetzt werden sollte, durch das Urteil nicht tangiert.
Wie beim Hartz-IV-Urteil wird pathetisch die Unverletzlichkeit des Grundrechts beschworen, um dann dem Gesetzgeber viel Gestaltungsfreiheit zu geben, das Fernmeldegeheimnis wieder einzuschränken. Und wie beim Urteil über den EU Reformvertrag schreckt das höchste deutsche Gericht vor einer Auseinandersetzung mit dem EU-Recht zurück.
Das kann man eigentlich nur verfassungsrechtlichen Opportunismus nennen. Wolfgang Lieb

Abweichende Meinung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz IV-Urteil

Es ist schon ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, dass der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und gleichzeitig der Vorsitzende des das Hartz-IV-Urteil fällende Ersten Senats, nachträglich in einem Interview mit der konservativen Welt seinen eigenen Richterspruch interpretiert. Die Meinung die Hans-Jürgen Papier in der Welt vertritt, stellt eine sehr einseitige Auslegung dieses Urteils dar, man könnte geradezu von einem nachträglichen abweichenden Minderheitsvotum sprechen. Christian Girschner hat für uns die einschlägigen Passagen des Interviews analysiert.

„Schurkenwirtschaft“ – eine bemerkenswerte Rede vom Oberstaatsanwalt der Anti-Mafia-Direktion Palermo (Finanzkrise XXXII)

Heute erschien in der FR die Übersetzung einer Rede, die Roberto Scarpinato am 5.2. auf einer Konferenz in Karlsruhe gehalten hat. Zitat: „Die Auswüchse der Wirtschaftskriminalität in den Chefetagen der internationalen Konzerne, die die Weltwirtschaft bestimmen, verursachen weit größere und schwerer zu behebende Schäden als andere Verbrechen“. Das ist eine äußerst lesenswerte Rede. Albrecht Müller

Fall Koch in Sachen Brender: Staatsferne ja! Wo bleibt die Wirtschaftsferne?

Kein Zweifel: was sich Koch (CDU) und seine Freunde im ZDF-Verwaltungsrat geleistet haben, ist ein Anschlag auf die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Mediums ZDF. Aber der Protest der Chefredakteure und anderer Medienmacher wäre glaubwürdiger, wenn sie sich genauso vehement gegen den Zugriff der Wirtschaft und der neoliberalen Ideologen wehren würden. Das tun sie nicht, offensichtlich weil sie in diesem Zugriff mittendrin stecken. Albrecht Müller

Ein persönlicher Zustandsbericht eines Irritierten, aber dafür aus der Praxis.

Ein NachDenkSeiten-Leser, Wirtschaftsprüfer, Steuer- und Unternehmensberater hat uns folgenden Bericht über die Lage im Land geschickt. Er wohnt und arbeitet in einer Region, die als verhältnismäßig florierend gilt. Er hat den Eindruck, dass die Führungsschicht in Politik und Wirtschaft in einer abgehobenen Parallelgesellschaft lebt und nicht weiß oder verdrängt, wie die Wirklichkeit aussieht. Albrecht Müller.