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Gedenktage/Jahrestage

Kalenderblatt zum 20. Juli 1932: 80 Jahre “Preußenschlag”

– Machteliten im demokratischen Verfassungsstaat –
Der „Preußenschlag“ war der Schlussstein einer kontinuierlichen Aufkündigung der demokratischen Republik durch die alten Machteliten, die mental noch im monarchischen Regime verwurzelt blieben. Die Bedrängung dieser Republik durch Reparationsschulden, durch inflationsgeschädigte, desorientierte Mittelschichten, durch ideologische Geländegewinne rechtsautoritärer Kräfte und ihrer Presse, durch schwierige Regierungsbildungen, durch hohe Arbeitslosigkeit, durch restauratives Eigenleben von Reichswehr, in Staatsbürokratie und Justiz usw. war ohnehin beträchtlich. Entscheidend für ihren Untergang dürfte jedoch gewesen sein, dass maßgebende Interessengruppen aus Industrie und agrarischem Adel die Reichsregierung für ihre Belange einspannen konnten. Von Wieland Hempel[*]

Vor 40 Jahren Bundestagsentscheidung über Ostverträge

Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Sozialliberalen Koalition und Bundeskanzler Brandt auf der einen Seite und der Opposition unter Führung von Rainer Barzel (CDU) auf der anderen Seite passierten die so genannten Ostverträge am 17.5.1972 den Deutschen Bundestag. Die MdBs von SPD und FDP votierten dafür, jene der CDU und CSU enthielten sich mehrheitlich der Stimme. Siehe hier. Die Ostpolitik basierte auf einer neuen Konzeption zum Umgang unter bisher verfeindeten Völkern; Ideologien und Regierungen. Sie gründete auf einer anderen „Kultur“, als der zuvor und auch heute wieder gängigen. Deshalb auch die tiefe Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern. Deshalb auch die aufwallenden Emotionen und deshalb auch haben sich unglaublich viele Menschen damals um das politische Geschehen gekümmert, und sich an Diskussionen und in Parteien engagiert und an Wahlen beteiligt. Bei der Wahl am 19.11.1972 waren es 91,1%, mehr als jemals zuvor und darnach. Von Albrecht Müller

Glück braucht einen geschichtlichen Atem

Götz Eisenberg erinnert an den engagierten Intellektuellen und Schriftsteller Lothar Baier, der am 16. Mai 70 Jahre alt geworden wäre. Lothar Baier zählte in den späten 70er und dann vor allem in den 80er Jahren zu den wichtigen intellektuellen Köpfen. Er war ein gefragter Literaturkritiker, die Feuilletons fast aller großen Zeitungen standen ihm in jenen Jahren offen. Bei Wagenbach erschienen seine Essays „Firma Frankreich, Gleichheitszeichen“ und „Die große Ketzerei“ und er publizierte in der Zeitschrift Merkur, in Enzensbergers Zeitschrift TransAtlantik wie in Wagenbachs Freibeuter. 1982 wurde er mit dem Jean-Amery-Preis für Essayistik ausgezeichnet.1985 erschien im Verlag S. Fischer seine Erzählung „Jahresfrist“, in die er seine Erfahrungen beim Restaurieren eines alten Bauernhauses in Südfrankreich einfließen ließ.
„Heute hinauszuschreien, dass die Utopie gescheitert ist, ist etwa so klug, wie im Spätherbst, wenn die Blätter fallen, zu dem Schluss zu kommen, dass die Idee des Frühlings gescheitert ist. Nieder mit dem Frühling!“, schrieb er in dem 1993 erschienenen Band „Die verleugnete Utopie“. Von Götz Eisenberg.

Rezension: Dana Giesecke, Harald Welzer „Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“

Der 8. Mai gilt spätestens seit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahre 1985 als „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus“. In diesem Jahr fand dieser Tag der Erinnerung in der Politik und in den Medien kaum Beachtung. Brigitta Huhnke hat uns zum 8. Mai eine Rezension über ein neues Buch zur „deutschen Erinnerungskultur“ geschrieben. Sie kritisiert die dort angestellten „Überlegungen zur Modernisierung der Erinnerungskultur“ als „Schau“, inszeniert im Zwang des Tabubrechens, modisch verpackt in viele Worthülsen und Banalitäten, letztlich als die Entsorgung des Vermächtnisses der Ermordeten und Überlebenden.

Ergänzende Gedanken zum 1. Mai – Warum droht der Tag der Arbeit in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden?

Ohne Frage fällt es den Gewerkschaften heute ausgesprochen schwer, zum Tag der Arbeit viele Menschen zu mobilisieren. 1. Mai Kundgebungen vor 40 Jahren und heute, das ist schon wie Tag und Nacht. Es wäre billig festzustellen, an diesem Niedergang seien die Gewerkschaften schuld. Ganz unschuldig sind sie nicht. Ich habe mir den Aufruf des DGB zum 1. Mai 2012 und ein aktuelles einblick-Interview mit Michael Sommer, dem DGB-Vorsitzenden, angeschaut. Dazu und ergänzend ein paar Anmerkungen. Vielleicht findet der/die eine oder andere Redner/in darin noch Anregungen zur kritischen Anreicherung seiner/ihrer Reden zum 1. Mai. Albrecht Müller.

Amok in Erfurt / Teil 3 – Schulen: Verlässliche Orte oder Zulieferbetriebe für Markt und Industrie?

Am heutigen Tag vor 10 Jahren lief ein Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium Amok und tötete 16 Menschen und sich selbst. Götz Eisenberg hat auf die damaligen schrecklichen Ereignisse zurückgeblickt und danach gefragt, was aus diesem Massaker wirklich gelernt wurde. Lesen Sie heute den letzten Teil seiner Beobachtungen und seinen Schlussfolgerungen. Im Anhang finden Sie eine kommentierte Chronik der zurückliegenden Schulamokläufe.

Amok in Erfurt / Teil 2

„Schrei nach Veränderung“
Von Götz Eisenberg
Im August 2005 wurde der Schulbetrieb im umgebauten und gründlich sanierten Erfurter Gutenberg-Gymnasium mit einer Feierstunde wieder aufgenommen. Neben dem Eingang brachte man eine Gedenktafel mit den Namen der sechzehn Getöteten an. Gesellschaften und Gemeinschaften brauchen Orte der Erinnerung und kollektive Rituale zur Bewältigung eines Traumas, um ihr erschüttertes Gleichgewicht wieder zu erlangen. Es gibt allerdings Formen der Erinnerung, die in Wahrheit eher das Vergessen befördern. Man schafft, salopp gesagt, „Kranzabwurfstellen“, Orte, an denen man an Jahrestagen Blumen niederlegt, Kerzen entzündet und sich einer ritualisierten Gedächtnisübung unterzieht, um hinterher umso schneller vergessen zu können und über die Ursachen der Gewalt nicht reden zu müssen.

Amok in Erfurt

Am 26. April 2002 tötete der 19-jährige Robert S. am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Kurz darauf gründete sich die Schülerinitiative „Schrei nach Veränderung“, die dazu aufrief, sich „verstärkt mit den gesellschaftlichen Ursachen dieser Tat auseinander zu setzen“, weil nur deren Kenntnis es ermögliche, weiteren Taten vorzubeugen. Aus dem Abstand von zehn Jahren blickt Götz Eisenberg auf die damaligen Ereignisse zurück und fragt, was aus dem Massaker von Erfurt wirklich gelernt wurde. Wir präsentieren seinen Text von heute an bis zum 26. April in drei Teilen. Beschließen wird ihn eine kommentierte Chronik der Schulamokläufe.

Kabarettist Heinrich Pachl ist tot

Der Kölner Kabarettist Heinrich Pachl ist in der Nacht von Samstag auf Sonntag im Alter von 69 Jahren gestorben. Heinrich war noch bis vor kurzem mit einem Soloprogramm unter dem zukunftsfrohen Motto „Das überleben wir!“ aufgetreten, bis es seine schwere Krankheit nicht mehr zuließ. Der Wortakrobat in Höchstgeschwindigkeit war nicht nur eine Institution des politischen und gesellschaftskritischen Kabaretts, seine Auftritte mit dem frühen Richard Rogler, dem verstorbenen Mathias Beltz oder mit Arnulf Rating sind unter Kabarettfreunden geradezu legendär. Für seine Soloprogramme erhielt er renommierte Auszeichnungen, wie den Deutschen Kleinkunstpreis, den Adolf-Grimme-Preis oder den Deutschen Kabarettpreis. Heinrich war immer auf der „Spur der Scheine“. Für mich ist sein Theaterstück „Köln ist Kasse“ die einfühlsamste und treffendste Karikatur des kölschen Klüngels. Köln ist für den gebürtigen Badener zu seiner geliebten und gleichzeitig heftig angeprangerten Heimat geworden. Heinrich hat sich nicht nur in der Stadtpolitik sondern überall eingemischt, wo es um soziale Not oder um Finanz- und Umweltskandale ging. Auf der Straße, im Theater oder mit seinen Filmen stand er immer auf der Seite der Benachteiligten. Er hat den Schönfärbern in Politik und Medien mit seinen „vertrauensstörenden Maßnahmen“ zugesetzt. Seine Empathie galt den Ausgebeuteten und sein Zorn den Absahnern. Die Kleinkunst, das Kabarett hat einen ihrer Großen verloren, die NachDenkSeiten einen wichtigen Impulsgeber und ich einen guten Freund. Wir trauern um ihn mit seiner Frau Li und seinem Sohn Max.

Kein Grund zum Feiern: 10 Jahre Hartz-Kommission

Am 22. Februar 2002 richtete die rot-grüne Regierung eine Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ein, die Peter Hartz, seinerzeit Personalvorstandsmitglied der Volkswagen AG, leitete und eigentlich nur Vorschläge zur Organisationsreform der Bundesanstalt für Arbeit (Umwandlung der Nürnberger Behörde in eine moderne Dienstleistungsagentur) machen sollte. Nachdem diese wegen gefälschter Vermittlungsbilanzen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten war, nutzten die sozialdemokratischen und bündnisgrünen „Modernisierer“ den Skandal, um den von ihnen beklagten „Reformstau“ auf dem Arbeitsmarkt aufzulösen. Von Christoph Butterwegge.

Hunger nach Sinn

Am 14. Februar wird der Autor, Filme- und Fernsehmacher Alexander Kluge 80 Jahre alt. Eine Hommage von Götz Eisenberg.
Es gibt lakonische Bemerkungen von Alexander Kluge, die hoch verdichtet, gewissermaßen in Pillenform, den ganzen Kosmos der gegenwärtigen Gesellschaft enthalten und erhellen. “Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.” Dieser Satz, mit dem Alexander Kluge sein Buch Lernprozesse mit tödlichem Ausgang aus dem Jahr 1973 eröffnet, hat mir einen verstehenden Zugang von weit verbreiteten gegenwärtigen Leidenserfahrungen eröffnet. Das Kapital ist schnell und dynamisch, die Menschen sind eher langsam. Ihre Fähigkeit, innerhalb ihrer Lebenszeit und auf der Basis einer erworbenen Identitätsstruktur und charakterlicher Prägungen Veränderungen zu verarbeiten, ist begrenzt. Immer mehr Menschen machen angesichts des forcierten gesellschaftlichen Wandels die Erfahrung von „Sinnentzug“ …

Was Franz Mehring vor 100 Jahren zum 200. Geburtstag von Friedrich II. zu sagen hatte

Aus aktuellem Anlass: Auszüge aus seinem Aufsatz in der Zeitschrift ‘Die Neue Zeit’, Jahrgang 1911/12:

„Es lohnt sich, einen Augenblick bei dieser Frage zu verweilen, da gegenwärtig die patriotische Trommel gerührt wird für den Geburtstag des Königs Friedrich, der sich am 24. Januar dieses Jahres zum zweihundertsten Male jährt …“

Morgen jährt sich der Geburtstag von „Friedrich dem Großen, dem Alten Fritz“ zum dreihundertsten Mal und wieder einmal wird die patriotische Trommel gerührt.

„… diese herrliche Unzulänglichkeit des Vorstellens und des Fühlens“

Von Brigitta Huhnke

Täter –Opfer Umkehr: „die Stunde Null“
Die eigentliche historische Zäsur vollzieht sich seltsam unaufgeregt. Vor 66 Jahren haben die Alliierten „das Grauen, das Deutschland über die Welt gebracht hat“[1] (Imre Kertész) zum Stillstand gebracht – zumindest äußerlich. Die letzten Überlebenden werden in wenigen Jahren endgültig gegangen sein, ebenso die letzten Täter. Doch die Übergabe ist äußerst einseitig geregelt.