Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie

Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie

Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

‚Hätte ich das gewusst, hätte ich die Partei X nicht gewählt…‘. So dürften viele Menschen kurz nach den Bundestagswahlen gedacht haben, als der damals designierte Bundeskanzler Friedrich Merz die Schuldenbremse entgegen seiner Wahlkampfaussagen für die Aufrüstungsfinanzierung des deutschen Militärs sturmreif schoss. Wie kann es in einer Demokratie sein, dass politische Entscheidungen bisweilen diametral den gesellschaftlichen Vorstellungen und Interessen zuwiderlaufen? Heißt Demokratie nicht Volksherrschaft? Wie passt das Bild von Demokratie mit den mitunter selbstherrlichen Entscheidungen politischer Entscheider zusammen? Der entscheidende Begriff hierfür lautet: Repräsentation. Und, was kann gegen politische Selbstherrlichkeit der Gewählten unternommen werden? Auch hier lautet das entscheidende Instrument: Volksentscheid. Von Alexander Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Repräsentation“ bedeutet, dass eine Person oder eine Personengruppe, gewählt in staatliche Organe (Deutscher Bundestag, Bundesregierung, Bundeskanzler), die Interessen einer größeren Gruppe (des Volks als eigentlicher Souverän) in deren Auftrag vertritt bzw. repräsentiert (siehe hier Art. 20 Abs. (2) Grundgesetz). Diese Person oder Personengruppe erhält über Wahlen den Auftrag. Damit unterscheidet sich die repräsentative Demokratie von der direkten Demokratie. In der direkten Demokratie entscheidet die Gesamtheit der Personen über ihr gemeinsames Schicksal unmittelbar. Es besteht eine direkte, auch personelle, Identität zwischen Regierenden und Regierten – zwischen Rechtsetzenden und Rechtsunterworfenen. Angesichts einer großen Personengruppe, also eines Volkes, ist diese demokratische Variante jedoch nicht alltagspraktikabel. Hinzu kommen die Menge und die Komplexität politischer Fragestellungen, die es einer ganzen Gesellschaft gar nicht erlaubt, sich damit täglich auseinanderzusetzen.

Das Konzept der Repräsentation ist eine praxistaugliche Kompromisslösung, um dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen und diesen auch politisch umzusetzen, so die dahinterstehende Idee. Es wird also eine fiktive Identität von Repräsentanten und Repräsentierten unterstellt. Was aber, wenn die gewählten Repräsentanten ganz andere Vorstellungen von dem haben, was gut für das Volk, für das Gemeinwesen ist, also die Repräsentierten – wenn also eine Entfremdung zwischen beiden Gruppierungen zu beobachten ist? Dann spricht man von einer Krise der Demokratie oder der Repräsentation, einer Repräsentationslücke etc. Eine tatsächliche fiktive Identität wäre beispielsweise durch ein imperatives Mandat (gebundenes Mandat) gesichert. Der gewählte Abgeordnete müsste so im Parlament entscheiden, wie seine Wähler es wollen. Im Grundgesetz (Artikel 38 Abs. (1) Satz 2) indessen heißt es: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Sodann bleibt festzustellen, dass Friedrich Merz sich mit seinem politischen Coup innerhalb des Verfassungsrahmens bewegte; er tat es, weil er es grundgesetzlich durfte. Es war legal, wenn auch politisch nicht so sehr legitim – wie so viele politische Entscheidungen, die im Gegensatz zu vorherigen Wahlversprechen getroffen werden. Der Wähler gibt dem gewählten Abgeordneten (Erststimme) bzw. der Partei (Zweitstimme) einen politischen Blankocheck in der Hoffnung, dass dieser auch in seinem Sinne eingelöst wird. Wird er nicht im Wählersinne eingelöst, so hat der Wähler mal wieder Pech gehabt, so die politische und Verfassungsrealität.

Der Wähler selbst also kann die politische Entscheidung über das Instrument des imperativen Mandats nicht steuern, da die Abgeordneten, die Regierungsvertreter nur ihrem „Gewissen unterworfen“ und somit dem Souverän gegenüber nicht weisungs- und auftragsgebunden sind. Allenfalls bleibt die Chance, nach Ablauf der Wahlperiode seine Wahlpräferenz einer anderen Partei, einem anderen Direktkandidaten zuzuteilen. Für die übrigen vier Jahre ist der Souverän erstmal raus – so zumindest die Verfassungswirklichkeit.

Besonders prägnant brachte dies die damalige Außenministerin Annalena Baerbock zum Ausdruck, als sie sich zu ihrer Bereitschaft der Unterstützung der Ukraine – so lange, wie es nötig sei – äußerte und mit dem Halbsatz ergänzte: „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Legal, aber demokratietheoretisch sehr fragwürdig, wenn nicht gar unverschämt – wird der Wähler, der zugleich Steuerzahler ist und alle politischen Entscheidungen mit seinen Steuern finanzieren muss, doch zur Melkkuh degradiert. Die Steuergelder, die der Souverän zahlt, werden der Regierung zum guten Regieren mithin zum Wohle des Gemeinwohls treuhänderisch anvertraut. Nutzt die Regierung das anvertraute Geld ohne Rücksichtnahme auf den Willen des Steuerzahlers/Souveräns – beispielsweise ausgedrückt durch Umfragen –, so wird der Boden zur Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden bereitet. Der sogenannte „empirische Volkswille“ verliert zunehmend an Bedeutung, während der „hypothetische Volkswille“ die Oberhand gewinnt.

Empirischer Volkswille versus hypothetischer Volkswille

Was unterscheidet beide Formen des Volkswillens? Der „empirische Volkswille“ ist der Volkswille, der durch Umfragen und andere Formen öffentlicher Meinungsfeststellungen zur Grundlage politischer Entscheidungen in einer repräsentativen Demokratie gemacht wird. Tatsächlich leidet das Konzept des „empirischen Volkswillens“ daran, dass es kaum einen messbaren einheitlichen Volkswillen gibt, zumal in einer stark ausdifferenzierten postmaterialistischen Gesellschaft. Bis auf wenige Themen, wie vielleicht der Friedensfrage, geht es um Mehrheits- und Minderheitenmeinungen. Politische Parteien und deren Vertreter, die sich stärker als andere dem „empirischen Volkswillen“ sowie auch sprachlich dem Volke annähern, werden häufig abwertend als Populisten bezeichnet. Der Begriff „Populismus“ selbst wird gerne von den Vertretern des „hypothetischen Volkswillens“ verwendet, um die „Populisten“ zu diffamieren. Dabei merken sie gar nicht, dass sie sich genau dann selbst elitär und abgehoben verhalten. Jedenfalls ist die fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden im Konzept des „empirischen Volkswillens“ im Vergleich zum „hypothetischen Volkswillen“ höher. Denn der „hypothetische Volkswille“ bedeutet, dass die gewählten Abgeordneten und die indirekt gewählte Regierung schon wissen, was das Beste fürs Volk ist, selbst dann, wenn die öffentliche Meinung eine ganz andere Meinung ist. Die oben zitierte Aussage von Annalena Baerbock ist daher ein Glanzstück eines politisch-demokratischen Verständnisses im Sinne des „hypothetischen Volkswillens“. Die ohnehin fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden tendiert gegen null.

Verfassungsrealität versus Verfassungstheorie

Das Grundgesetz selbst ist durchaus offener, was die Frage zur politischen Partizipation des wählenden Staatsbürgers, des Souveräns angeht. So erhebt Artikel 20 Abs. (2) zunächst den Staatsbürger zum Souverän: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Im nachfolgenden Satz heißt es: „Sie [Die Staatsgewalt, A. Neu] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Hier sind die beiden Begriffe „Wahlen“ und „Abstimmungen“ interessant. Mit „Wahlen“ sind unzweifelhaft die Bundestagswahlen gemeint. Was aber ist mit „Abstimmung“ gemeint? Ist damit eine direkte politische Entscheidung des Souveräns, also Volksentscheide gemeint? Ja, genau das ist damit gemeint. Ergänzt wird diese Annahme durch einen weiteren Verfassungsartikel, nämlich Artikel 21 GG: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Mitwirkung bedeutet eben kein Wirkungsmonopol der Parteien. Somit wird auch hier die Möglichkeit von Volksentscheidungen implizit eröffnet. Und in Artikel 29 („Neugliederung des Bundesgebietes“) wird der Begriff des „Volksentscheids“ explizit sowie Art. 146 („Geltungsdauer des Grundgesetzes“) implizit verwendet. Kurzum: Das Grundgesetz selbst eröffnet die Möglichkeit von Volksentscheiden – zumindest in den beiden Fällen (Art. 29 und 146), aber auch durch die offene Formulierung der Artikel 20 („Abstimmung“) und 21 (Mitwirkung). Dass die Verfassungsrealität sich auf eine Parteiendemokratie/Parteienstaat hin verengt, bedeutet hingegen nicht, dass die Verfassungstheorie nicht auch andere Optionen beinhaltet.

Volksentscheide als Korrektive?

Die repräsentative Demokratie ist in einem modernen Staatsgebilde angesichts der Komplexität zu klärender Fragen und Regularien (Gesetze) und deren Menge sicherlich die geeignetere Form der Demokratie. Die direkte Demokratie mag in den antiken Stadtstaaten Athen und Sparta funktioniert haben, deren Regelungskomplexität und -menge überschaubar gewesen sein mag. In modernen Staaten hingegen ist es nicht praktikabel. Aber die rein repräsentative Form der Demokratie stößt eben selbst auch an ihre Grenzen, nämlich dann, wenn Zweifel an der Demokratie laut werden, weil das Konzept des hypothetischen Volkswillens die fiktive Identität zwischen Regierenden und Regierten ad absurdum führt.

Wenn politische Entscheidungen gewählter Volksvertreter in Qualität und Quantität an den Interessen eines Staatsvolkes (scheinbar) vorbeigehen oder sich gar in einen Widerspruch begeben; wenn der Staat von den Parteien zu ihrem Staat, zum reinen Parteienstaat degradiert wird und sich Parteien am Staat bedienen; wenn beispielsweise sogenannte NGOs mit Steuergeldern des Souveräns finanziert/alimentiert werden, um als sogenannte „Zivilgesellschaft“ einen engen Diskursrahmen unter Nutzung einer scheinbar moralisch fundierten „Political Correctness“ zu schaffen; wenn Bürger/Steuer- und GEZ-Zahler mit ihrem eigenen Geld durch betreutes Denken zu Konformismus statt zu kritischen Staatsbürgern erzogen werden sollen; wenn die politische Klasse also nicht nur zu wissen glaubt, was gut und richtig fürs Volk ist („hypothetischer Volkswille“), und sich daher über den „empirischen Volkswillen“ hinwegsetzt, sondern vielmehr noch den „empirischen Volkswillen“ selbst von oben zu formieren versucht; wenn Kritik an der Regierung bereits als Kritik am Staat diffamiert wird, wenn also die politische Klasse sich selbst als Staat denn als Volksvertreter versteht, dann ist das Erfordernis von Korrekturen naheliegend.

Volksentscheide sind eine interessante Form, den in eine Vertrauenskrise fahrenden Willensbildungsprozess der reinen repräsentativen Demokratie zu beleben. Volksentscheide sollen und können nicht die repräsentative Demokratie aus den oben genannten Gründen ersetzen. Sie sollen aber potenzielle Fehlentscheidungen der repräsentativen Demokratie korrigieren können. Sie sollen auch die Abgeordneten des Parlaments unter Druck setzen, Entscheidungen zu treffen, die den Interessen der Bevölkerung dienlich sind und nicht den Interessen möglicherweise ideologiegetriebener politischer Eliten. Sie sollen den formal politisch mündigen Bürger tatsächlich befähigen, politisch mündig zu sein, statt ihn auf den Status des Wählers faktisch zu reduzieren.

Auch die Außen- und Sicherheitspolitik muss demokratisiert werden: Wichtige Fragen wie Rüstungsexporte, Bündnisoptionen oder die Entscheidung von Krieg und Frieden sollten nicht einer politischen Elite allein überlassen werden. Denn die Rechnungen für falsche Entscheidungen der politischen Elite zahlen diese am wenigsten und die Bürger im Zweifel am meisten. Wenn der neue Bundeskanzler die Bundeswehr zur „stärksten konventionellen Armee Europas“ machen will, wie verkündet, so darf eine solche sicherheits- und finanzpolitische Entscheidung nicht allein den gewählten Abgeordneten und schon gar nicht einer mittelbar gewählten Bundesregierung überlassen werden. Fragen des sicherheitspolitischen Mehrwertes oder gar die Gefahren des Rüstungswettlaufs, der Eskalation, der enormen finanziellen Kosten sowie die Einsparungen an anderen Stellen gehören gesellschaftlich debattiert und durch einen Volksentscheid geklärt und nicht par ordre de mufti entschieden.

Und die Argumente gegen direktdemokratische Partizipation, ja ich kenne sie, und sie überzeugen mich nicht. Sie sind teilweise sehr konstruiert, ja bisweilen einfach wahrheitswidrig. Beispielsweise der Verweis auf die Todesstrafe, die dann wahrscheinlich wieder eingeführt würde, obschon sie den europäischen Werten widerspreche. Oder der Verweis auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der damit einhergehenden Einführung ihrer Diktatur. Nicht minder der Verweis auf die mangelnde Kompetenz der Gesellschaft, schwierige Themen adäquat zu beurteilen.

Meine Replik auf derartige Nebelkerzen:

  1. Die Todesstrafe ist explizit grundgesetzlich verboten (Artikel 102 Grundgesetz). Und Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verweisen im weiteren Sinne auf ein Verbot der Todesstrafe angesichts der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie das Recht auf Leben. Artikel 1 unterliegt sogar der Ewigkeitsklausel, darf also nicht angetastet werden. Somit wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe nach dem Grundgesetz gar nicht möglich. Und selbstverständlich könnten Ergebnisse von Volksentscheiden ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht auf Prüfung ihrer Verfassungskonformität hin vorgelegt werden.
  2. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Tatsächlich hat die NSDAP die Macht in Deutschland nicht per Volksentscheid, sondern durch demokratische Wahlen – also repräsentativ – errungen. Und der Schritt zur endgültigen Diktatur wurde auch im Deutschen Reichstag mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz entschieden. Der Reichstag hat sich mit entsprechender Mehrheit selbst entmündigt. Die SPD-Fraktion stimmte als einzige Fraktion dagegen, die Abgeordneten der KPD wurden zuvor bereits verhaftet oder befanden sich auf der Flucht vor ihrer Verfolgung. Beide Schritte, die Machtergreifung der NSDAP wie auch der nachfolgende Schritt zur Diktatur, verliefen im Rahmen der repräsentativen Demokratie und eben nicht direktdemokratisch. Und dennoch spricht niemand davon, angesichts der NS-Machtergreifung via Reichstagswahlen und Abstimmung im Reichstag die repräsentativ-parlamentarische Demokratie abzuschaffen.
  3. Tatsächlich sind viele politische Fragestellungen hoch komplex und zeitraubend in der Beantwortung. Und nicht jede politische Problematik bzw. Frage sollte direktdemokratisch geklärt werden, weil dies unrealistisch wäre. Fragen von wirklich nationaler Bedeutung, von hoher Relevanz, von Systemrelevanz (beispielsweise, wer alles in die Rentenkasse einzahlen sollte) für die Gesellschaft sollten jedoch vom Souverän direkt entschieden werden können. Dem können und sollten mitunter monatelange moderierte Diskussionen vorausgehen. Und es sei mir etwas Polemik erlaubt: In meiner Zeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag, im Verteidigungsausschuss als Obmann sitzend, habe ich genügend mäßig begabte Kollegen erlebt, die definitiv nicht in der Lage waren, die Komplexität des jeweiligen Themas wirklich zu erfassen. Sie folgten blind der Vorgabe ihrer Sprecher und der Fraktionsvorsitzenden – reduzierten sich also auf die Mehrheitsbeschaffung.

Aber warum wird so vehement gegen das partizipative Instrument des Volksentscheids nahezu parteiübergreifend Stimmung gemacht? Die Antwort ist so einfach wie banal: Die politische Klasse – formiert in diverse Parteien – hat keinerlei Interesse, ihre Macht mit dem eigentlichen Souverän zu teilen, weder hinsichtlich der politischen Themen und Inhalte noch organisatorisch.

Titelbild: Shutterstock / Rafael de Gracia

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!