Von der Illusion technischer Sicherheit – Warum Überwachung nicht hält, was sie verspricht

Von der Illusion technischer Sicherheit – Warum Überwachung nicht hält, was sie verspricht

Von der Illusion technischer Sicherheit – Warum Überwachung nicht hält, was sie verspricht

Detlef Koch
Ein Artikel von Detlef Koch

In politischen Debatten über innere Sicherheit in Deutschland dominiert die Vorstellung, mehr staatliche Überwachung schaffe automatisch mehr Sicherheit. Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner oder biometrische Gesichtserkennung werden als probate Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung präsentiert – unabhängig davon, ob ihre Wirksamkeit tatsächlich belegt ist. Selten wird gefragt, ob Überwachung ihre selbstgesetzten Ziele überhaupt erreicht. Noch seltener wird der Blick auf die psychologischen Nebenwirkungen gelenkt – oder auf jene Ursachen gesellschaftlicher Unsicherheit, die tiefer liegen: soziale Ungleichheit, Ausgrenzung und der Verlust sozialer Teilhabe. Von Detlef Koch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Was sagen die Zahlen? – Überwachung und ihre begrenzte Wirkung

Die bislang umfassendste wissenschaftliche Erhebung zur Überwachungspraxis in Deutschland, die vom Max-Planck-Institut entwickelte Überwachungsgesamtrechnung 2025, zeigt: Die flächendeckende Ausweitung staatlicher Überwachungsbefugnisse führte nicht zu nachweisbar höheren Aufklärungsquoten. Im Gegenteil, es existiert ein strukturelles Missverhältnis zwischen dem Umfang der Überwachung und ihrem empirisch belegbaren Nutzen[1].

Besonders die Evaluation polizeilicher Videobeobachtung in Nordrhein-Westfalen belegt eindrücklich: In sieben von acht überwachten Innenstadtzonen blieb die Kriminalitätsrate konstant oder stieg sogar leicht an. Einen Generalverdacht gegen unsere Bürger konnten wir verzeichnen – ein generalisierter Rückgang krimineller Aktivitäten ließ sich nicht beobachten[2]. Ebenso zeigte eine Studie zur Vorratsdatenspeicherung, dass deren Abschaffung 2010 in Deutschland keine messbare Verschlechterung bei der Aufklärung schwerer Straftaten zur Folge hatte[3]. Auch die vielfach propagierte Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen scheiterte im Pilotprojekt „Südkreuz“ an zu vielen Fehlalarmen: Hochgerechnet auf die Realität bedeutete dies mehrere hundert Falschmeldungen pro Tag[4] und damit eine Abwertung unserer Bürger als potentielle Kriminelle.

Der präventive oder aufklärende Nutzen von Überwachungstechnologie bleibt marginal – ihr praktischer Effekt auf die öffentliche Sicherheit ist gering.

Was bewirkt das Gefühl, überwacht zu werden?

Staatliche Beobachtung hat nicht nur technische, sondern auch psychologische und politische Dimensionen. Die repräsentative Umfrage der Verbraucherzentrale NRW aus dem Jahr 2017 ergab, dass 68 Prozent der Menschen einen Supermarkt meiden würden, wenn dort Gesichtserkennung zum Einsatz kommt[5]. Diese Form des „Chilling Effect“ – also der selbstverordneten Zurückhaltung aus Angst vor Überwachung – findet sich auch in anderen Lebensbereichen wieder: Nach den Enthüllungen Edward Snowdens änderten laut Sicherheitsreport 2020 nur wenige ihr Verhalten im Internet, doch Studien zeigen einen deutlichen Rückzug aus öffentlichen Debatten, insbesondere bei sensiblen Themen[6].

Eine weltweite Umfrage von Amnesty International aus dem Jahr 2015 verdeutlicht darüber hinaus das tiefgreifende Misstrauen gegenüber staatlicher Massenüberwachung: In Deutschland lehnten 69 Prozent der Befragten die Überwachung ihrer Online- und Telefonkommunikation ab, 81 Prozent äußerten dieselbe Ablehnung gegenüber US-Behörden[7]. Der Verlust von Vertrauen und die Erosion von Privatsphäre untergraben langfristig all die demokratischen Prozesse, die unsere Politiker ständig vorgeben, beschützen zu wollen. Das Ergebnis – sinkende Beteiligung, schwindende Meinungsfreiheit oder Polarisierung.

Sicherheit ohne Gerechtigkeit? – Soziale Ungleichheit als Kriminalitätsfaktor

Demgegenüber ist der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Kriminalitätsraten vielfach empirisch belegt. Eine Studie des Jahres 2025 fasst über vierzig einschlägige Untersuchungen zusammen: In Gesellschaften mit großen Einkommensdisparitäten treten signifikant häufiger Gewaltverbrechen auf – insbesondere Tötungsdelikte, Raub und schwere Körperverletzung[8].

Der Gini-Koeffizient, der Einkommensungleichheit misst, korreliert demnach klar mit der Mordrate. Laut UNODC steigt diese mit jedem Punkt Anstieg im Gini-Index um 6,6 Prozent[9]. Auch innerstaatliche Analysen – etwa auf Bundesstaatenebene in den USA – zeigen, dass in Regionen mit hoher Ungleichheit auch bei Kontrolle anderer Faktoren wie Armut oder Urbanisierung deutlich mehr Gewaltverbrechen registriert werden[10]. Die Zahlen lassen sich zwar nicht 1:1 auf Deutschland übertragen, die Wirkmechanismen allerdings schon.

Theoretische Modelle wie die Theorie der relativen Deprivation erklären diesen Effekt: Wer sich im Vergleich zu anderen dauerhaft benachteiligt sieht, neigt eher zu Frustration, Aggression oder kompensatorischem Verhalten[11]. Besonders in Stadtteilen mit schlechter sozialer Infrastruktur, hoher Arbeitslosigkeit und mangelnden Aufstiegschancen gedeihen Kriminalität und Misstrauen – während technische Überwachung dort lediglich Symptome erfasst, nicht aber Ursachen behebt.

Fazit: Warum Überwachung kein Ersatz für Sozialpolitik ist

Der Sicherheitsreport 2020 zeigt: Die Sorge der Bevölkerung gilt nicht primär der Überwachung – sondern dem gesellschaftlichen Auseinanderdriften. 67 Prozent der Befragten nannten die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich als ernstes Problem. Dagegen machten sich nur 28 Prozent große Sorgen wegen staatlicher Überwachung[12].

Das Problem liegt also nicht im Mangel an Kontrolle, sondern im Mangel an Gerechtigkeit. Während Überwachung kurzfristige politische Handlungsfähigkeit demonstriert, bleibt sie langfristig wirkungslos – ja, volkswirtschaftlich kontraproduktiv und sozialpsychologisch gefährlich. Denn sie adressiert nicht die Ursachen von Unsicherheit, sondern verschiebt sie in den Bereich technischer Kontrolle. Doch Sicherheit ohne soziale Teilhabe bleibt ein Trugbild.

Der Rechtsstaat, der Freiheit garantieren will, muss auf Prävention durch soziale Gerechtigkeit setzen – nicht auf technische Machbarkeit. Nur so lässt sich Vertrauen in eine offene Gesellschaft bewahren – oder müssen wir schon sagen, zurückgewinnen?

Titelbild: Fuad_Naser_Bondhon / Shutterstock


[«1] Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht: Überwachungsgesamtrechnung für Deutschland – Pilotstudie 2025, Band 1: Projektbericht, Freiburg 2025.

[«2] Glaubitz, Christoffer u. a.: Evaluation der polizeilichen Videobeobachtung in NRW gem. § 15a PolG, KFN-Forschungsbericht Nr. 143, Hannover 2018.

[«3] Albrecht, Hans-Jörg u. a.: Schutzlücken nach dem Wegfall der Vorratsdatenspeicherung, MPI Freiburg im Auftrag des BMJ, 2011/12.

[«4] Verbraucherzentrale NRW: Marktwächter Digitale Welt – Gesichtserkennung im Einzelhandel, Düsseldorf 2017.

[«5] Institut für Demoskopie Allensbach: Sicherheitsreport 2020, im Auftrag des Centrums für Strategie und Höhere Führung.

[«6] Institut für Demoskopie Allensbach: Sicherheitsreport 2020, ebenda.

[«7] Amnesty International: Globaler Widerstand gegen Massenüberwachung, Pressemitteilung vom 18. März 2015. 8 Soziale Ungleichheit und Kriminalität: Empirische Befunde seit 2000, Forschungsüberblick 2025.

[«9] Soziale Ungleichheit und Kriminalität: Empirische Befunde seit 2000, Forschungsüberblick 2025.

[«10] United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC): Global Study on Homicide, Wien 2019.

[«11] WHO-Studie zur Gewaltverteilung in US-Bundesstaaten, zitiert nach: pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/violence-study

[«12] Institut für Demoskopie Allensbach: Sicherheitsreport 2020, ebenda.