Scholz–Scheuer & Co. Ex-Verkehrsminister wegen sogenannter Erinnerungslücken angeklagt

Scholz–Scheuer & Co. Ex-Verkehrsminister wegen sogenannter Erinnerungslücken angeklagt

Scholz–Scheuer & Co. Ex-Verkehrsminister wegen sogenannter Erinnerungslücken angeklagt

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Die Berliner Staatsanwaltschaft nimmt Andreas Scheuer wegen möglicher Lügen im Maut-Untersuchungsausschuss ins Visier. Das ist gut so, passiert aber reichlich spät und erhellt nur einen winzigen Ausschnitt seines politischen Sündenregisters. Dass der CSU-Mann verurteilt wird und hinter Gittern landet, erscheint leider abwegig. Andernfalls müssten einige mehr prominente Fälle von Gedächtnisverlust im Amt justiziabel werden. Wie hieß noch der alte Bundeskanzler, fragt sich Ralf Wurzbacher.

Andreas Scheuer kann sich nicht erinnern. Also nicht an alles. Von dem Schlamassel mit der „Ausländermaut“, den er angerichtet hat, von dem weiß der Ex-Bundesverkehrsminister schon noch. „Dafür habe ich die politische Verantwortung – auch für andere – bereits übernommen“, sagte er am Mittwoch der Bild. Nun ja! Wenn „politische Verantwortung“ so viel, wenig oder gar nichts bedeutet wie „Schwamm drüber“ und „vergesst es einfach“, dann mag das sogar stimmen. Aber darum geht es jetzt nicht. Woran sich der frühere CSU-Spitzenpolitiker nicht entsinnen kann, sind Details der Begleitumstände, unter welchen das Projekt Pkw-Maut seinerzeit angebahnt wurde, und weswegen er jetzt, etliche Jahre später, durch die Berliner Staatsanwaltschaft angeklagt wurde.

Konkret stellt sich die Frage, ob es da diese Offerte seitens des Betreiberkonsortiums gab, mit der Unterzeichnung der Verträge zuzuwarten, bis höchstrichterlich in der Angelegenheit entschieden ist. Zur Erinnerung: Im Juni 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) ziemlich erwartungsgemäß den „diskriminierenden“ deutschen Sonderweg als rechtswidrig verworfen, mit dem ausländische Fahrer abkassiert und einheimische durch Senkung der Kfz-Steuer verschont werden sollten. Nur Stunden später annullierte das Verkehrsressort aus ordnungspolitischen Gründen und wegen vermeintlicher „Schlechtleistungen“ die Kontrakte, die ein halbes Jahr davor in einer Nacht-und-Nebel-Aktion hinter dem Rücken des Bundestages besiegelt und dann von einem ahnungslosen Parlament durchgewunken wurden.

Kaffeeklatsch beim „Andi“

Der Spiegel hatte Monate später enthüllt, der Niederbayer habe sich mit Managern der Firmen Kapsch und Eventim im Oktober 2018 in dessen Ministerium zum Frühstück getroffen, und über das Stelldichein aus einem Gedächtnisprotokoll zitiert. Eventim-Vorstandsboss Klaus-Peter Schulenberg soll demnach angeregt haben, „mit einer Vertragsunterzeichnung bis zu einer Entscheidung des EuGH zu warten“. Scheuer habe das abgelehnt und stattdessen ein Gegenangebot gemacht, um den Preis zu drücken und zügig zu einem Geschäftsabschluss zu kommen. Zu diesem Vorgang wurden er und sein damaliger Staatssekretär Gerhard Schulz (parteilos) wiederholt vor dem Anfang 2020 zur Aufklärung der Affäre eingesetzten parlamentarischen Untersuchungsausschuss befragt. Und jedes Mal beharrten beide darauf, sich partout nicht an die Sache erinnern zu können.

Die Staatsanwaltschaft Berlin nimmt ihnen das nicht ab und hat gegen beide Anklage „wegen des Verdachts der Falschaussage“ erhoben. Laut einer Bekanntmachung vom Mittwoch soll der Schritt „aufgrund der sich aus dem Verfahrensgegenstand und der Position der Angeschuldigten ergebenden besonderen Bedeutung der Sache“ erfolgt sein. Bei erwiesener uneidlicher Falschaussage drohe eine „Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren“. Scheuer und Schulz sollen, heißt es weiter, im U-Ausschuss „entgegen ihrer tatsächlichen Erinnerung angegeben haben, sich an ein solches Verschiebungsangebot nicht erinnern zu können“.

Zu fragen ist allerdings, wie das zu beweisen wäre und warum und was die Ermittler geschlagene drei Jahre ermittelt haben. Denn schon im April 2022 haben sie losgelegt und schon vor 15 Monaten war von einer unmittelbar bevorstehenden Entscheidung die Rede. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Können Psychologen plötzlich nachweisen, dass Scheuer an eingebildeter Demenz leidet, oder ist doch noch ein Tagebuch von ihm aufgetaucht, in welchem zu besagtem Termin vermerkt ist: „Kaffeeklatsch mit Mautkumpels. Wollen das Ding auf Eis legen. Daumen nach unten!“ Abwarten.

Siegeszug der Unehrlichkeit

Über Scheuers Verteidigungsstrategie besteht hingegen Klarheit. Wie sein Rechtsanwalt Daniel Krause der Presse sagte, habe sein Mandant eine „wahrheitsgemäße Aussage zu seiner tatsächlich nicht vorhandenen Erinnerung gemacht“. Und „wer keine Erinnerung an einen Vorgang hat, muss und kann sich nur so äußern. Jede andere Äußerung wäre unrichtig.“ Logo. Aussetzer im Oberstübchen können dem Grundehrlichsten passieren. Und ergo könnte sich alles durchaus so zugetragen haben, wie die verhinderten Betreiber es darstellen, und Scheuer nur ein unwissender Lügner sein – der Arme. Muss aber auch nicht so sein.

Das Magazin Multipolar hat jüngst einen lesenswerten Beitrag unter dem Titel „Auf Autopilot“ publiziert und die Frage aufgeworfen, „welches Ausmaß an Unehrlichkeit ist die Gesellschaft bereit zu akzeptieren? Wie viel Falschheit wird schweigend mitgetragen?“ Erst bei 9/11, den sogenannten Terroranschlägen gegen die USA, „später dann, noch viel massiver, bei Corona“, sei Unehrlichkeit zum „Grundrauschen der Politik“ geworden, „das die Dauerdepression unterfüttert und positive Zukunftsvisionen lächerlich erscheinen lässt“ und „kollektive Ohnmachtsgefühle“ befördere, konstatiert Autor Paul Schreyer.

In Deutschland manifestiert und verhärtet sich diese gravierende Zäsur in der Wahrnehmung des Politischen in „Erinnerungslücken“ hochgestellter Amtsträger, die ganz offensichtliche und schwerwiegende Verfehlungen einfach damit abstreiten, von diesem und jenem einfach keine Kenntnis mehr zu haben. Da wären vorneweg Olaf Scholz (SPD) und seine Zusammenkünfte mit dem Hamburger Banker Christian Olearius, der um die Rückforderung seiner mit Cum-Ex-Machenschaften ergaunerten Beute herumkam: Von den Treffen wusste der Ex-Kanzler zunächst gar nichts, später dann nichts mehr über das, was hierbei besprochen wurde. Und Scholz kommt damit durch. Dabei ist es ihm offenkundig völlig egal, dass in der Bevölkerung eine Mehrheit der Ansicht sein dürfte, „der hat Dreck am Stecken“. Er tut einfach so, als wäre nichts gewesen, weil, es wurde ja nichts bewiesen – vor Gericht. Nur wird dort Politik nicht verhandelt, sondern in der Öffentlichkeit, und dafür braucht es eigentlich vor allem eines: Glaubwürdigkeit.

Abgrund von Ignoranz und Rechtsbruch“

Scheuer trieb und treibt das scham- und würdelose Treiben noch auf die Spitze. Die damalige Opposition aus Grünen, Linkspartei und FDP hielt in ihrem Sondervotum zum U-Ausschuss fest. „Nach der Vernehmung von 72 Zeugen und Sachverständigen in 24 Beweisaufnahmen bleibt man fassungslos zurück und blickt in einen politischen Abgrund von Ignoranz, Verantwortungslosigkeit, Bedenkenlosigkeit und Rechtsbruch – verbunden mit einem Erschrecken über mangelhaftes Regierungshandwerk.“ Er habe den „größtmöglichen Schaden für die Bundesrepublik in Kauf“ genommen, und bayerische Parteiinteressen „höher gewichtet als das Gemeinwohl“ und „dabei war die Grenze zwischen Vorsatz und grober Fahrlässigkeit fließend“.

Aber trotz erdrückender Beweislast gab es für ihn, im Sommer 2021, einen „Freispruch“ mit kleinen Schrammen und rückblickend grünes Licht für ein Vorgehen, das, wenn auch risikobehaftet, „vertretbar“ gewesen sei. 2023 bekam die BRD beziehungsweise der Steuerzahler die Quittung aufgetischt: 243 Millionen Euro Schadenersatz fürs „Risiko“, obendrauf noch die Kosten eines jahrelangen Rechtsstreits, der mindestens 50 Millionen Euro verschlungen hat. Für nichts und wieder nichts blättert der Staat 300 Millionen Euro hin, weil ein sogenannter Staatsdiener sein Ego nicht im Zaum halten konnte. Oder: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) orderte 4,6 Milliarden Corona-Impfstoffdosen für 71 Milliarden Euro, wovon der Großteil nicht einmal produziert, aber bezahlt werden muss. Und löschte später den Mailverkehr mit Pfizer-Boss Albert Bourla zu dem windigen Deal. Um dann auch noch wiedergewählt zu werden an die EU-Spitze. War was gewesen?

Generalamnesie

Was macht so viel Verkommenheit mit und aus der Demokratie, aus der politischen Kultur im Land? Die Sorge befiel sogar ganz kurz einmal das politische Berlin, als eine Debatte aufflackerte, ob Politiker nicht für die Schäden, die sie verursachen, in Haftung genommen werden müssten. Aber dann entschied die Ampelregierung, von einer Regressklage gegen Scheuer abzusehen, und das Thema war ruckzuck vom Tisch beziehungsweise fiel der Vergessenheit anheim. Vergessen auch, dass der Komplex „Ausländermaut“ ein riesiges Komplott war und die Frage, ob Scheuer nun gelogen hat oder nicht, nur eine Petitesse ist.

Wie hier von den NachDenkSeiten beschrieben, war das Projekt eine Auftragsarbeit neoliberaler Profitjäger, die perspektivisch eine allgemeine, sprich eine Maut für alle, durchsetzen wollten. Und dafür brachen Scheuers Mannen alle Regeln: Man mauschelte beim Vergabeverfahren (Staat muss draußen bleiben), trickste bei der Kostenkalkulation, führte den Bundestag hinters Licht und pfiff zu schlechter Letzt auch noch auf Rechtssicherheit. Läuft es schief, zahlt der Steuerzahler, was soll`s. Das alles hätte gereicht, Scheuer zehnmal vor die Tür zu setzen. Aber er klebte wacker weiter auf seinem Sessel und war sich nicht für noch viel mehr Skandale zu schade – einmal mehr, alle zum Vergessen.

Ganz verheerend: Das Phänomen, für politisches Fehlverhalten nicht mehr geradestehen, keine persönliche Verantwortung mehr übernehmen zu wollen oder zu müssen, greift endemisch um sich. Längst vergessen die Zeiten, als Politiker von sich aus ihr Amt zur Verfügung stellten, um dasselbe zu schützen. Tritt heute überhaupt noch einer ab, was kaum noch geschieht, dann, weil er dazu „getreten“ wurde. Und dann sieht es der Geschasste auch nicht ein, weil das Maß für „richtig“ und „falsch“ nachhaltig verloren gegangen oder eben vergessen worden ist. Es wirkt so, als hätte die politische Klasse eine Generalamnesie erfasst, woraus sie eine Art von Generalamnestie ableitet. Motto: Wir erlauben uns alles, uns kann keiner was, unser Gewissen schon gar nicht.

Spendier mir was …

Apropos: „Andi“ Scheuer hat sein Bundestagsmandat vor mehr als einem Jahr aus freien Stücken niedergelegt. Im Vorfeld gründete er zwei Firmen und schon seit Herbst 2023 fungiert er als beratendes Mitglied, sprich Lobbyist, im Fachbeirat des Automobillogistikers Mosolf. Ende Januar berichtete der Spiegel (hinter Bezahlschranke) über eine „geheime Spenderliste“ mit Namen von Unternehmen, die Scheuers Kampagne im Bundestagswahlkampf 2021 mit „mindestens 132.000 Euro“ unterstützt hatten und sich im Gegenzug etwas von dem Bedachten wünschten. Eines bat „um politische Flankierung für eine größere Investition in Bayern“. Der Name des Gönners: Mosolf.

Wer bei all dem noch auf die fixe Idee kommen sollte, bei den etablierten Parteien sein Kreuzchen zu machen: Vergessen Sie’s einfach!

Titelbild: Grok – Das Titelfoto ist ein mit künstlicher Intelligenz erstelltes Symbolbild

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