Die erschöpfte Gesellschaft

Die erschöpfte Gesellschaft

Die erschöpfte Gesellschaft

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Fühlen Sie sich bisweilen erschöpft, überfordert und ausgelaugt? Dann liegen Sie damit im Trend, meint unser Autor Udo Brandes. Er hat sich Gedanken darüber gemacht, was die Ursache für die gesellschaftliche Erschöpfung ist.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das Rheingold Institut in Köln betreibt tiefenpsychologische Marktforschung und bietet seinen Kunden „unverfälschte Einblicke“ in die seelischen Zusammenhänge von Konsumenten. Mit anderen Worten: Dort wird Deutschland regelmäßig tiefenpsychologisch durchleuchtet. Schon für das Jahr 2013 diagnostizierte der Geschäftsführer und Mitbegründer des Rheingold Institutes, der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Stephan Grünwald, dass Deutschland eine erschöpfte Gesellschaft sei. Dementsprechend hieß sein 2013 erschienenes Buch auch „Die erschöpfte Gesellschaft“.

Einige Jahre zuvor, im Jahr 2010, diagnostizierte der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han bereits eine „Müdigkeitsgesellschaft“. Ich wage mal die These: Am Zustand der Erschöpfung unserer Gesellschaft hat sich nichts in Richtung einer Abnahme dieser Erschöpfung geändert, eher nahm die Erschöpfung noch zu. Wohl jeder wird in seinem sozialen Umfeld oder an sich selbst Zustände von Erschöpfung und Resignation beobachtet haben. Dies lässt sich auch statistisch belegen. Der Fehlzeiten-Report 2022 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK stellt fest:

„Zwischen 2012 und 2021 haben sich die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund der Diagnosegruppe Z73 (das ist die Diagnose „Burnout“; UB) je 1.000 AOK-Mitglieder von 92,2 auf 141,8 Tage um mehr als 50 % erhöht. Im Jahr 2021 stiegen die Arbeitsunfähigkeitstage je 1.000 AOK-Mitglieder im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittich 10,1 Tage an. (…) Alters- und geschlechtsbereinigt hochgerechnet auf die mehr als 36 Mio. gesetzlich krankenversicherten Beschäftigten bedeutet dies, dass ca. 194.000 Menschen mit insgesamt 4,8 Mio. Fehltagen im Jahr 2021 wegen eines Burnouts krankgeschrieben wurden“ (S. 346 des Reports)

Und die Burnout-Erkrankten stellen aller Wahrscheinlichkeit nur die Spitze des Eisbergs dar. Viele Menschen bewegen sich am Limit ihrer Leistungsmöglichkeiten. In Krankenhäusern arbeitet ein nicht unbeträchtlicher Teil des ärztlichen und pflegerischen Personals nicht mehr in Vollzeit oder kündigt und wechselt in andere Berufe (siehe dazu den Bericht des NDR-Magazins Panorama), weil sie den Druck nicht mehr aushalten können.

Und nicht ohne Grund ist die seit einigen Jahren mögliche Rente mit 63 (statt bis zum Alter von 67 durchzuarbeiten) sehr beliebt. Allein in meinem sozialen Umfeld kenne ich mehrere Menschen, die früher in Rente gegangen sind, obwohl sie dafür Abschläge in Kauf nehmen mussten. Meine langjährige Hausärztin ist mit 59 Jahren in Rente gegangen. Sie hatte es zwar nicht gesagt, aber ich vermute: Sie und ihr Mann (mit dem sie gemeinsam die Praxis betrieb) hatten die immer mehr bürokratisch verkomplizierte ärztliche Arbeit und die enorme Arbeitsbelastung einfach satt.

Zusammengefasst kann man es meines Erachtens als Fakt betrachten: In unserer Gesellschaft breiten sich Erschöpfung und Niedergeschlagenheit aus. Und jetzt die 1000-Euro-Frage: Woran liegt das?

Was erschöpft die Gesellschaft?

Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han sieht die Ursache dafür unter anderem darin, dass unsere Gesellschaft sich von einer repressiven Disziplinargesellschaft zu einer modernen Leistungsgesellschaft gewandelt habe, in der die Menschen sich selbst antreiben:

„Die systemerhaltende Macht der Disziplinar- und Industriegesellschaft war repressiv. Fabrikarbeiter wurden durch Fabrikeigentümer brutal ausgebeutet. So führte die gewaltsame Fremd-Ausbeutung der Fabrikarbeiter zu Protesten und Widerständen. Möglich war hier eine Revolution, die das herrschende Produktionsverhältnis umstürzen würde. In diesem repressiven System sind sowohl die Unterdrückung als auch die Unterdrücker sichtbar. Es gibt ein konkretes Gegenüber, einen sichtbaren Feind, dem der Widerstand gilt.“ (Han, Byung-Chul: Warum heute keine Revolution möglich ist, sueddeutsche.de, 3. September 2014.

Die heutige Gesellschaft aber sei anders:

„Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den Widerstand möglich wäre. Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmens. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt die Gesellschaft.“

Han sieht also einen wichtigen Grund für die „Müdigkeitsgesellschaft“, wie er seinen berühmten Essay nannte, darin, dass der Neoliberalismus unser Denken verändert hat und wir in uns selbst nach Fehlern oder Defiziten suchen. Das ist einerseits richtig. Dazu gleich weiter unten noch mehr. Aber das „mentale Problem“, dass man sich für seine Lebenskonflikte nun selbst verantwortlich macht, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass im Zuge der Durchsetzung der neoliberalen Ideologie eben auch ganz konkrete politische Entscheidungen durchgesetzt wurden, die die Gesellschaft und das Leben darin erheblich veränderten.

Was jüngere Menschen nicht mehr wissen

Die meisten jüngeren Menschen werden es wahrscheinlich nicht wissen und können es sich vielleicht nicht mal mehr vorstellen, weil sie anderes gewöhnt sind: Die Telekom und die Deutsche Post/DHL waren mal ein einziges staatliches Unternehmen – ein Unternehmen, das von Beamten geführt wurde und ordentlich Gewinn machte. Zur Zeit der staatlichen Post hatte diese wesentlich mehr Mitarbeiter und einen wesentlich besseren Service (So gab es zum Beispiel viel mehr Briefkästen, die später geleert wurden – und die eingeworfenen Briefe wurden im Regelfall trotzdem am Folgetag zugestellt). Die Mitarbeiter hatten gute Arbeitsbedingungen und Löhne. Das Management bestand aus Beamten im Postministerium mit normalen Beamtengehältern. Manager mit Millionengehältern und Aktionäre, die die Gewinne einstreichen, gab es nicht. Wie sieht es heute aus? Dazu ein Beispiel aus meinem Heimatland Niedersachsen. Der NDR meldete am 29. September Folgendes:

„Das Land Niedersachsen will die Förderung für den Breitbandausbau streichen. Dagegen formiert sich Widerstand: Ein Bündnis aus Landwirtschaft, Sportvereinen, Kommunen und Unternehmen warnt vor den Folgen.“

Der Breitbandausbau durch die privaten Telekommunikationsfirmen kommt seit Jahren nur schleppend voran, obwohl er von der Öffentlichen Hand bezuschusst wurde. Ich bin mir ziemlich sicher: Hätten wir noch eine staatliche, gemeinwohlorientierte Telekommunikation, hätten wir ein wesentlich besseres Netz, das auch wesentlich billiger erstellt worden wäre.

Das gleiche Phänomen findet man in allen Ecken der Gesellschaft, in denen zuvor staatlich oder öffentlich erbrachte Leistungen privatisiert wurden, zum Beispiel beim Autobahnbau (siehe dazu einen Bericht der NachDenkSeiten). Ein weiteres Beispiel ist der Schulbau in Berlin (siehe dazu auf den NachDenkSeiten). Oder die marode Deutsche Bahn, die für den Börsengang „fit“ gemacht werden sollte – was dazu führte, dass mehrere Tausend Kilometer Schienenstrecke in Deutschland stillgelegt wurden und viel Geld im Ausland in angeblich profitable Verkehrsunternehmen investiert wurde. Die Folge: Zugfahren ist heutzutage sehr anstrengend, weil die Deutsche Bahn nicht annähernd so funktioniert, wie sie funktionieren müsste – und wie es durchaus möglich wäre, wenn sie gemeinwohlorientiert geführt würde. Das Gegenbeispiel ist die Schweizer Bahn, die hervorragend funktioniert und eine echte Alternative zum Auto ist. Aber in Deutschland gilt inzwischen: Um pünktlich irgendwo anzukommen, sollte man einen großen zusätzlichen Zeitkorridor einplanen. Oder, letztes Beispiel, die Krankenhäuser, die durch die neoliberale Ökonomisierung und Profitorientierung heruntergewirtschaftet wurden. Worunter alle leiden: Patienten, Pfleger und Ärzte. Nicht wenige Menschen haben deshalb heutzutage Angst davor, sich im Krankenhaus behandeln lassen zu müssen.

„Reform ist, wenn alles immer schlechter wird“

Es ist immer dasselbe: Durch Privatisierungen werden gesellschaftlich notwendige Leistungen, die zuvor von der öffentlichen Hand erbracht wurden, teurer, schlechter und ineffizienter. Und kleine Cliquen (Management und Aktionäre) profitieren. Eine Karikatur aus den Neunzigerjahren in der Frankfurter Rundschau (damals war das noch eine linke Tageszeitung) brachte dies gut auf den Punkt: Man sieht ein Klassenzimmer mit Schülern und der Lehrerin. Diese hat an die Tafel eine Frage geschrieben: „Reform – Was ist das?“ Ein Schüler antwortet: „Reform ist, wenn alles immer schlechter wird.“ Dieser Satz bringt exakt neoliberale Politik auf den Punkt.

Diese Art von „Reformen“ hat Folgen und verändert das alltägliche Leben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich hier mal einige Beispiele für Fehlentwicklungen, die durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte verursacht wurden:

  • Der extreme Mangel an Wohnungen und die damit zusammenhängende Existenzangst für viele Menschen. Dazu gehört auch die extreme Verteuerung am Wohnungsmarkt, die dazu führt, dass selbst für Gutverdiener Wohnungen unbezahlbar werden können.
  • Niedriglöhne (vermutlich eine wesentliche Ursache für den Fachkräftemangel).
  • Angst vor Altersarmut, da das Rentensystem ruiniert wurde, um der Versicherungsindustrie milliardenschwere Profite zuzuschanzen.
  • Krankenhäuser, die mehr schlecht als recht funktionieren und unter Personalmangel leiden.
  • Einen Termin beim Arzt zu bekommen, kann Monate dauern (habe ich nicht nur einmal selbst erlebt).
  • Völlig überforderte Schulen.
  • Die Migrationskrise, die zu einer Forcierung des Wohnungsmangels führt und zu einer erheblichen Überforderung von Kommunen, Schulen und anderen Einrichtungen und Behörden.

Diese Aufzählung erhebt wie gesagt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll nur eines veranschaulichen: dass der normale Alltag für viele Menschen anstrengend, überfordernd und nervenzehrend geworden ist. Und dass eine erschöpfte und frustrierte Gesellschaft nicht nur, aber zu einem erheblichen Teil durch neoliberale Politik verursacht wird. Und dass diese Ideologie parteiübergreifend betrieben wird. Wir haben sozusagen eine neoliberale Querfront von links nach rechts – einer der Gründe, warum Wähler der AfD eines Tages ein böses Erwachen erleben könnten.

Warum gab es keinen Aufstand gegen die neoliberale Politik?

Aber wie war das alles möglich? Warum gab es keinen Aufstand gegen die neoliberale Politik? Neben der vielfältigen politischen und medialen Propagandamaßnahmen (man denke zum Beispiel an die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“) ist Manipulation ein nicht zu unterschätzender Grund dafür, dass die neoliberale Ideologie über den Umweg des Privatlebens in den Köpfen der Menschen verankert werden konnte – mit Selbstoptimierungs-, Erfolgs- und Glücksstrategien. Dadurch fand das entpolitisierte, individualisierende Denken („Jeder ist seines Glückes Schmied“) Einzug in die Köpfe der Menschen.

Dazu gehört auch die Illusion der Kontrolle, die mit Bestsellertiteln wie „Die Entscheidung liegt bei dir“ den Menschen vermittelt wird. Solche Titel suggerieren: „Wenn du dich anstrengst und wenn du die richtige Strategie anwendest, dann kann du alles erreichen und genauso leben, wie du leben willst.“ Diese Illusion ist deshalb so attraktiv, weil sie narzisstische Allmachts- und Grandiositätsphantasien beflügelt und das Selbstwertgefühl steigert – aber auch Menschen regelrecht krank machen kann, wenn sie daran glauben und erleben müssen, dass diese Strategien nicht den gewünschten Erfolg bringen (Siehe dazu das Buch „Positives Denken macht krank?! Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen“ von Günter Scheich).

Wer diese Erfolgs- und Selbstoptimierungsideologien verinnerlicht hat, für den sind die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse etwas Selbstverständliches, sozusagen die natürliche Form des Lebens, und kein von Menschen hergestellter Zustand. Aus dieser Perspektive denkt man nicht mehr in kritischer Weise über gesellschaftliche Zustände und Machtverhältnisse nach, sondern nur noch darüber, was man als Einzelner tun kann oder muss, um sein Glück zu schmieden. Eine der populärsten Strategien dabei ist: Achtsamkeit.

Achtsamkeit – Die Spiritualität des Kapitalismus

Ronald Purser, Professor für Management an der San Francisco State University und selbst ordinierter buddhistischer Lehrer, hat dazu ein aufschlussreiches Buch geschrieben („Wie Achtsamkeit die neue Spiritualität des Kapitalismus wurde“), in dem er mit dem beliebten Trend zur „Achtsamkeit“ als Mittel zum Stressabbau abrechnet. Er vertritt die These, dass Achtsamkeit zu einer banalen Form von Spiritualität im Kapitalismus verkommen sei und dem Neoliberalismus den Weg ebne. Purser beleuchtet in seinem Buch, wie Konzerne, Schulen, Regierungen und das Militär sich Achtsamkeit als Mittel für soziale Kontrolle und Ruhigstellung angeeignet haben, und hinterfragt das dazugehörige Narrativ, nach dem Stress vor allem selbstgeschaffen und eigenständig lösbar sei – und Achtsamkeit ein Allheilmittel dabei.

Was also tun?

Meines Erachtens ist es für eine politische und gesellschaftliche Umkehr notwendig, immer wieder die neoliberale Ideologie hinter den konkreten Politiken zu thematisieren. Ich vermute, auch die AfD würde schnell wieder an Zustimmung verlieren, wenn deren Anhänger sich bewusst würden, dass die AfD eine zutiefst neoliberale Partei ist.

Zweitens müssten die Asozialität und das Antidemokratische an der neoliberalen Ideologie, die bei Weitem nicht nur eine Wirtschaftsideologie ist, immer wieder herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden. Und natürlich müssen die Parteien massiv für ihre neoliberale Politik kritisiert werden. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass man CDU-Politiker damit konfrontiert, dass christliche Werte nicht mit einer asozialen, rein ökonomisch orientierten neoliberalen Politik vereinbar sind – und die Christdemokraten daran erinnert, was einst Jesus laut Bibel sagte: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ (Markus 10,25 und in Matthäus 19,24 und Lukas 18,25).

Literatur zum Thema:

  • Udo Brandes: Wenn die Jagd nach Erfolg das Leben zur Hölle macht, Amazon 2023.
  • Stephan Grünwald, Die erschöpfte Gesellschaft, Campus-Verlag 2013.
  • Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Matthes & Seitz Berlin, 1. Edition, 2010.
  • Ronald E. Purser: Wie Achtsamkeit die neue Spiritualität des Kapitalismus wurde, Mabuse Verlag 2021.
  • Günter Scheich: Positives Denken macht krank?!; Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen, Dr. Scheich-Verlag 2013.

Titelbild: Stokkete/shutterstock.com

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!