Peter Bofinger bringt es auf den Punkt: Marktversagen statt Schuldenkrise.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Bei Spiegel online erschien ein sehr lesenswerter Debattenbeitrag des Sachverständigenratsmitglieds Professor Bofinger mit dem Titel „Der fatale Irrtum der Stabilitätsfanatiker“. Bofinger zeigt in diesem Beitrag, wie falsch und von Ideologie getrieben deutsche Ökonomen von Weber über Stark und Issing bis Sinn die Lage analysieren und wie die Politik bis hoch zum Bundespräsidenten diesen Trampelpfaden „deutscher Ordnungspolitiker“ folgen. Wörtlich: „Die meisten deutschen Ökonomen haben ein unerschütterliches Vertrauen in die “Marktdisziplin”. In einer kollektiven Amnesie wird dabei völlig verdrängt, dass der größte Teil der heutigen Probleme nicht auf eine mangelnde Fiskaldisziplin, sondern vielmehr ein massives Marktversagen zurückzuführen ist.“ Die Mehrheit unserer sich gleichschaltenden Medien kennt nur ein Etikett: „Schuldenkrise“. Albrecht Müller.

Bofinger weist – wie wir schon so oft in den NachDenkSeiten – darauf hin, dass Spanien und Irland mit Schuldenstandsquoten von 42 und 29 Prozent noch bis zum Jahr 2007 als vorbildlich in ihrer Haushaltspolitik gelten konnten. Weiter wörtlich: „Das Problem waren undisziplinierte Finanzmärkte, die ohne jedes Risikobewusstsein die ihnen anvertrauten Gelder in Betonruinen vergruben.“ Bofinger bemerkt dann mit Recht kritisch gegenüber dem damaligen Bundesbankpräsidenten Weber und den beiden Chefökonomen der EZB Issing und Stark, dass die beschriebenen massiven Fehlentwicklungen die zitierten Herren erstaunlicherweise damals nicht dazu veranlasst haben, „ähnlich deutliche Warnungen abzugeben wie bei den Anleihekäufen der EZB“.

Auch aus diesem Grund sei es paradox, „wenn die von den Staaten mit riesigen Beträgen geretteten Finanzmärkte nun zum Hüter der durch sie beeinträchtigten Fiskaldisziplin erhoben werden. Wie wenig sie für die Funktion geeignet sind, kann man schon daran erkennen, dass sie noch bis weit in das Jahr 2008 keinen nennenswerten Risikoaufschlag für griechische Anleihen gefordert hatten. Das Problem der Marktdisziplin besteht einfach darin, dass Märkte in der Regel wenig vorausschauend sind, dann irgendwann durch ein bestimmtes Ereignis plötzlich aufwachen und umso panischer reagieren.“

Und dann zeigt Bofinger, wie gefährlich die so genannte Marktdisziplin für die Währungsunion und die Entwicklung Europas ist, und er zeigt den Teufelskreis auf, in den uns die herrschende Ideologie gebracht hat und immer weiter bringt. Die Orientierung am Marktgeschehen verschärft das Problem.

Bofinger verteidigt die Anleihekäufe der EZB und plädiert für die Absicherung der Staatsschulden über eine gemeinschaftliche Haftung in der Form von Euro-Bonds. Zum Schluss dann noch einmal wörtlich: „Wenn deutsche Politiker und Ökonomen heute die Anleihekäufe der EZB kritisieren, sollten sie sich der Tatsache bewusst sein, dass sie dafür indirekt die Verantwortung tragen. Sie haben die beiden vergangenen Jahre verstreichen lassen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie man Italien im Falle eines Vertrauensverlustes der Märkte wirksam absichern kann. Als einzig handlungsfähiger europäischer Institution bleibt der EZB dann keine andere Wahl.“

Von den Fakten unbeeindruckt und ohne Rücksicht auf das Anheizen der Spekulation geht in Deutschland die öffentliche Debatte weiter. Ein Beispiel von heute früh im gleichen Medium wie Bofingers Beitrag:
15. September 2011, 08:25 Uhr:
„Griechen-Streit. Rösler lässt sich von Merkel den Mund nicht verbieten

Die Kanzlerin fordert in der Griechenland-Krise Ruhe und Geschlossenheit – doch den Gefallen tut ihr die FDP nicht. Wirtschaftsminister Rösler will weiterdiskutieren: So sei das eben in Koalitionen.“

Dieser Mensch Rösler, der sich Bundeswirtschaftsminister nennen darf, hat noch nicht einmal verstanden, dass er in der Verantwortung steht, und die einfachste Regel dieser Verantwortung darin besteht, den Mund zu halten, wenn Äußerungen fatale Wirkungen haben. Es geht ja nicht um „Koalitionen“, verehrter Herr Bundeswirtschaftsminister, sondern um das Anheizen der Spekulation gegen einzelne Länder der Eurozone und damit auch um die weitere wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes.

Die Mehrheit unserer sich gleichschaltenden Medien kennt nur ein Etikett: „Schuldenkrise“

Der kollektive Wahn von der angeblichen Schuldenkrise wäre in Wissenschaft und Politik nicht so weit verbreitet und auch nicht von so verheerender Wirkung, wenn wir noch einigermaßen kritische Medien hätten.

Die Mehrheit der Medien aber ist nicht nur unkritisch, sie schaltet sich aktiv gleich. Das kann man schon seit langem am beflissenen Gebrauch des die Wirklichkeit hinweg manipulierenden Etiketts „Schuldenkrise“ studieren. Jetzt konnte man aktuell an den Berichten über die Mahnungen des amerikanischen Präsidenten Obama gegenüber der Entwicklung und der Politik in Europa studieren, wie das Wort „Schuldenkrise“ zur Falsch-Etikettierung aktiv gebraucht wird, obwohl beim Absender Obama dieses Wort keine zentrale Bedeutung hatte, wenn er es überhaupt gebraucht hat.

Ich habe nach dem Interview Obamas gesucht und dabei das folgende wörtlich gefunden:
Tiroler Tageszeitung vom 13.9.2011

„Machen Sie sich Sorgen, dass die Situation in Europa Folgen für die US-Wirtschaft hat?

Obama: Es gibt keinen Zweifel, dass dies Folgen hat. Wir leben heute in einer integrierten Weltwirtschaft. Das, was jenseits des Atlantiks oder des Pazifiks geschieht, hat gewaltigen Einfluss auf Amerika, auf unseren gesamten Kontinent, nicht nur auf die USA.

Daher versuchen wir intensiv gemeinsam mit den Europäern, diese Krise zu lösen. Letztlich müssen sich die großen Länder in Europa und deren politische Führer zusammenfinden und eine Entscheidung darüber fällen, wie sie die Währungsintegration mit einer effektiveren und abgestimmten Haushaltspolitik zusammenbringen.

Europa hat derzeit zwar eine geeinte Währung, aber es verfügt über keine abgestimmte Wirtschaftspolitik. Und das schafft große Probleme.

Griechenland ist das größte gegenwärtige Problem. Zwar haben die Griechen einige Schritte unternommen, um die Krise aufzuhalten, aber nicht, um sie zu lösen. Das größere Problem aber ist es, was in Spanien und in Italien passiert, falls die Märkte diese beiden großen Märkte herausfordern.

Was wir bilateral und multinational sowie durch den Internationalen Währungsfonds IWF tun, um den Europäern dabei zu helfen, ist ein Paket zu schnüren, das den betroffenen Ländern Zeit zur Anpassung gibt. Aber wenn so viele Länder mit unterschiedlicher Politik und unterschiedlicher ökonomischer Lage versuchen, sich auf einen Weg zu einigen, ist eine Abstimmung schwierig. So lange diese Frage nicht gelöst ist, werden wir weiterhin Schwächen in der Weltwirtschaft sehen. Es wird ein wichtiges Thema beim G-20-Gipfel im November werden.“

Nirgendwo in diesem Text wird das Etikett „Schuldenkrise“ gebraucht. Obama hat das große Problem Europas anders gekennzeichnet.

Aber in den deutschen Medien heißen die Schlagzeilen:

  • US Präsident Obama zur Europäischen Schuldenkrise
  • Obama mahnt: Europa muss Schuldenkrise in den Griff bekommen
  • Kampf gegen Schuldenkrise: Obama mahnt Europa
  • usw.

Gelegentlich taucht noch das Wort „Euro-Krise“ auf und ganz selten wird korrekt berichtet.

Ein rundum desolates Bild einer im Kollektiven Wahn lebenden Nation. Gerne würde ich anderes berichten und anders kommentieren.

P.S: Zwei Nachbemerkungen zu Peter Bofinger:

  1. Gerhard Schröder (immerhin!) wollte ihn Ende April 2004 zum Präsidenten der Deutschen Bundesbank auswählen. Dann stellte sich Hans Eichel, damals Bundesfinanzminister und vermutlich schon unter dem Einfluss von Axel Weber-Schüler Asmussen, quer. Axel Weber wurde Bundesbankpräsident.
  2. Das demnächst erscheinende Kritische Jahrbuch 2011/2012 der NachDenkSeiten „Nachdenken über Deutschland“ ziert ein Vorwort von Peter Bofinger. Das finden wir sehr angemessen und es freut uns sehr.

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