Propaganda und Storytelling: Auf welche Bedrohungen reagieren wir besonders stark?

Propaganda und Storytelling: Auf welche Bedrohungen reagieren wir besonders stark?

Propaganda und Storytelling: Auf welche Bedrohungen reagieren wir besonders stark?

Maike Gosch
Ein Artikel von Maike Gosch

Vor mehr als zehn Jahren habe ich einen Vortrag des US-amerikanischen Neurologen Dan Gilbert über neuropsychologische Aspekte der Kommunikation über den Klimawandel gesehen („Our brain on climate change”, im Rahmen der Reihe „Harvard Thinks Big“) Es lohnt sich, ihn anzusehen, er ist sehr kurzweilig und interessant. Dan Gilbert erkärt darin anhand von neuropsychologischen Erkenntnissen, warum der Klimawandel von den meisten Menschen nicht ernst genug genommen wird und zu wenige Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Ich musste aber in letzter Zeit in einem anderen Zusammenhang an diesen Vortrag denken. Denn das, was er dort in Bezug auf Neuropsychologie erzählt, erklärt auch einiges darüber, wie Kriegspropaganda funktioniert. Von Maike Gosch.

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Mit Kriegspropaganda meine ich einerseits die Propaganda in Zeiten des Krieges, aber auch Kommunikation, um in der Bevölkerung, deren große Mehrheit immer gegen einen Krieg ist, für die Unterstützung des Krieges eines anderen Landes oder einen Kriegseintritt zu motivieren. Ich stelle im Folgenden die grundlegenden Aspekte aus Dan Gilberts Vortrag vor und zeige Parallelen zu Techniken der Kriegspropaganda auf.

Dan Gilbert beginnt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass unser Gehirn sehr gut darin ist, Bedrohungen wahrzunehmen und auf diese zu reagieren. Dies ist aus evolutionsbiologischer Sicht nur natürlich, da es unser Überleben sicherte. Jeder kennt den Effekt, dass unsere Aufmerksamkeit zum Beispiel viel weniger mit den zehn Komplimenten, die wir an einem Abend bekommen haben, beschäftigt ist, als mit einer einzigen persönlichen Kritik. Er erklärt weiter, dass wir nicht auf alle Bedrohungen gleich stark reagieren. Besonders stark reagieren Menschen auf Bedrohungen, die die folgenden vier Eigenschaften haben:

  • Absichtlich (Intentional)
  • Unmoralisch (Immoral)
  • Unmittelbar bevorstehend (Imminent)
  • Augenblicklich, schnell passierend (Instantaneous)

Bedrohungen, die diese vier Eigenschaften haben, aktivieren unser archaisches Alarmsystem besonders stark und lösen zudem deutliche Handlungsimpulse aus. Wie Gilbert in seinem Vortrag weiter ausführt, besitzt der Klimawandel keine dieser Eigenschaften.

1. Absichtlich

Bedrohungen, die absichtlich erfolgen, haben deswegen so eine starke Wirkung auf unsere Psychologie und darauf, wie wir reagieren, da ganze Bereiche unseres Gehirns dafür vorgesehen sind, wahrzunehmen und zu verstehen, wie andere Menschen denken, fühlen, was sie anstreben und in Bezug auf uns vorhaben. Der Mensch war für den Menschen immer schon eine der größten Gefahren für seine Sicherheit und sein Überleben. Deswegen empfinden wir jede Gefahr, die von Menschen ausgeht, als größer und bedrohlicher als zum Beispiel eine, die aus der Natur entsteht. Wenn sie noch dazu absichtlich ist und die Absicht, uns zu schaden, dabei im Vordergrund steht, wirkt sie am stärksten und führt zur deutlichsten Reaktion. Es ist wie eine optische Täuschung des Gehirns. Eine Gefahr für uns, hinter der wir Absicht vermuten, wirkt viel bedrohlicher und gefährlicher als eine, die natürliche Ursachen hat oder unabsichtlich, als Nebeneffekt erfolgt.

Gilbert gibt dafür das Beispiel, dass Menschen mehr Angst vor dem „Underwear-Bomber“ (einem jungen nigerianischen Selbstmordattentäter, der im Jahr 2009 vergeblich versucht hatte, ein US-amerikanisches Passagierflugzeug mit einer Bombe, die in seiner Unterhose versteckt war, zu detonieren) haben, der null Todesopfer verursacht hat, als vor der Grippe, die jährlich ca. 40.000 Todesopfer fordert. Der Vortrag stammt offensichtlich aus der Zeit vor der Corona-Krise und der sie begleitenden Kommunikation, auf die ich in einem zukünftigen Artikel noch einmal ausführlich eingehen werde, denn dort ist es „gelungen“, dass eine Krankheit als ähnlich bedrohlich wahrgenommen wurde wie ein Terroranschlag.

Was wir hieraus mitnehmen können: Diese Tatsache, nämlich dass absichtliche Bedrohungen bei Menschen eine stärkere Angstreaktion auslösen als natürliche oder unabsichtliche Bedrohungen, ist auch Kommunikationsstrategen bekannt. Das heißt, dass immer dann, wenn eine starke Reaktion auf eine Tat hervorgerufen werden soll, die böse Absicht dahinter besonders betont wird und immer dann, wenn eine möglichst geringe Reaktion gewünscht ist, eine mögliche böse menschliche Absicht versteckt oder kaschiert wird.

Aktuelle Beispiele hierzu bekommen wir täglich in unseren Zeitungen, Nachrichten und Äußerungen von Politikerinnen und Politikern geliefert, zum Beispiel im Rahmen des Ukraine-Kriegs oder des Konflikts in Gaza. So werden Berichte über schreckliche Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen je nachdem, welche Seite unsere Medien und Politiker unterstützen, entweder als gewollt, systematisch geplant, perfide eingesetzt geschildert oder als zufällige, ungewollte Folge in der passiven Form beschrieben (ohne Täter zu benennen) oder sogar ganz ohne Verb, als Geschehen oder Naturkatastrophe geschildert.

2. Unmoralisch / moralische Sitten verletzend

Angrenzend an den ersten Punkt gibt es eine zweite Eigenschaft von Bedrohungen, auf die wir besonders stark reagieren. Und das ist, wenn die Bedrohung eine Verletzung von moralischen oder sittlichen Regeln oder Überzeugungen beinhaltet. Besonders stark reagieren wir auf Bedrohungen, die eine sexuelle Konnotation haben oder in denen es um die Verletzung oder Bedrohung von Kindern geht. Dies soll natürlich nicht die Schrecklichkeit von sexuellen Verbrechen, Vergewaltigungen oder Verletzung oder gar Tötung von Kindern in Konflikten kleinreden, es ist aber dennoch interessant, wie stark der Fokus auf z.B. Vergewaltigungsvorwürfe oder den Missbrauch von Kindern gegen geopolitische Gegner in den Medien und in der Kommunikation gelegt wird, da die Kommunikationsstrategen, die diese Meldungen bewusst zu propagandistischen Zwecken einsetzen, genau wissen, wie stark und emotional die Reaktion darauf ausfallen wird (Stichwort: Gräuelpropaganda).

Insbesondere, wenn es darum geht, eine Bevölkerung zu einem Kriegseintritt oder einer sonstigen kriegerischen Einstellung zu motivieren, wird dieser Aspekt gerne benutzt. Die emotionale Reaktion verstärkt einerseits die Wirkung, sodass die tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung viel Aufmerksamkeit bekommt; zusätzlich hat sie den „Vorteil“ aus Sicht der Propagandisten, dass durch die starke Emotionalität, die ausgelöst wird, das kritische Denken und die Reflektionsfähigkeit kurzzeitig weitgehend ausgeschaltet wird, sodass diese Informationen nicht kritisch hinterfragt und etwa auf Plausibilität abgeklopft werden.

Solche Nachrichten und Bilder führen auch insgesamt zu einer starken Emotionalisierung des Diskurses, die verhindert, dass kritischen Stimmen zugehört wird, die Vorwürfe in Frage stellen könnten. Es wird dadurch ein analytischer Diskurs darüber verhindert, in dem die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe geklärt werden und bei tatsächlichem Vorliegen dieser Verbrechen effektive und sinnvolle Gegenmaßnahmen getroffen werden könnten.

Wir erinnern uns an die – im Nachhinein nicht nachweisbaren – Vorwürfe, dass an die Soldaten der libyschen Armee unter Muammar al-Gaddafi Viagra ausgeteilt wurde, um sie auf systematische Vergewaltigungen gegen Oppositionelle (siehe oben unter 1. Absichtlich) vorzubereiten, die eine sehr weite Verbreitung in der insbesondere westlichen Weltöffentlichkeit fanden und die eine wichtige Rolle dabei spielten, den Angriffskrieg der USA gegen Libyen im Jahr 2011 moralisch zu rechtfertigen. Oder an die Geschichte über irakische Soldaten, die in Kuwait Babys aus Brutkästen geschleudert und so getötet haben sollen, die ebenfalls einen wichtigen Beitrag dazu leisteten, die Bevölkerung in den USA und in Europa zur Zustimmung zu dem Angriffskrieg auf den Irak zu bewegen und die sich im Nachhinein auch als erfunden herausstellte.

3. Unmittelbar bevorstehend

Unsere Gehirne sind zusätzlich besonders darauf ausgerichtet, auf unmittelbar bevorstehende Bedrohungen zu reagieren. Dan Gilbert nennt unser Gehirn daher auch eine „get out of the way”-Machine („Geh-aus-dem-Weg“-Maschine), die es uns erlaubt, in Millisekunden z.B. einem Baseball auszuweichen. Nur ein kleiner Teil unseres Gehirns ist für die Planung und Vorbereitung auf die Zukunft ausgerichtet, aber ein großer und archaischer Teil ist zuständig für Gefahren, die uns genau jetzt und unmittelbar bedrohen. Was ein Problem z.B. bei Rente, Vorsorgeuntersuchungen oder dem Klimawandel ist, kann auch wieder für die Propaganda genutzt werden, indem jede Gefahr, die man als besonders bedrohlich darstellen will, als unmittelbar bevorstehend geschildert wird.

Als Beispiel kann die auch von Donald Trump stark angesprochene und gerade wieder sehr aktuelle Angst in den USA vor der Überflutung durch Migranten über die Grenze zu Mexiko dienen (wir erinnern uns an seinen Slogan „Build the Wall!“). Das soll nicht heißen, dass es nicht tatsächlich eine Gefahr durch oder einen Kontrollverlust der staatlichen Ordnungskräfte über das Ausmaß der Einwanderung geben könnte, sondern es geht darum, dass die Menschen, die ein Interesse daran haben, besonders viel Angst zu wecken oder Reaktionen hervorzurufen, die Gefahr, die von diesen Migranten ausgehen soll, als unmittelbar bevorstehend schildern. Sie werden daher nicht sagen, die hohe Zahl der Migranten oder Einwanderer kann langfristig ein Problem für das Sozialsystem werden oder den kulturellen Zusammenhalt des Landes gefährden, sondern eine aktuell bedrohliche Situation beschreiben und damit an arachaische Ängste appellieren: „Die Horden stehen vor unseren Mauern und drohen unser Land zu überfluten“. Dasselbe gilt im Rahmen der Kriegspropaganda oder mit der zum Krieg motivierenden Propaganda mit Drohkulissen über den Feind, der kurz vor einem Angriff oder Überfall steht (z.B. „der Russe kommt“).

4. Augenblicklich

Unsere Gehirne reagieren sehr empfindlich auf Veränderung. Dabei ist die Geschwindigkeit der Veränderung entscheidend. Wenn eine Veränderung langsam genug passiert und in kleinen Schritten erfolgt, wird sie von uns kaum wahrgenommen und löst selten Handlungsimpulse aus. Wir akzeptieren im Rahmen einer langsamen oder schleichenden Veränderung in kleinen Schritten Veränderungen, die wir bei einem abrupten Wechsel nie akzeptieren würden.

Dies war in Bezug auf den Klimawandel lange Zeit ein Problem, da die Veränderungen so schrittweise und graduell erfolgten, dass die Menschen sich nach und nach daran gewöhnen konnten (zumindest wir im globalen Norden, wo die Auswirkungen viel weniger deutlich waren und uns weniger hart trafen als im globalen Süden).

Dies ist aber auch eine wichtige neuropsychologische Erkenntnis, die zur Manipulation der Bevölkerung genutzt werden kann. Jede Veränderung, von der bekannt ist, dass sie auf großen Widerstand treffen wird, wird daher entweder im Rahmen einer Shock-and-awe-Taktik kurz nach einem emotionalen und traumatischen Schockereignis (siehe meinen Artikel über den Primacy-Effekt) durchgesetzt, oder aber es wird Schritt für Schritt immer wieder die Grenze des gerade noch gesellschaftlich Akzeptablen ausgereizt, dann abgewartet, bis dieser Schritt als eine „neue Normalität“ akzeptiert wird, um dann den nächsten Schritt zu gehen (Stichwort: Salami-Taktik). Oft werden diese Methoden auch kombiniert, indem unter Ausnutzung eines Schockereignisses der Startschuss für eine große Veränderung gegeben (Stichwort: Zeitenwende) und danach in kleinen Schritten immer weiter vorangegangen wird. Beispiele aktuell sind etwa die Waffenlieferungen an die Ukraine oder der schleichende Machtzuwachs der Europäischen Kommission in Bezug auf die Außenpolitik.

Fazit

Unser Gehirn ist seit Urzeiten unglaublich gut darauf ausgerichtet, uns vor Gefahren zu schützen, die von Angreifern ausgehen, die uns Böses wollen, unseren Zusammenhalt bedrohen und unsere sozialen Regeln verletzen, insbesondere, wenn diese Gefahr unmittelbar bevorsteht und eine massive Veränderung bewirkt. Wenn wir mit solchen Bedrohungen konfrontiert sind, reagieren wir genau so, wie es unsere Vorfahren getan hätten: mit Kampf oder Flucht, mit einer sofortigen Aktivierung all unserer Aufmerksamkeit und Kräfte. Das ist ein Problem bei Bedrohungen, die diese Eigenschaften nicht haben, uns aber genauso gefährlich werden können. Dan Gilbert spricht in seinem Vortrag scherzhaft davon, dass wir auf den Klimawandel ganz anders reagieren würden, wenn er eine Bedrohung durch „böse Männer mit schlimmen Schnurrbärten“ wäre, und zeigt dazu Bilder von Hitler, Stalin und Saddam Hussein.

Es besteht aber auch die Gefahr, dass wir manipulierbar sind, indem diese besondere Aufmerksamkeit unseres Gehirns auf bestimmte Trigger von Kommunikationsstrategen ausgenutzt wird, um uns zu manipulieren und besonders starke Reaktionen hervorzurufen.

Bleiben Sie also wachsam, insbesondere in Zeiten von Krieg und Konflikten oder in Fragen einer Kriegsbeteiligung, wenn diese vier Aspekte besonders stark und wiederholt betont werden, und reagieren Sie nicht sofort emotional, sondern bewahren Sie einen kühlen Kopf und erhalten Sie sich Ihr kritisches Denken, um sich die ganze Situation in Ruhe anzuschauen und besonnen reagieren zu können.

Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Männer mit Schnurrbärten“ auf dem Portal Story4good.

Titelbild: Shutterstock / New Africa

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