Die russische Arktis galt lange Zeit als zentraler Ort für die deutsche Polarforschung. Zahlreiche wissenschaftliche Kooperationen, gemeinsame Forschungsstationen und intensiver Datenaustausch bezeugen dies. All dies wurde auf Initiative der Bundesregierung komplett eingestellt. Die Auswirkungen der Maßnahme für die deutsche Polarforschung sind massiv. Die NachDenkSeiten fragten vor diesem Hintergrund nach. Doch die Bundesregierung scheint vor dem Abbruch weder die entsprechenden Institutionen wie das Alfred-Wegner-Institut oder die Max-Planck-Gesellschaft über die Folgen konsultiert zu haben – noch sich sonst um die nachweislich negativen Auswirkungen für das Wissenschaftsland Deutschland zu kümmern. Von Florian Warweg.
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Am 18. September hatte das Bundeskabinett die aktualisierten „Leitlinien deutscher Arktispolitik“ beschlossen. Auf der Bundespressekonferenz erklärte dazu Vize-Regierungssprecher und ehemaliger SPIEGEL-Chefredakteur Wolfgang Büchner:
„Ein business as usual mit Russland ist auch in der Arktis nicht mehr möglich. Aus diesem Grund hat das Kabinett heute die aktualisierten Leitlinien deutscher Arktispolitik beschlossen.“
Dass der von Deutschland initiierte Wissenschaftsboykott gegen Russland die einst in der Polarforschung führenden wissenschaftlichen Institutionen wie das Alfred-Wegner-Institut (AWI) sowie die Max-Planck-Institute außerordentlich in Mitleidenschaft ziehe, daraus machen die Verantwortlichen keinen Hehl. So erklärte die Direktorin des AWI gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa) unter anderem, dass der Boykott die vom AWI betriebenen Forschungen hart treffe, vor allem bei den Langzeitprojekten: „Wir müssen leider die Beobachtungsreihen (in der russischen Arktis) aussetzen“, obwohl die Klima- und Umweltdaten kritisch seien für die gesamte Menschheit. Und weiter:
„Gerade die sibirische Arktis mit ihren Hitzewellen im Sommer ist die Region, wo wir hinschauen müssen. Dort müssten jetzt eigentlich Geräte ausgetauscht werden. Das ist gestoppt.”
Die Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Sevim Dagdelen (seit 2024 Teil der BSW-Gruppe) initiierten Anfang September 2023 eine Anfrage an die Bundesregierung unter dem Titel „Auswirkungen der Sanktionen gegen die Russische Föderation auf Klimaschutz und wissenschaftliche Zusammenarbeit im arktischen Raum“. Die Antworten sind vielsagend:
Auf die Frage, welche Rolle die Bundesregierung der russischen Arktis im Bereich Klimawandel und Klimaschutz zuspricht, erklärt diese zunächst, „eine große Bedeutung“, um dann gleich im Anschluss auszuführen:
„Für deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler existieren aktuell keine Möglichkeiten einer Feldforschung auf dem Territorium Russlands. Mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich Russland als Partner diskreditiert.“
Das gleiche Anwortschema bei der Frage nach der weiteren Nutzung und Wartung von Messgeräten sowie der gemeinsamen Forschungsstation auf der Insel Samoilow:
„Seit dem Einfrieren der wissenschaftlichen Zusammenarbeit finden keine Wartung der Geräte und kein Abruf von Messdaten durch die MPG (Max-Planck-Gesellschaft) statt.
Gefragt, ob die Bundesregierung die Position von Sönke Zaehle, Direktor am Max-Planck-Institut in Jena, teilt, dass „gerade in einer Phase, in der der Klimawandel langsam sichtbar werde“, „der Kooperationsstopp große Datenlücken, die für das Verständnis des Erdsystems schwerwiegend seien,“ verursache, behauptet die Bundesregierung, ohne dies weiter zu belegen:
„Für die Forschung stehen andere Datenquellen wie beispielsweise Satellitendaten zur Verfügung…“
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 18. September 2024
Vizeregierungssprecher Büchner
Infolge des russischen Angriffskriegs hat sich auch das geopolitische Umfeld für die deutsche und europäische Arktispolitik dauerhaft verändert. Ein business as usual mit Russland ist auch in der Arktis nicht mehr möglich. Aus diesem Grund hat das Kabinett heute die aktualisierten Leitlinien deutscher Arktispolitik beschlossen. Damit werden die Kernziele der deutschen Arktispolitik unterstrichen: die Unterstützung unserer Verbündeten in der Region, die Stärkung der regelbasierten Ordnung, die Intensivierung von Klima-, Natur- und Umweltschutz, der Ausbau der Arktisforschung, die Achtung der Rechte der indigenen Bevölkerung und Wahrung der Interessen der lokalen Bevölkerung sowie eine nachhaltige Entwicklung der Arktis. Da Entwicklungen in der Arktis globale Auswirkungen haben, sind wir daran interessiert, Sicherheit und Stabilität in der Arktis zu wahren. Dafür werden wir uns einsetzen und den Austausch mit unseren NATO-Alliierten in der Region verstärken.
Die Arktis ist zudem ein Frühwarnsystem für die globale Erderwärmung und die Folgen des verschärften Klimawandels, unter dem die Region besonders leidet: Die Arktis erwärmt sich bis zu viermal so schnell wie der Rest der Welt – mit gravierenden Folgen auch für Deutschland und Europa. Für die Bundesregierung ist dies Grund, das deutsche Engagement in dieser Region weiter auszubauen. Unsere Beiträge beim Umwelt- und Klimaschutz sowie der breit aufgestellten deutschen Arktisforschung wollen wir weiter intensivieren, und auch auf europäischer Ebene wollen wir das Thema stärker vorantreiben.
Zudem werden wir uns für die nachhaltige Entwicklung der Region einsetzen, die auch der Lebensraum für rund vier Millionen Menschen ist. Dabei werden wir im Rahmen der Arktisleitlinien die Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen und die Interessen der dort lebenden Menschen besonders berücksichtigen. Nachhaltige und verantwortungsvolle Gestaltung der arktischen Rohstoffgewinnung durch den Einsatz umweltfreundlicher Technologien und unter Anwendung höchster Umweltstandards kann auch zur Rohstoffsicherheit in Deutschland beitragen.
Frage Warweg
Herr Büchner, Sie hatten jetzt mehr oder weniger die komplette Aufkündigung der Arktis- und Polarforschung mit Russland genannt, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Es gibt ja im Weltraum, Stichwort ISS, eine relativ ungestörte weitere Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation. Da würde mich nur interessieren, was aus Sicht der Bundesregierung der Unterschied zwischen einer weiteren Zusammenarbeit in der Weltraumforschung und im Bereich des Transports von Astronauten etc. und dem kompletten Abbruch der Beziehungen, was die Polarforschung angeht, ist.
Welcome home!
The Soyuz MS-25 spacecraft, with NASA astronaut Tracy C. Dyson and cosmonauts Nikolai Chub and Oleg Kononenko aboard, landed in Kazakhstan at 7:59am ET today. More… https://t.co/RYIAX6voqf pic.twitter.com/HCAewHyjik
— International Space Station (@Space_Station) September 23, 2024
Büchner
Selbstverständlich mache ich mir auch in dem Fall Ihre Bewertung dessen, was ich gesagt habe, nicht zu eigen. Ich habe hier gar nichts aufgekündigt, sondern ich habe erklärt, dass es vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs eine neue geopolitische Lage gibt. Ansonsten verweise ich auf das, was ich gesagt habe.
Zusatzfrage Warweg
Zum Beispiel im Alfred-Wegener-Institut in Potsdam war lange Zeit Russisch die Arbeitssprache, wegen der Zentralität der russischen Arktis für die deutsche Polarforschung. Da würde mich nur interessieren: Hat denn vor dieser Entscheidung der Kanzler Rücksprache mit den entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen gehalten, was die Auswirkungen einer solchen Aufkündigung für die deutsche Polarforschung bedeuten?
Büchner
Ich habe hier nichts zu ergänzen.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 18.09.2024