Ostseewasser sind tief – Neue Rechercheergebnisse zu den Nord-Stream-Anschlägen

Ostseewasser sind tief – Neue Rechercheergebnisse zu den Nord-Stream-Anschlägen

Ostseewasser sind tief – Neue Rechercheergebnisse zu den Nord-Stream-Anschlägen

Maike Gosch
Ein Artikel von Maike Gosch

Die Nord-Stream-Pipelines sind aktuell wieder in den Schlagzeilen. Nachdem Gerüchte über eine US-amerikanische Übernahme der Pipelines durch Kauf vor Kurzem für Aufregung sorgten, meldete am 4. März 2025 die BILD-Zeitung, dass derzeit intensiv geprüft werde, welche Hebel Deutschland in der Hand habe, um ein Comeback von Nord Stream 2 zu verhindern. Immer, wenn man denkt, die Absurdität könne sich nicht weiter steigern, dreht irgendjemand das Rad noch ein wenig weiter. Aber das sind wohl die Zeiten, in denen wir leben. Es gibt jedoch auch noch andere Neuigkeiten, nämlich die Veröffentlichungen von Rechercheergebnissen über den Anschlag auf die Pipelines, die ein neues Licht auf die Vorgehensweise und die möglichen Täter werfen können. Erwartbar kommen diese nicht von den offiziellen Ermittlungsstellen, sondern von einem unabhängigen Journalisten aus Frankreich. Von Maike Gosch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Jeder Krimi-Leser weiß, dass es einer der wichtigsten Schritte beim Lösen eines Falles ist, die richtigen Fragen zu stellen. Eine Frage, die mich in Bezug auf die Nord-Stream-Anschläge schon länger beschäftigt hat, ist, warum für die Anschläge in der an vielen Stellen flachen Ostsee ausgerechnet einige der tiefsten Stellen ausgewählt wurden. Warum wurde das sogenannte Bornholm-Becken (Bornholm Basin) als Tatort gewählt, das ca. 80 bis 100 Meter tief ist, und nicht andere Bereiche, die eine Wassertiefe von nur etwa 20 bis 30 Metern haben und den zusätzlichen Vorteil gehabt hätten, dass dort die beiden Doppelstränge von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 sehr nahe beieinander liegen, sodass eine Sprengung beider Pipelines bzw. aller vier Stränge vermutlich leichter durchzuführen wäre?

Diese Frage und eine mögliche Antwort darauf stehen im Zentrum neuer Rechercheergebnisse des französischen Investigativjournalisten Freddie Ponton, die letzte Woche am 26. Februar 2025 in der Online-Zeitung 21Century Wire erschienen sind.

Er untersucht eine mögliche, sehr einfache Antwort auf diese Frage, die sich mit einem Wort zusammenfassen lässt: U-Boote.

Nachdem in den allerersten Stunden nach dem Anschlag noch Gerüchte von einem russischen U-Boot in Tatort-Nähe die Runde machten, hat eine mögliche Tatbegehung mithilfe von U-Booten merkwürdigerweise in den Theorien und Spekulationen seitdem eine sehr untergeordnete bis nicht vorhandene Rolle gespielt. Auch bei Seymour Hersh kommt diese Möglichkeit nicht vor – und das, obwohl z.B. der sehr erfahrene Wehrexperte Thorsten Pörschmann bereits in einem Interview vom 10. Oktober 2022, also kurz nach den Anschlägen, erklärte, dass er eine Tatbegehung mithilfe von U-Booten, die zur Grundminenlegung ausgerüstet seien, für die wahrscheinlichste halte. Hier seine Ausführungen dazu im Wortlaut (ca. ab Minute 14:37):

Ja, das Plausibelste für mich ist – (…) Es gibt Sprengladungen, die für diese Tiefen extra konstruiert werden und die sich mit U-Booten verlegen lassen. Das ist das Spannende. Und die passen vom Gewicht her auch zu der Explosionskraft, die gemessen wurde. Das Ganze nennt sich Grundmine. Die sind zylindrisch und können mitgeführt werden in der [sic] Torpedorohren von U-Booten. (…) Ein Torpedorohr bei einem U-Boot ist nicht nur dazu da, Torpedos zu verschießen. Da kann ich auch Kampfschwimmer drin transportieren und rauslassen, aber ich kann auch diese Torpedorohre als Minenlegeeinrichtung benutzen, indem ich mich irgendwo hinschleiche und dort Grundminen verlege. Jede Mine soll ja eigentlich nur explodieren, wenn man darüber fährt oder wenn sie ausgelöst wird, aber jede Mine ist auch ein probates Sprengmittel, d.h. man kann es auch als Sprengmittel benutzen. Das wird bei Panzerminen häufig gemacht, d.h. wenn ich nichts anderes hab, nehme ich eine Panzermine als Sprengmittel. Das würde bei einer Grundmine auch gehen.“

Aber zurück zu den neuen Erkenntnissen von Freddie Ponton für 21CenturyWire: Er weist zunächst auf einen wichtigen Punkt hin, nämlich dass diese tiefen Stellen im Bornholm-Becken sich hervorragend für den Einsatz von U-Booten eignen würden, sowohl, was deren Manövrierfähigkeit als auch die Möglichkeit, unentdeckt zu handeln, angeht.

Ein weiterer Punkt, den Ponton herausarbeitet, ist die Tatsache, dass es sich bei den Bereichen, in denen die Anschläge stattfanden, teilweise sogar um speziell ausgezeichnete Übungsorte für NATO-U-Boot-Manöver („NATO submarine exercise areas“) handelt, die als solche auf nautischen Karten ausgezeichnet sind (wie aus Dokumenten der Danish Energy Agency, die im Oktober 2019 die Genehmigung für die Nord-Stream-2-Pipeline vergeben hat, hervorgeht, die er in seinem Artikel zeigt). Eine weitere wichtige Information ist, dass die U-Boot-Einsätze in der Ostsee von der deutschen U-Boot-Einsatzbehörde der Marine (Submarine Operating Authority, oder SubOpAuth) in Zusammenarbeit mit der NATO und den baltischen Staaten verwaltet und koordiniert werden.

Wir haben also Tatorte, die teilweise mitten in für U-Boot-Manöver ausgezeichneten Gebieten liegen und deren U-Boot-Aktivitäten von einer Unterabteilung der deutschen Marine koordiniert werden. Ponton macht sich als Nächstes daran, mehr über die U-Boot-Aktivitäten der NATO im Zeitraum um den Anschlag Ende September 2022 herum zu untersuchen.

In seinem Bericht vom Februar 2023 hatte der amerikanische Journalist Seymour Hersh behauptet, dass Taucher der US-Marine an der Sabotage von Nord Stream beteiligt waren und die NATO-Seeübung BALTOPS 22 – eines der größten maritimen Manöver der NATO, das zwischen dem 5. und dem 22. Juni 2022 in der Ostsee stattfand – dafür genutzt hatten, Sprengstoff an verschiedenen Orten an der Pipeline zu platzieren. Anders als Freddy Ponton ging Seymour Hersh aber nicht von einer Tatbegehung mithilfe von U-Booten aus, sondern davon, dass Tiefseetaucher die Sprengsätze an den Pipelines angebracht hätten.

Auch Ponton beschäftigt sich mit Baltops 22, aber mit Fokus auf die U-Boot-Aktivitäten. Wie er berichtet, ist es naturgemäß schwer, genauere Informationen über die Planung, die Inhalte und die Kommandostrukturen der Militärübung zu bekommen. Aber ein Glücksfall hilft ihm weiter: Dänische Journalisten des Senders TV2 filmten einen Bericht über Tätigkeiten der dänischen Marine, und im Bild war ein Bildschirm, auf dem eine Organisationsstruktur der Baltops-22-Übung sichtbar war. Darauf ließ sich erkennen, dass Baltops 22 von einem US-Amerikaner geleitet wurde, aber ein deutscher Militär die U-Boot-Übungen im Rahmen des Manövers leitete.

Es gab aber um den Zeitpunkt der Anschläge herum neben BALTOPS 22, die vielen durch Seymour Hershs Artikel bekannt ist, noch weitere Übungen in der Ostsee. Besonders interessant für die Aufklärung ist die von Deutschland geleitete Marineübung „Northern Coasts 2022“ (Nördliche Küsten), die am 29. August 2022 begann und am Mittwoch, dem 28. September 2022, zwei Tage nach den Nord-Stream-Explosionen endete und die mithilfe des Alliierten Seekommandos der NATO (MARCOM) und anderen NATO-Partnern geplant und durchgeführt wurde. Hierzu führt Freddie Ponton in seinem langen und detaillierten Artikel aus:

Die Tatsache, dass sich die Nord-Stream-Explosionen unter der Aufsicht der deutschen Marine und des MARCOM während der von Deutschland geführten Operation „Northern Coasts 2022“ ereigneten, gibt Anlass zu großer Sorge. Es ist nicht nur undenkbar, dass Deutschland nichts von den Luft-, Oberflächen- und Unterwasseraktivitäten wusste, die zu dieser Zeit in der Ostsee stattfanden, sondern es ist noch schwerer zu glauben, wenn nicht sogar unvorstellbar, dass MARCOM im Dunkeln gelassen wurde.“

Der Artikel von Ponton argumentiert also, dass es unwahrscheinlich ist, dass jemand außerhalb der NATO in diesem Zeitraum Anschläge von so großem Ausmaß in dem „NATO-See“, wie die Ostsee auch genannt wird, unbemerkt hat ausüben können, während parallel Manöver stattfanden. Er zeigt auch, wie sehr die Aktivitäten der NATO-Mitgliedstaaten im Bereich der Marine schon miteinander koordiniert vonstatten gehen und inwieweit es sich um eine gemeinsame, eng verflochtene Struktur zwischen den Ländern handelt. Wenn man nicht selbst Fachmann in diesem Bereich ist, lässt sich das schwer beurteilen.

Ergeben sich aus diesen neuesten Untersuchungen und Recherchen schon klare Beweise für die Täterschaft eines bestimmten Staates oder Akteurs? Nein, leider nicht, aber sie liefern interessanten und relevanten Kontext, der bei der Einschätzung der Situation helfen kann und die Wahrscheinlichkeiten deutlich macht, wer die möglichen Täter am ehesten sein könnten. Auf die Frage, wer am ehesten die Mittel zu dem Anschlag hatte, können diese Untersuchungen ebenfalls eine Antwort geben.

Leider warten wir noch immer auf abschließende Ermittlungsergebnisse der deutschen Ermittler, sodass Bürgerjournalismus diese Lücke füllen muss. Der Haftbefehl gegen einen Ukrainer namens Wolodymyr Selenskyj, der angeblich mit weiteren Verdächtigen in Tauchgängen von der Segeljacht „Andromeda“ aus die Sprengladungen an den Pipelines angebracht haben soll, erscheint eher wie ein Ablenkungsmanöver, so wie die ganze Yacht-Geschichte aus Sicht vieler Experten eher unwahrscheinlich ist.

Der Artikel von Freddie Ponton ist nur der erste in einer Reihe. Der zweite Teil wird nach Aussagen des Autors voraussichtlich im Juni 2025 erscheinen. Wir dürfen gespannt sein, was dort noch herauskommen wird. Der Autor erwähnte im Interview mit Patrick Henningsen auf X bereits, dass er dort unter anderem eine Erklärung dafür geben wird, warum es den Abstand von 17 Stunden zwischen den verschiedenen Explosionen gegeben hat, was eines der vielen noch ungeklärten Rätsel ist, die dieser größte Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik uns aufgibt.

Weiter kündigt er an:

Der Gedanke, dass eine verdeckte Operation unter Einsatz einer ExMCM-Einheit [Anm.: ExMCM steht für “Expeditionary Mine Countermeasures”, also expeditionäre Minenabwehr. Diese Bezeichnung wird in militärischen und maritimen Kontexten für besondere Einheiten verwendet, die darauf spezialisiert sind, Minen unter Wasser aufzuspüren, zu entschärfen oder zu beseitigen] mit Unterstützung einer Amphibischen Einsatzgruppe und einem oder mehreren U-Booten (oder Mini-U-Booten) während NATO-Marineübungen durchgeführt wurde, mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinen. Unsere Untersuchung der Nord-Stream-Sabotage liefert nun jedoch überzeugende Beweise für die Existenz von Minenkriegsführung auf dem Meeresboden und Unterwasser-Sprengungsaktionen. Diese Aktivitäten wurden im Rahmen von Seeübungen durchgeführt, die von NATO-Mitgliedsstaaten geleitet wurden, und entsprechen damit genau den Grundsätzen der irregulären maritimen Kriegsführung.

Es ist allgemein bekannt, dass die US-Marine verdeckte, nicht angekündigte und nicht geplante Operationen im Rahmen von NATO-Übungen zur Minenabwehr (MCM) und zur Kampfmittelbeseitigung (EOD) auf See in Europa durchführt. Diese Behauptung wird durch öffentlich zugängliche Informationen gestützt und durch inoffizielle Gespräche unseres Untersuchungsteams mit ehemaligen und aktiven NATO-Offizieren und EOD-Befehlshabern weiter untermauert.“

Es lohnt sich, Freddie Pontons extrem detaillierten und ausführlichen Artikel zu lesen – er enthält sehr viel Informationen über Entwicklungen im militärischen Bereich, die leider selten kritisch von den Medien beleuchtet werden, wie die extrem enge Verzahnung des deutschen Militärs mit NATO-Strukturen.

Es fällt mir allerdings sehr schwer, mir vorzustellen, dass deutsche Marinesoldaten an der Nord-Stream-Sprengung beteiligt oder auch nur eingeweiht worden waren, aber warten wir die weiteren Entwicklungen ab. Es bleibt auf jeden Fall spannend unter der Oberfläche.

Titelbild: Shutterstock / Strame Stock Footage

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