Die „Bundespräsidenten-Partei“ im BILD-Interview

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„Köhler ist ein abgeschnittener Präsident… Er ist die Hinterlassenschaft einer nicht zustande gekommenen schwarz-gelben Koalition ist.“ Diese Sätze von Heribert Prantl las ich am 4. Juli in der Süddeutschen Zeitung. Köhler bestätigt am Tag darauf mit seinem zweiseitigen Interview in der BILD-Zeitung dieses Urteil. Uns ist das schon etwas länger aufgefallen und deshalb haben wir auf den NachDenkSeiten unsere Serie die „Bundespräsidenten-Partei“ aufgelegt.

Wie Heribert Prantl in der SZ haben wir mehrfach analysiert, dass sich Bundespräsident Köhler als der von der schwarz-gelben Mehrheit der Bundesversammlung übrig gebliebene Protagonist der vom Wählervotum zurückgewiesenen neoliberalen „Reformen“ verhält und es nicht lassen kann, sich ständig in dieser Parteilichkeit in die Tagespolitik einzumischen. Er ist sich nicht zu schade, dafür auch die Tribüne der BILD-Zeitung zu nutzen.

Schauen wir uns das große BILD-Interview etwas genauer an und blicken hinter die dort benutzten Tarnwörter: Selbst die Fußball-WM-Euphorie will Köhler als Zeichen für die Bereitschaft zu politischen „Veränderungen“ – wohlgemerkt Veränderungen, wie er diese versteht – umdeuten:

Es ist auch das Gefühl, wir können Erfolg haben, etwas bewegen, etwas voranbringen.
„Die Bürger wissen, dass die Zeiten Veränderungen verlangen – und Anstrengungen.

Die Begeisterung um die WM sieht er als neuen „Patriotismus“ und als Ausdruck einer Stimmung „Neues zu wagen“:

Wir können viel erreichen, wenn wir Mut haben, Neues zu wagen. Daran sollten wir uns auch nach der WM erinnern.

Köhler bleibt bei seinen apokalyptischen Zustandsbeschreibungen über das Land wie in seiner Begründung für die vorzeitige Auflösung des Bundestages:

Dieses Land hat schwerwiegende Probleme – reden wir nicht darum herum.“ „Deutschland stand damals und steht noch heute vor großen Herausforderungen: Für mich ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit die wichtigste politische Aufgabe unserer Gesellschaft, und ich bleibe dabei: Wir brauchen eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit. Was gut ist für neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze, muss getan werden. Was ihnen schadet, muss unterlassen werden. Unser Arbeitsmarkt muss vor allem auch denen wieder Chancen geben, denen nur einfache Arbeit gelingt. Was sie leisten, verdient Respekt, und ohne ihre Leistungen kommt Deutschland nicht in Fahrt.

Was sich als Plattitüde anhört, kann man zwanglos durchaus auch so übersetzen: Vorfahrt für Arbeit – und zwar um und zu jedem Preis. Und wenn der „Arbeitsmarkt“ auch den Niedrigqualifizierten wieder eine Chance geben soll, so eben nicht über einen Mindestlohn sondern über Billiglöhne – wie sonst? Aber den „Respekt“ des Bundespräsidenten verdienen die einfachen Arbeiter immerhin. Dieser Respekt macht sie aber leider nicht satt, genauso wenig wie die Beteiligung der Arbeitnehmer „am Ertrag oder am Produktivvermögen der Unternehmen“. Köhler fordert, ganz in der Sprache der neoliberalen Reformer, so genannte „Strukturreformen“:

Steuererhöhungen werden meines Erachtens nur dann helfen, wenn sie mit Strukturreformen zur Beseitigung der Ursachen unserer Probleme einhergehen.

Unter dem Reformsprech „Strukturreformen“ versteht man, ohne Köhler überzuinterpretieren: Flexibilisierung des Arbeitsmarkts (Lockerung des Kündigungsschutzes und der Flächentarifverträge, Deregulierung etc.). „Den Umbau das Sozialsystems“, den Rückzug des Staates durch eine Austeritätspolitk („wir haben vor allem ein Ausgabeproblem“) oder die Senkung von Steuern und der Lohnnebenkosten („beides zusammen ist in Deutschland eher zu hoch“) oder die Stärkung der „Eigenverantwortung“ (sprich Privatisierung) – alles die bekannten Schlagworte aus diesem Reformkatalog – erwähnt Köhler ausdrücklich.

„Ich finde: Reform ist, wenn man hinterher spürbar etwas Besseres für die Menschen erreicht“, meint der Bundespräsident. Diese Meinung teile ich ausdrücklich, Köhler hätte aber vielleicht andeuten können, wo mit den bisherigen „Strukturreformen“, also Unternehmenssteuersenkungen, Rentenreformen, Gesundheitsreformen, Arbeitsmarktreformen, spürbar etwas Besseres für die Menschen erreicht worden ist – zumindest für die Mehrheit der Menschen, für die Lohnabhängigen, für die Rentner, die Kranken oder für die Arbeitslosen und eben nicht nur für die Besserverdienenden.

Wo Köhler Recht hat, hat er Recht: Die Lage ist zwar nach seiner Meinung so ernst, dass wir „uns keine Verzögerung erlauben“ können, aber immerhin gesteht er inzwischen zu: „es gilt gleichzeitig der Grundsatz: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Gesetze, die mit heißer Nadel gestrickt sind, schaffen mehr Probleme, als sie lösen.“
Soviel hat er wenigstens aus dem Schröderschen Reform-Desaster gelernt.

Obwohl inzwischen kaum noch jemand behauptet, dass die Hartz-Gesetze ein Erfolg seien, verteidigt Köhler die Agenda 2010:

Ich halte die Reformagenda 2010 und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aber nach wie vor für grundsätzlich richtig. Denn damit wird vor allem die versteckte Arbeitslosigkeit sichtbar. Das wird sich langfristig auch positiv auf dem Arbeitsmarkt auswirken.

Aha, also nicht kurz- oder mittelfristig, sondern „langfristig“. Die Langfristigkeit der Wirkung von neoliberalen Reformen ist das Argument mit der schon immer alle Kritik an ihrer Wirkungslosigkeit abgeblockt wurde. „In the long-run, we are all dead!“ hat zu dieser Art von Wirtschaftspolitik schon vor siebzig Jahren Keynes in seiner „General Theory“ über die liberale Ökonomie gelästert.

Wie – so darf man wohl auch den auch den Bundespräsidenten fragen – soll die Gleichsetzung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe außer vielleicht durch den Arbeitszwang aus schierer Not sich positiv auf dem Arbeitsmarkt auswirken?

Zu Hartz IV fällt Köhler auch nicht viel anderes ein als die üblich gewordenen Schmarotzeranspielungen:

Es kann nicht der Sinn von Hartz IV sein, jungen Leuten auf Kosten der Steuerzahler eine sturmfreie Bude zu finanzieren.

Kein Wort des Bundespräsidenten zu den Sorgen, Ängsten und Nöten der Alg II-Empfänger. Während die Kanzlerin die beschlossene neue Gesundheitsreform als „Durchbruch“ feiert und jubiliert, dass “noch nie eine Regierung den Weg für so tief greifende strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen frei gemacht“ habe, kündigt der schwarz-gelbe Oppositionspolitiker Köhler jetzt schon an, „dies sei ein Zwischenschritt für eine große Strukturreform. Diese Reform brauchen wir in der Tat dringend, denn unser Gesundheitssystem ist krank.“ So ähnlich hatte sich auch Westerwelle eingelassen.
Dass Köhler selbst zu dieser „Krankheit“ des Gesundheitssystems als früherer Staatssekretär im Finanzministerium durch die Belastung der Gesundheitskassen durch die falsche Finanzierung der deutschen Einheit beigetragen hat, verschweigt Köhler geflissentlich. Schuld sind immer die anderen: Die Leute gehen „zu nachlässig“ mit ihrer Gesundheit um, sie verhalten sich nicht kostenbewusst („Wir erfahren zu wenig, wieviel Arztbesuche eigentlich kosten.“) und natürlich darf der mangelnde „Wettbewerb“ für einen Marktradikalen wie Köhler nicht fehlen.

Zum Thema Lobbyismus reitet Köhler mal wieder auf dem ziemlich abgestandenen „gestandenen Gewerkschaftsführer, der zugleich Bundestagsabgeordneter ist“ als Entlastungszeugen herum. Herr Bundespräsident, glauben Sie ernsthaft, dass der Gewerkschafter im Parlament ein treffendes Beispiel für die massive Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaftslobby und für die Aushebelung des Parlamentarismus ist?

Es gibt einen Satz des Bundespräsidenten, den ich nachdrücklich unterstreiche:

Die Bürger haben ein sehr feines Gespür dafür, ob sie an der Nase herumgeführt werden. Sie lassen sich nicht für dumm verkaufen.

Das trifft allerdings auch auf das zu, was der Bundespräsident im „großen“ BILD-Interview sagte.

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