Chile wird am 14. Dezember einen neuen Präsidenten wählen, und die Entscheidung fällt zwischen zwei im ersten Wahlgang ungefähr gleich starken Kandidaturen: der Kommunistin Jeannette Jara sowie dem deutschstämmigen Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, José Antonio Kast, der für einen ultrakonservativen politischen Ansatz steht. Eine Analyse von Matías Caciabue und Paula Gimenez[*].
Um den bevorstehenden Wahlkampf analysieren zu können, müssen wir zunächst einige Ereignisse der jüngeren Vergangenheit erwähnen. Der von Studierenden in der U-Bahn von Santiago ausgelöste Massenaufstand brachte Arbeiter, Feministinnen, indigene Völker und verschuldete Mittelschicht zu einer beispiellosen Volksbewegung zusammen. Das „Abkommen für den sozialen Frieden und eine neue Verfassung” verlagerte diese Kraft jedoch von der Straße auf die institutionelle Ebene und verwandelte den Aufstand in einen kontrollierten Prozess.
Der anschließende Verfassungsgebungsprozess wurde trotz der anfänglichen Begeisterung und des Sieges der Befürworter im Jahr 2020 schließlich eingestellt. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde im Referendum von 2022 abgelehnt, und der von der Rechten dominierte Verfassungsrat gab die Initiative an den konservativen Block zurück. Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich der transformative Elan in Frustration und offenbarte die Grenzen eines Übergangs, der weiterhin durch die Verfassung von 1980 blockiert wird. Doch der Aufbruch von 2019 hinterließ einen bleibenden Eindruck: die Gewissheit, dass eine von der Mehrheit getragene soziale Organisation von unten die neoliberale Hegemonie herausfordern und einen neuen Horizont der Gerechtigkeit und Würde eröffnen kann.
Das Vermächtnis von Boric
Die Regierung von Gabriel Boric geht mit einem zwiespältigen Vermächtnis in diese Wahl. Sie hat in gewisser Weise Fortschritte in arbeitsrechtlichen und sozialen Fragen erzielt, wie die Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden (von 45 auf 44 Wochenstunden im April 2024, dann auf 42 Stunden im April 2026 und schließlich auf 40 Stunden im April 2028) oder die Einführung der Null-Kostenbeteiligung der Patienten im Gesundheitswesen. Die von der Diktatur geerbte Wirtschaftsarchitektur blieb jedoch unverändert.
Der jüngste Präsident und zugleich der Präsident mit den meisten Stimmen in der Geschichte Chiles verwaltete nur das Modell, das er zu verändern versprochen hatte. In diesem Widerspruch bot sich für den konservativen Block die Gelegenheit, sich unter dem Diskurs der „Sicherheit” neu zu formieren und die Debatte über Ungleichheit, Wohnraum oder Renten zu verdrängen. Somit dreht sich die chilenische Politik erneut um die Stabilität des Marktes und nicht um die dringenden Bedürfnisse der Bevölkerung.
Die Mapuche-Frage ist nach wie vor eine offene Wunde, die keine Regierung lösen wollte oder konnte. In den Regionen Biobío, Araucanía und Los Ríos beklagen indigene Gemeinschaften, dass der Staat weiterhin nach einer Logik der Kontrolle und Kriminalisierung handelt. Die jüngste „indigene Konsultation”, die von der Regierung vorangetrieben wurde, wurde von weiten Teilen des Mapuchevolkes abgelehnt, da sie diese als ein Verfahren im Dienste der herrschenden Macht betrachteten. Die Forderung nach Autonomie, Rückgabe von Land und Respekt vor der Weltanschauung der Mapuche darf nicht länger als Problem der öffentlichen Sicherheit behandelt werden. Die Selbstbestimmung der indigenen Bevölkerung ist Teil der noch offenen Debatte darüber, welche Art von Staat Chile braucht: einen plurinationalen Staat oder einen Staat, der die Ausgrenzung aufrechterhält.
Die ungesühnte staatliche Repression, die im kollektiven Gedächtnis Chiles fortbesteht, darf nicht außer Acht gelassen werden. Zwischen Oktober und Dezember 2019 gingen die Sicherheitskräfte systematisch gewaltsam gegen die mobilisierte Bevölkerung vor: Dutzende Menschen wurden dabei getötet, mehr als 400 erlitten durch Schrotkugeln Augenverletzungen und Tausende wurden willkürlich festgenommen.
Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch dokumentierten Fälle von Folter, sexuellem Missbrauch und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung. Die juristische Aufarbeitung kam jedoch nur langsam voran, und die meisten Verantwortlichen blieben straffrei. Diese Straflosigkeit, verbunden mit dem Fehlen einer umfassenden Wiedergutmachung für die Opfer, wurde zu einem Symbol für das Scheitern des Übergangs des politischen Systems nach der Militärdiktatur und der Bereitschaft des chilenischen Staates, seine eigene institutionelle Gewalt anzuerkennen und sich ihr zu stellen.
Ein weiterer strategischer Schwerpunkt dieser Wahl ist Lithium. Im Herzen der Atacama-Wüste verfügt Chile über eine der weltweit größten Reserven des „weißen Goldes”, einer Schlüsselressource für die globale Energiewende und Elektromobilität, die klare Merkmale dieser neuen Phase des Kapitalismus sind. Die weltweite Nachfrage nach Lithium ist exponentiell gestiegen. Im Jahr 2021 lag der weltweite Verbrauch bei rund 95.000 Tonnen. Bis 2024 hatte diese Zahl laut Angaben der Internationalen Energieagentur jedoch bereits 205.000 Tonnen erreicht.
Prognosen zufolge wird der Verbrauch bis 2040 auf über 900.000 Tonnen steigen, was vor allem auf die Expansion des Marktes für Batterien in Elektrofahrzeugen zurückzuführen ist. Chile, mit geschätzten Reserven von 9,3 Millionen Tonnen, festigte 2024 seine Position als zweitgrößter Lithiumproduzent der Welt mit einer Jahresproduktion von 44.000 Tonnen. Die Regierung Boric kündigte einen nationalen Plan mit staatlicher Beteiligung an, ohne dabei die Rahmenbedingungen des freien Handels oder die Verträge, die die Interessen der transnationalen Unternehmen schützen, zu verletzen.
Zwar ist das staatliche chilenische Bergbauunternehmen Codelco für den Großteil der Produktion verantwortlich, doch Unternehmen wie SQM und Albemarle[1] kontrollieren weiterhin die Produktion und die Wertschöpfungskette, während neue Konzerne unter dem Vorwand der grünen Entwicklung auf einen Markteintritt drängen. Der Streit um Lithium ist somit kein technischer, sondern ein politischer. Die Frage, wer den Reichtum des Untergrunds kontrolliert, ist gleichbedeutend mit der Entscheidung, ob Chile seine Ressourcen weiterhin mit geringer Souveränität exportiert oder ob es sich in Richtung einer Industrialisierung mit einer Umverteilung des Reichtums, sozialer Gerechtigkeit und Respekt vor der Umwelt bewegt.
Umkämpfter November
Die Kandidatin für das chilenische Präsidentenamt, Jeannette Jara, verkörpert die Chance, den durch den sozialen Volksaufstand geöffneten Pfad wieder aufzunehmen. In ihrem Programm „Un Chile que Cumple” (Ein Chile, das hält, was es verspricht) schlägt sie vor, die Arbeitsrechte und Löhne zu stärken, Fortschritte in Richtung einer universellen Gesundheitsversorgung und Bildung zu erzielen, angemessene Renten und Wohnraum zu garantieren, Innovation, saubere Energien und KMU zu fördern, die Umwelt zu schützen, den Staat zu dezentralisieren und Transparenz zu fördern. Dazu gehören auch präventive Maßnahmen zur Sicherheit der Bürger, Polizeireformen mit Schwerpunkt auf Menschenrechten sowie eine feministische Perspektive, die auf Gleichberechtigung und die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen abzielt.
In einem Land, in dem die Eliten die Kontrolle über Medien und Wirtschaft behalten, durchbricht ihre Kandidatur die symbolische Einkreisung, die die Kommunistische Partei über Jahrzehnte stigmatisiert hat. Durch ihre Herkunft aus der unteren Mittelschicht und ihre Laufbahn in der öffentlichen Verwaltung spricht sie eine Mehrheit an, die zwischen Verschuldung und Prekariat lebt. Die größte Herausforderung für Jara wird jedoch darin bestehen, die Narrative und die Agenda zu hinterfragen und ein soziales Projekt in konkrete Hoffnung für diejenigen Bevölkerungsgruppen zu verwandeln, die heute Angst und Unsicherheit empfinden.
José Antonio Kast hingegen setzt auf die Wiederherstellung der neoliberalen Ordnung mit autoritärem Gesicht. Der 59-Jährige kandidiert zum dritten Mal für das Präsidentenamt, nachdem er 2021 die Stichwahl erreicht hatte, in der er gegen Gabriel Boric verlor. Er war vier Amtsperioden lang Abgeordneter und ist Gründer der Republikanischen Partei. Er ist als Anwalt tätig und bekennender Katholik.
Sein Vorschlag umfasst die Militarisierung der Grenzen, Steuersenkungen für Großunternehmen und eine Verschärfung der Strafpolitik. Er wiederholt die Formel der „harten Hand” und des „Minimalstaates”, die in Lateinamerika zu Unterdrückung und Konzentration des Reichtums geführt hat. Kast versucht, aus der Enttäuschung über Boric Kapital zu schlagen, aber seine Agenda ist um ein halbes Jahrhundert rückständig: Er kriminalisiert Proteste, leugnet den Klimawandel und fördert Ausgrenzung. Es ist kein Zufall, dass Wirtschaft und Medien ihn als Garant für „Stabilität” darstellen, in einem Land, in dem Stabilität gleichbedeutend mit der Aufrechterhaltung von Ungleichheit ist.
Um zu gewinnen, muss ein Kandidat mehr als 50 Prozent der gültigen Stimmen erhalten. Wird diese Hürde nicht erreicht, findet einen Monat später, am 14. Dezember, eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen statt. Die Prognosen des chilenischen Centro de Estudios Públicos (Institut für öffentliche Politikforschung, CEP) für die Wahlen 2025 bestätigen ein Szenario mit hohem Wettbewerb und Polarisierung. Jeannette Jara führt die Wahlabsichten für die erste Runde mit 25 Prozent an[2], gefolgt von José Antonio Kast mit 23 Prozent und Evelyn Matthei mit zwölf Prozent. In einer möglichen Stichwahl verschiebt sich der Vorteil jedoch nach rechts: Jara würde sowohl gegen Kast mit 41 Prozent zu 33 Prozent als auch gegen Matthei mit 37 Prozent zu 33 Prozent verlieren.
Der regionale Kontext unterstreicht die strategische Bedeutung dieser Wahlen. Während radikalisierte rechte Regierungen mit Hassreden und Deregulierung voranschreiten wie Javier Milei in Argentinien oder Donald Trump in den Vereinigten Staaten, entscheidet Chile, ob es sich dieser Welle anschließt oder zum solidarischen Horizont zurückkehrt, der Salvador Allende inspirierte und die 2019 wieder auflebte. Die Reaktion gegen volksnahe Führungspersönlichkeiten war heftig. Die Lawfare gegen Daniel Jadue, den Bürgermeister der Gemeinde Recoleta, zeigt, dass die Eliten das Justizsystem als weiteren Hebel nutzen, um diejenigen zu disziplinieren, die ihre Privilegien infrage stellen.
Das Land, das einst ein Versuchslabor für den Neoliberalismus war, ist heute auch ein Versuchslabor für dessen Krise. Die Straßen, auf denen „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre”[3] skandiert wurde, erinnern weiterhin daran, dass tiefgreifende Veränderungen nicht vom Kongress aus verordnet werden, sondern von unten, mit Organisation und Bewusstsein, aufgebaut werden. Chile wird entscheiden, ob die jüngste Geschichte zu einem Ende oder zu einem Neuanfang wird. Zwischen Jara und Kast wird nicht nur ein Präsident gewählt, sondern auch die Art von Gesellschaft, die die lange neoliberale Nacht überstehen wird.
Übersetzung: Hans Weber, Amerika21.
Titelbild: PX Media / Shutterstock
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[«*] Über die Autoren:
Paula Giménez ist Psychologin und hat einen Master-Abschluss in Sicherheit und Verteidigung der Nation sowie in Internationaler Sicherheit und Strategischen Studien. Sie ist Direktorin des lateinamerikanischen Portals NODAL.
Matías Caciabue ist Politikwissenschaftler. Beide sind Forscher am Lateinamerikanischen Zentrum für Strategische Analyse (CLAE).
[«1] Die Sociedad Química y Minera de Chile (SQM) ist ein chilenischer Chemiekonzern und gehört zu den wichtigsten Produzenten von Lithiumsalzen. Die Albemarle Corporation ist ein US-amerikanischer Konzern und zählt zu den weltweit führenden Herstellern von Lithium und Lithiumverbindungen (Anmerkung des Übersetzers).
[«2] Das war der Stand der Umfragen am Ende Oktober, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Originalversion dieses Artikels auf Spanisch (A. d. Ü.).
[«3] „Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre“ war der Kampfruf des sozialen Aufstands im Jahr 2019. Er bedeutete, dass die Rebellion nicht nur gegen das unmittelbare Problem der Erhöhung des Fahrpreises der U-Bahn um 30 Pesos gerichtet war, sondern gegen die Entwicklungen seit Beginn der zivilen Regierungen 30 Jahre zuvor (A. d. Ü.).





