Meditation im Blick auf das Neue Jahr

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Die NachDenkSeiten haben – glücklicherweise – verschieden denkende und fühlende Leserinnen und Leser – auch solche mit sehr verschiedenem geistigen und religiösen Hintergrund. Jetzt hat uns ein Leser einen Text geschickt, den wir im Blick auf das neue Jahr veröffentlichen. Vorweg seine Mail an uns:

Liebe NachDenkSeiten, vielleicht, oder eher wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht, aber vor einem Jahr haben Sie mit Versen aus einem traditionellen Geburtstagslied den Leserinnen und Lesern ein gutes neues Jahr gewünscht. Ich habe damals mit Augenzwinkern angeboten, dass im Bedarfsfall ich das für dieses Jahr übernehmen könnte. Sie schrieben damals, dass ich das schon mal vormerken solle.

Ich habe überlegt, wie solch ein Text zum Jahresende mit Ausblick auf das neue Jahr aussehen könnte, und bin zu dem Entschluss gekommen, dass alle diejenigen, die nach Kräften versuchen, die Welt ein wenig besser zu machen, vor allem eine starke innere Kraft benötigen, um unbeirrbar den entsprechenden eigenen Weg zu gehen.

Für mich als (pensionierter) Pfarrer ist das der Glaube an eine göttliche Kraft, die auch den Mann aus Nazareth geleitet und befähigt hat, seinen Weg zu gehen. Es ist der Weg des Friedens, der auch mit dem „Feind“ eine zweite Meile geht, der sich denen zu wendet, die am Rand der Gesellschaft stehen und der die dafür notwendigen Auseinandersetzungen nicht scheut.

Entsprechend habe ich keine allgemeinen Wünsche für das neue Jahr anzubieten, von denen man Dutzende im Internet lesen kann. Ich habe eine Meditation zu einem der mir liebsten Verse des alten Testaments gewählt, den neunten Vers aus Psalm 31. Ich bin mir nicht sicher, ob es für die NachDenkSeiten passt – das müssen Sie entscheiden, aber es ist nunmal meine Überzeugung und mein Glaube, aus der ich lebe, und andernfalls würde ich mich verbiegen.

Joachim Dierks

Meditation zu Psalm 31,9

Du stellst meine Füße auf weiten Raum…

Nicht ich stelle
sondern du stellst
Gott
liebender Vater
treuer Begleiter
geduldig und gütig

Du stellst mich
nicht irgendjemanden
Namenlosen
sondern mich
dir lieb und teuer
einzigartig
unverwechselbar

Du rufst mich bei meinem Namen.
mich
als Gewordener
als der ich bin, wie ich bin
als der ich sein werde, wie ich sein werde
ein bisschen krumm
ein bisschen schief
vielleicht
kantig oder glatt
dick oder dickköpfig
leicht oder leichtgläubig
sensibel oder dickhäutig
egal
liebenswert
der Liebe wert auf jeden Fall
auf ewig

Du stellst mich,
wirfst mich nicht
auch nicht raus
schubst mich nicht vor dir her

Du stellst mich hin
heute
morgen
wie im neuen Jahr
mich
der ich immer wieder nicht aus und ein weiß
du stellst mich hin
und sagst: Lauf!

Auch wenn ich falle,
wenn ich mich in die Ecke verkrieche
hinhocke
weil ich müde bin
zweifele an mir
an meiner Zukunft
meinen Begabungen
meinen Möglichkeiten
auch wenn ich verzweifelt bin
weil die anderen es mal wieder zu packen scheinen
das große Los ziehen
schneller sind
erfolgreicher
mächtiger
schöner
schlauer
gewitzter,
hipp und auf dem Laufenden
oder einfach nur angepasster
gerissener
schamloser
skrupelloser

in dem Meer von unendlichen Angeboten und Verlockungen,
Möglichkeiten und Chancen
und damit auch unendlichen Möglichkeiten, zu versagen,
zu verpassen,
daneben zu liegen,
nicht zu genügen,
bist du es Gott
der mich auf die Füße stellt und sagt:
lauf, du bist nicht allein
ich bin da
ich bin bei dir

Du stellst mich
auf die Füße
gerade hin
ich muss nicht buckeln
nicht auf die Knie fallen
muss mich nicht schämen
nicht heucheln
nichts recht machen
nicht ewig dankbar sein
mich nicht ständig entschuldigen
und auch nicht demütig um Gnade bitten
Du ziehst mir auch nicht den Boden unter den Füßen weg
ich kann gehen
losgehen
aufrecht

Ja
laufen muss ich schon selbst
dort, wo du mich hinstellst
in die Welt
die ist, wie sie ist
du planierst sie nicht ein
machst die Hügel nicht gerade
füllst nicht die Täler auf
räumst mir nichts aus dem Weg
Der Raum, in den du mich stellst,
ist weit
keine enge Muffbude
keine Absteige
kein enges Loch
kein Abgrund
sondern Licht
Luft und Weite

Weiter Raum
ist leerer Raum
keine vorgespurten Loipen
kein Navigationssystem
kein Netz
kein doppelter Boden

Leerer Raum ist offen für Wagnisse
und deshalb Irrtümer
Irrwege
Sackgassen
wir können scheitern
verpassen
verlieren
versagen
uns ängstigen
den Mut verlieren
und fallen
weil es aber dein Raum ist, Gott,
so fallen wir doch nie tiefer
als in deine bergenden Arme.

Es ist dein Raum, Gott,
wenn wir auf dich vertrauen,
kann wahr werden
was wir hoffen
ja nicht einmal zu hoffen wagen
was wir noch nie im Blickfeld hatten
wenn wir auf dich vertrauen
muss das,
was schon immer so war,
nicht so bleiben wie es war.

Es ist doch dein Raum, Gott.
wo große Weite
nicht ängstigt
verwirrt
lähmt
sondern Perspektiven aufzeigt
Möglichkeiten eröffnet
gestern
heute
und im Neuen Jahr
es sind Wege,
die aus der Unendlichkeit deiner Liebe
in die Freiheit führen.
Hört mal, was noch im 31. Psalm steht:

vertrauen – nicht zuschanden werden lassen – erretten – zuneigen – helfen – sein – leiten – führen – herausziehen – anbefehlen – erlösen – sich freuen – fröhlich sein – ansehen – annehmen – nicht übergeben – stellen – hoffen – sprechen – stehen – leuchten.

Mehr braucht es nicht im neuen Jahr.

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