Wie die Europäische Kommission die Verfahren zur Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte umsetzen wird – Gefahr ist im Verzug

Ein Artikel von Heiner Flassbeck

Heiner Flassbeck weist auf flassbeck-economics.de darauf hin, dass die Kommission bei der Überprüfung der einzelnen Länder im Rahmen des Verfahrens zur Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte schwerwiegende Fehler macht und sich die Welt zurechtbiegt, wie es ihr passt. Das ist in der Öffentlichkeit bisher weitgehend unentdeckt geblieben. Wir bringen hier den vollständigen Text, der auf flassbeck-economics im Abonnement erschienen ist. Albrecht Müller.

Wie die Europäische Kommission die Macroeconomic Imbalance Procedure (Verfahren zur Beseitigung makroökonomische Ungleichgewichte) umsetzen wird – Gefahr ist im Verzug

Von Heiner Flassbeck

In einem Artikel vom 15.11.2013 hatte ich darauf hingewiesen, dass die europäische Kommission mit ihrem Beschluss, auch gegen Deutschland ein Verfahren im Rahmen der Macroeconomic Imbalance Procedure (MIP) durchzuführen, einen wichtigen Schritt in Richtung einer Korrektur der Ungleichgewichte getan haben könnte, nachdem sie zunächst mit der Sonderbehandlung Deutschlands (Überschussländer werden erst bei 6 Prozent Überschuss verschärft geprüft, während Defizitländer schon bei vier Prozent mit Sanktionen zu rechnen haben) einen schwerwiegenden Fehler begangen hat.

Wenn man sich allerdings näher anschaut, auf welche Weise die Kommission die Länder in ihren Berichten behandelt, muss man wieder erhebliche Zweifel bekommen, dass das Verfahren zu vernünftigen Ergebnissen führt. Zwar sieht das Grundsatzpapier, das gerade in einer neuen Version vorgelegt wurde [PDF – 1.2 MB], vor, dass bei der Prüfung der externen Ungleichgewichte die Lohnstückkosten eine entscheidende Rolle spielen. Schaut man sich aber an, wie die Daten interpretiert werden, muss man leider feststellen, dass die Auswahl der richtigen Indikatoren nicht ausreicht, eine vernünftige Analyse durchzuführen. Ich greife hier das Beispiel Frankreichs heraus, und das Ergebnis kann man nur schockierend nennen.

Im April dieses Jahres schon hat die Kommission in einem ersten Papier Frankreichs [PDF – 867 KB] Wirtschaft analysiert und hatte schwerwiegende Probleme festgestellt. Ein zunehmendes außenwirtschaftliches Ungleichgewicht und mangelnde Profitabilität der Unternehmen sind die wichtigsten Schwachpunkte von Deutschlands wichtigstem Handelspartner.

Die Kommission nutzt natürlich im Prinzip die gleichen Zahlen wie wir (aus der AMECO Datenbank) und kommt daher – wie man in dem screenshot aus dem Kommissionsbericht sieht – folglich zu Schaubildern, die unseren sehr ähnlich sehen. Äußerst interessant ist es allerdings, zu sehen, wie die Kommission diese beiden Graphiken interpretiert.

“Der Verlust von Marktanteilen im letzten Jahrzehnt ist zusammengefallen mit der Verschlechterung der Wettbewerbsposition gemessen auf der Basis der Veränderung der Lohnstückkosten. Seit dem Jahr 2000 sind die Lohnstückkosten in Frankreich stärker gestiegen als in der Eurozone und insbesondere stärker als in Deutschland (siehe Bild 2.8a) – jedoch nicht so stark wie in Italien und Spanien, die ebenfalls Marktanteile verloren haben … Während der Anstieg der nominalen Lohnstückkosten die Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert hat, … war das Wachstumstempo bei den Reallöhnen höher als der Produktivitätszuwachs und hat die Profitabilität der Unternehmen beeinträchtigt”.

“The losses in market share over the last decade have coincided with a deterioration of the cost competitiveness position, as measured through the evolution of unit labour cost (ULC) indicator. Since 2000, nominal ULC increased in France at a faster pace compared to that in the euro area and Germany in particular (see Graph 2.8a) but still not as rapidly as in Italy and Spain, which have also experienced losses in market shares (-18.4% from 2006 to 2011 in Italy and -7.6% in Spain). While the rise in nominal ULC deteriorated cost competitiveness, the previous IDR noted that the upward trend in real wages outpaced productivity to the detriment of firms’ profitability. This development is confirmed by the preliminary data for 2012 included in this year’s vintage (see Graph 2.8b).”

Abgesehen davon, dass der letzte Tatbestand (Löhne steigen stärker als Produktivität) nach den letzten Zahlen, die wir verwendet haben (Stundenlöhne bei uns im Vergleich zu Löhnen pro Kopf bei der Kommission), nicht in einer gleich großen Dimension zu stimmen scheint wie bei den  von der Kommission verwendeten Daten, zeigt genau die Auswahl und die Kommentierung dieser Daten, wes Geistes Kinder in der Kommission, genauer in der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen sitzen.

Wer das linke der beiden Bilder schlicht kommentiert nach dem Motto, wer am niedrigsten liegt, liegt am besten, hat ein Weltbild, mit dem sich eine Währungsunion einfach nicht zum Erfolg führen lässt. Wer einen Wettbewerb nach unten bei den Lohnstückkosten veranstalten will, darf gerade keine Währungsunion wollen. Eine Währungsunion kann von vorneherein nur sinnvoll sein, wenn sich ihre Mitglieder auf ein gemeinsames Inflationsziel einigen. Das waren die 1,9 Prozent, die die Europäische Zentralbank zu Anfang der Union festgelegt hat. Es könnte auch ein anderes quantitatives Inflationsziel sein, aber niemals kann bei einem einheitlichen Ziel die Regel bei den Lohnstückkosten lauten, der Niedrigste ist der Beste. Da die Lohnstückkosten die wichtigste Determinante der Preissteigerungsrate sind, empfiehlt die Kommission einen Wettbewerb nach unten, der nur zu Deflation führen kann. Für die Hüterin der Europäischen Verträge ist das ein fatales Versagen.

In ähnlicher Weise katastrophal ist die Kommentierung des zweiten Bildes. Hier schreibt die Kommission:

“Die reale Entlohnung der Beschäftigten ist stärker gestiegen als die Produktivität, besonders im Jahr 2009, was zu einem starken Anstieg der nominalen Lohnstückkosten geführt hat. Während eine ähnliche Entwicklung für viele Mitgliedsländer zu beobachten ist, steht sie doch im Widerspruch zur Entwicklung in Deutschland, wo die Reallöhne zwischen 2000 und 2007 stagnierten oder fielen, was zu einem Druck auf die Lohnstückkosten führte. Während das über fallende Einnahmen den Lebensstandard der Arbeiter beeinträchtigte und zu der zögerlichen Entwicklung der Binnennachfrage beitrug, erlaubten die fallenden Arbeitskosten den deutschen Unternehmen ihre Gewinnmargen zu erhöhen oder die Preise zu senken, um Marktanteile zu gewinnen. Seit 2010 sind allerdings die Reallöhne in Deutschland stärker gestiegen und haben die Lücke zur Produktivität verkleinert.”

“The real compensation of employees has risen quicker than productivity, particularly in 2009, leading to a rapid increase in nominal ULC (see Graph 2.8a-b). While this situation is common to many EU Member states, it is in stark contrast with that of Germany, where real wages stagnated or deflated between 2000 and 2007, resulting in a downward pressure on ULC (see Graph 3.1b). While it affected the revenues of workers, impacting on living standards and contributing to sluggish domestic consumption, the decreasing labour costs made it possible for German companies to simultaneously improve their margins and reduce their prices in order to gain market shares. Since 2010, real wages in Germany have rebounded strongly, closing part of the gap with productivity.”

Im Weltbild der Kommission ist es offenbar auf jeden Fall richtig, dass die Reallöhne hinter der Produktivität zurückbleiben, obwohl auch sie sieht, dass die Reallohndämpfung Nachfrageschwäche im Inland nach sich zieht.

Das aber ist unsinnige Logik, wenn man sich nur vor Augen hält, dass die Kommission mit der Europäischen Währungsunion über eine sehr große und sehr weitgehende geschlossene Volkswirtschaft urteilt. Für die Welt als Ganzes wäre der obige Satz offensichtlich unsinnig, weil es keine Marktanteile zu gewinnen gibt. Dann bliebe der negative Nachfrageeffekt der Lohnsenkung selbst in der Kommissionslogik.

Die geringe Reallohnsteigerung in Deutschland hat die Binnennachfrage nachhaltig geschwächt und somit die Investitionen insgesamt nicht beflügelt. Das deutsche Modell übertragen auf die EWU oder die ganze Welt ist eine wirtschaftliche Katastrophe, weil dem Produktivitätswachstum dann kein Nachfragewachstum entspricht, das dauernd zunehmende Arbeitslosigkeit verhindern könnte.

Zudem scheut die Kommission auch vor glatten Fälschungen nicht zurück, um die eigene Position zu retten. Die Kommission schreibt:

“Der deutsche Fall in den 2000er Jahren zeigt, wie eine Wiederherstellung der Gewinnmargen auch zu einer Belebung der Investitionen beigetragen hat und beleuchtet die Verbindung von Gewinnmargen, Investitionen und Innovation. Die Verringerung der Produktionskosten durch die Arbeitskosten als auch der Kosten für Vorleistungen und die teilweise Auslagerung von Produktion haben über die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit merklich und dauerhaft die Erwartungen der Unternehmen gestärkt und das hat sich in einer Belebung der Investitionen (im Inland und im Ausland) niedergeschlagen, die wiederum die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt hat.”

“The German case in the 2000s illustrates how restoration of profit margins may also have contributed to fostering investment and the possible link between profit margins and investment and innovation. The reduction of production costs through labour costs, as well as intermediate service costs and partial off-shore practices, have significantly and durably restored profit margins from 2000 and may have strengthened entrepreneurs expectations due to improved competitiveness, that has translated into the recovery in investment (domestic and foreign) from 2005 that has led to their spectacular increasing performances in competitiveness.”

Das stimmt aber einfach nicht und das Bild, das die Kommission benutzt, ist eine plumpe Manipulation der Leser, weil man unterschiedliche Skalen auf der vertikalen Achse benutzt und damit den Eindruck erweckt, die Investitionstätigkeit in Deutschland sei besser gewesen als in Frankreich. Das ist falsch, wie wir hier vor Kurzem gezeigt haben (Artikel über Italien vom 31.10.2013, Preview-Version / Abo-Version). Weil in Frankreich durchgängig die Binnennachfrage wesentlich besser lief als in Deutschland, wurde in Frankreich auch vor 2008 viel mehr investiert.

Insgesamt ist der Bericht der Kommission über Frankreich ein schlimmes Dokument, das von neoklassischen Vorurteilen geleitet wird und in dem man sich die Welt zurechtbiegt, wie man sie sich vorstellen möchte. Läuft das gesamte Verfahren so ab, ist es vollkommen sinnlos und wird keine Korrektur der Ungleichgewichte ermöglichen.

P.S.:
Außerdem sind bei flassbeck-economics in den letzten vier Wochen im Abonnement u. a. erschienen:

  • Vor der neuen (großen) Koalition – Wie man auf einfache Art beweisen kann, dass die Agenda-Politik in Deutschland gescheitert ist und ihre Fortsetzung Europa in den Abgrund führt (in zwei Teilen)
  • Drei Artikel zur wirtschaftlichen Lage der USA
  • Ein Artikel über die falsche Einschätzung der Situation in Frankreich durch die OECD
  • Zwei Artikel über die Leistungsbilanzen in Südeuropa und die Tatsache, dass sie kein Ende der Eurokrise signalisieren
  • Eine Artikelserie in drei Teilen über Italien und warum das Land im Vergleich der großen Industrieländer so schlecht abschneidet.

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